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BERICHT/002: Schachdorf Ströbeck - Schachwandlungen (SB)


Schachdorf Ströbeck - Schachwandlungen

Der Traum vom Lebendschach - in Ströbeck verwirklicht



Nichts erscheint dem Menschen heute selbstverständlicher, als Erlebtes in Worten wiederzugeben und so die eigenen Erfahrungen anderen zugänglich zu machen. Ohne dieses besondere Merkmal des Homo sapiens wäre die menschliche Geschichte um vieles ärmer verlaufen, aber das gesprochene Wort ist beileibe nicht die einzige Kommunikations- und Kulturform in der Verlaufsgeschichte menschlicher Interaktionen. Die Schrift, aus der Malerei entstammend, ist wesentlich jüngeren Ursprungs. Ungleich älter und im Schauspiel bis auf den heutigen Tag noch fragmentarisch erhalten ist das menschliche Vorstellungsvermögen, Handlungen reflexiv dar- bzw. nachzustellen oder Überlieferungen mit symbolhafter Bedeutung unmittelbaren Ausdruck zu verleihen, wovon das Theater von den Zeiten der attischen Republik über das Shakespearsche Drama bis zu den modernen Performancekünstlern heute noch Zeugnis ablegt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, daß auch Schach hin und wieder mit lebenden Figuren gespielt wurde. Das Lebendschach oder die lebende Partie wird gern mit der höfischen Kultur assoziiert und im selben Atemzug als dekadenter Ausdruck herrschaftlicher Willkür verurteilt. Wenngleich es außer Frage steht, daß der Akt, Menschen zum Ergötzen einer gelangweilten wie gleichermaßen selbstgefälligen Hofgesellschaft zu mißbrauchen, so morbide und verabscheuungswürdig wie jede voyeuristische Herabwürdigung des Menschen ist, greift der allgemeine Vorwurf zu kurz.

Weiße Armee in Reih und Glied - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lebendschach im folkloristischen Kleid
Foto: © 2013 by Schattenblick

Grausam nehmen sich auch die Erzählungen über die Ursprünge des Lebendschachs aus. So bezeichnet Siegfried Wiechmann alias Aladin Lampe in seinem 1962 erschienenen Buch "Die Dame und der König: Kulturgeschichte des Schachspiels" das Spiel mit lebenden Figuren als "eine beliebte fürstliche Marotte" und benennt Sultan Mohammed I. als Urheber einer unsäglichen Sitte. Laut einem Bericht des spanischen Feldherrn Gonsalvo da Cordova ließ der Osmanenherrscher zu Beginn des 15. Jahrhunderts jede beim Spiel geschlagene Figur zum Henkersbeil führen, wo dem Bedauernswerten der Kopf vom Hals getrennt wurde. Nicht besser erging es den solcherart Mißbrauchten auf christlichem Boden. Auch der 1484 zum Inquisitor von Aragon berufene Pedroi Arbes soll mit renitenten Glaubensabweichlern, bevor er sie ins Jenseits schickte, ein makabres Spiel getrieben haben; und wen mag es wundern, wenn derlei Greueltaten auch über den Zaren Iwan den Schrecklichen berichtet werden. Nun ist schwerlich auseinanderzuhalten, was an diesen Geschichten authentisch ist und was als politisches Mittel der Propaganda eingesetzt wurde, um einen Rivalen in den kolonialen Machtkämpfen jener Zeiten als Unmenschen zu diskreditieren, zumal verläßliche historische Belege, die die Blutrünstigkeit gewisser in der Geschichte keineswegs rühmlicher Gestalten dokumentieren könnten, fehlen. Nun war es beileibe nicht so, daß das Lebendschach im Mittelalter und im Übergang zur Renaissance ausschließlich als blutiges Schauspiel verschrien war. Beispielsweise beschreibt François Rabelais 1535 in seinem Roman "Gargantua und Pantagruel" ein Schachballett, bei dem eine goldene und eine silberne Fraktion auf weiß und gold gewürfeltem Samt zum Takt einer bezaubernden Musik eine Partie austragen, die fern von jeder Art Häme und Konkurrenz blieb. Selbst dem König Schach zu bieten wurde in Form eines höflichen Grußes vollzogen und beim Matt beugten alle Figuren respektvoll das Knie vor der besiegten Majestät.

Blick von oben auf den Ströbecker Marktplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ströbeck lädt zum Volksfest ein
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das älteste Schrifttum zum Lebendschach stammt aus dem Jahr 1467. Francesco Colonna schildert in dieser mystischen Erzählung einen Traum, in dem eine Partie mit lebendigen Figuren unter den Klängen einer sphärischen Musik auf einem großen Schachbrett ausgetragen wird. Dieses Textdokument wurde 1499 unter dem Titel Hypnerotomachia Poliphili - Traumliebeskampf des Poliphilus - veröffentlicht und später vom Italienischen ins Französische und Englische übersetzt. Colonnas Text mutet rätselhaft und phantastisch an, aber er übte dennoch oder vielleicht gerade deswegen eine große Wirkung auf die Bildenden Künste und die Literatur der Renaissance aus und dürfte die Idee zum lebenden Schachschauspiel in einem entscheidenden Maße geprägt haben. Dieser Traum des Poliphili wurde dann an französischen und italienischen Höfen in die Wirklichkeit geholt und strahlte später auf die bürgerliche Gesellschaft aus. Zu Zeiten der Renaissance mag auch der Übergang des Lebendschachs von den Marmorfußböden der Paläste auf die Grünflächen öffentlicher Festplätze stattgefunden haben. Historisch erlebte Europa eine Epoche, in der das aufstrebende Stadtbürgertum sich mehr und mehr vom feudalen Joch der Fürstenhäuser und des Kleinadels befreite und sich so möglicherweise zur Sinnstiftung seines an Einfluß gegenüber dem Adel gewinnenden Standes volksfestartige Bräuche zugelegt hatte, die seiner neuen Bedeutung in der Ständeordnung angemessener war.

Die unverzichtbare Schachuhr - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mitglieder des Ströbecker Schachvereins
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Identifikation des Menschen mit den Figuren des Schachspiels, die eine zentrale Rolle im Lebendschach zu spielen scheint, war unterdessen von langer Hand vorbereitet worden. Nachweislich hatten moralisierende Priester und Mönche durch die allegorische Ausdeutung des Schachspiels die Feudalstrukturen, die ihre klerikalen Pfründe absicherten, zu legitimieren versucht - das Schachbrett als Sinnbild für Gottes Ordnung auf Erden. Das Spiel bot sich als Folie für neue Legalismen der Herrschaft in vielfacher Hinsicht an, nicht nur weil es alle Gesellschaftsschichten zu durchdringen in der Lage war, sondern auch, weil es festen Regeln folgte und die einzelnen Figuren auf dem Brett durch ihre Schlagkraft und Gangart eine Art Hierarchie erkennen ließen.

Kinderakteure vor Beginn des Spiels - Foto: © 2013 by Schattenblick

Lebendschach - ein besonderer Spaß für die Kleinen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch wenn man heutzutage nur noch die Bauern kennt, waren die acht Steine auf der 2. bzw. 7. Reihe in früheren Zeiten in einzelne Berufe unterteilt - Schmied (g2), Schreiber und Wollweber (f2), Kaufmann und Wechsler (e2), Arzt und Apotheker (d2), Wirt (c2), Statthalter (b2) und schließlich die Zunft der Spieler, Verschwender und Landstreicher, denen die ehrenvollen Briefboten zugesellt wurden. Der Bauernstand (h2) war nur einer unter ihnen; aber hinter all diesen zivilgesellschaftlichen Interessengruppen standen der Klerus und der Adel sowie die Generalität. Als sich die Zeiten infolge der über die notwendige Arbeit geregelten Produktions- und Eigentumsbedingungen änderten, verschwand auch die allegorische Sicht auf die Gesellschaft, weil im Getriebe frühkapitalistischer Entwicklung andere Interpretationsmuster und Ideologien nötig waren, um die immer weiter auseinanderklaffenden Widersprüche der sozialen Raub- und Gewaltstrukturen zu verstehen oder plausibel zu machen. So setzte sich eine Ratio durch, die die Eigenverantwortung stärker betonte und auf den freien Willen und das Glück in den eigenen Händen abhob.

Spielfiguren warten auf Eröffnung der Partie - Foto: © 2013 by Schattenblick

Blick ins gegnerische Lager
Foto: © 2013 by Schattenblick

Dem Aufbruch frühliberalen Freiheitsdranges stand der fromme, gebändigte Geist, der die Jahrhunderte der kirchlichen Institution geprägt hatte, nur im Wege. Nicht so sehr der Schachspieler an sich, eher das Schachspiel als der ideologische Mutterboden für Tugenden wie Verstand, Entscheidungsfreudigkeit, aber auch Risikobereitschaft, die im kaufmännischen Geschäftssinn feste Wurzeln schlagen, sorgte für die hohe Wertschätzung, die man schon damals dem Königlichen Spiel entgegenbrachte. Ein Indiz für die weite Verbreitung des Schachspiels in den urbanen Zentren waren beispielsweise die städtischen Wappen mit Schachsymbolen oder einem Schachbrett. Als gesichert gilt indes, daß sich ins Lebendschach jene kulturellen Ausdrucksformen mischten, die in der jeweiligen Zeit populäre Zugkraft besaßen, und dabei Formen des Brauchtums zu Tage gefördert wurden, die in ihrer Gestaltung einzigartig sind wie beispielsweise das Ströbecker Lebendschach.

Positionseinnahme der als Bauern gekleideten Kinder - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Bauern marschieren auf
Foto: © 2013 by Schattenblick

Am 8. Juni 2013 feierte Ströbeck gleich zwei Jubiläen, zum einen die 325jährige Tradition des Lebendschachs und zum anderen das 30jährige Bestehen des dortigen Lebendschachensembles. Ein reichhaltiges Programm bot den zahlreichen Gästen aus dem Umland und angereisten Schachfreunden tiefere Einblicke in die Geschichte des Schachdorfs. Dabei trat das Ensemble in jenen Kostümen auf, die nach gründlichen Recherchen einer Kulturwissenschaftlerin über die Tracht, die man um 1850 in Ströbeck und Umgebung trug, detailgetreu bis ins kleinste Utensil angefertigt und anläßlich der Rolle Ströbecks als Gastgeber des Kulturdorfprojekts 2006 gewissermaßen uraufgeführt wurden. Alles ist liebevolles Detail, die Bauern in groben Leinenkitteln und Kniebundhosen, handgestrickten Kniestrümpfen, schwarzen Schuhen und Kappen mit der traditionellen Verzierung und dem Halstuch; die weißen Springer in der Parade-Uniform der Halberstädter Kürassiere und die schwarzen Springer in den dunkelblauen Dienstuniformen, ganz so wie sie weiland Kanzler Bismarck zur Proklamation Kaiser Wilhelms I. im Spiegelsaal von Versailles getragen haben soll.

Die gegnerischen Springer begeben sich in Position - Foto: © 2013 by Schattenblick

Springer-Offiziere in Gardeuniform
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Türme erscheinen in der Kleidung der Schäfermeister aus Ströbeck, die helle Mäntel, einen schützenden Filzhut und ein Halstuch aus Baumwolle trugen im Gegensatz zu den dunklen Mänteln der einfachen Schäfer. Die Dame geht in der Sonntagstracht der Ströbecker Großbäuerinnen mit einem langen Rock aus Seide oder Wolle, einer bestickten Seidenschürze, einem Mieder aus handgewebtem Damast, seidenem Schultertuch und einer Bänderhaube als Kopfbedeckung, denn die Ströbecker Scholle warf reichlich Zuckerrüben und Weizen ab, wodurch die Bauern zu einem gewissen Wohlstand kamen.

Die schwarze Armee in voller Montur - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die schwarze Armee - mit dem Hirten als Turm
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der König wandelt in der Feiertagstracht der Ströbecker Großbauern mit langem Gehrock aus edlem Tuch, verziert mit vielen Knöpfen, einem weitem Leinenhemd und einer Weste aus edlem Damastgewebe, lederner Kniebundhose, Lederschuhen und obenauf einem Zylinderhut.

Nahaufnahme des weißen Königs samt Kostüm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Weißer Bauernkönig stolziert
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die eigenartigste Figur ist jedoch der Ströbecker Läufer, den ein geübtes Schachauge so gar nicht mit dem Spiel in Verbindung bringen würde. Denn es handelt sich dabei um die Botenfrau, die eine kleingeblümte Baumwollbluse, einen langen, in viele Falten gelegten Leinenrock mit handbestickter Schürze und ein Kopftuch trägt. Botenfrauen hat es früher in Ströbeck gegeben. Sie gingen zu Fuß nach Halberstadt und verkauften für die kleinen Leute Eier, Butter und Speck und andere Sachen in der Stadt, die sie in Korb und Kiepe hineinlegten, und brachten auf dem Rückweg Kleinigkeiten wie Garne, Nadeln und Stoffe für die Dorffrauen mit. Was das alles mit Schach zu tun hat? Nun, die Welt war damals noch nicht digitalisiert, und so hatten die Botenfrauen unter anderem auch die Aufgabe, die Briefe für die Korrespondenzpartie zwischen dem Ströbecker Schachverein und dem Schachclub in Halberstadt zu übermitteln. Die Ströbecker halten es mit ihrer Trachten- und Kulturgeschichte sehr genau und vor allem, wie es schon in der Hymne von Ströbeck von Friedrich Wegener heißt: "Von Halberstadt im Westen, und zwischen Harz und Huy, da liegt das Dörfchen Ströbeck, ja Ströbeck mit seiner Schachpartie."

Botenfrauen treffen sich mitten auf dem Schachbrett - Foto: © 2013 by Schattenblick

Begegnung der Botenfrauen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der große Auftritt des Ensembles begann mit dem Aufmarsch der weißen Bauern samt Arbeitsgerät, dem Dreschflegel; wohl eher Bauernjungen, denn in Ströbeck beteiligten sich seit jeher auch Kinder am Schachereignis. Die Botenfrau mit dem leichten Gang ihrer Schritte, die Herren Kürassiere in Reithosen, langen Stiefeln und Mützen, die Schäfer mit ihrem Hirtenstab, Großbauer und Großbäuerin - alle marschierten nacheinander auf, vollführten kleinere Tänze oder benahmen sich ganz nach ihrem Stand. Dem Betrachter bot sich eine lebendige Aufwallung wachgehaltener Geschichtserinnerung, mitten auf einem Marktplatz, der wie sonst nirgends in der Welt ganz dem Schachspiel gewidmet ist.

Spielfigurenaufmarsch samt Schleich - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wer läuft den beiden Armeen voraus?
Foto: © 2013 by Schattenblick

Man wunderte sich lediglich ein wenig über die 33. Figur, die auf dem Brett hin und her lief, als gäbe es für sie weder Regel noch Sitte, die, sei es nun nach Eulenspiegelart oder als französischer Pierrot, einen Schellenhut auf dem Kopfe trug und auch sonst nicht auf den Mund gefallen war, gar Verse vorzutragen wußte und mit dem Schachspiel auf eine vergessene Weise herzverbunden zu sein schien. Ja, diese Figur, die auf dem modernen Schachbrett nicht mehr vorkommt und womöglich außerhalb von Ströbeck keine Erinnerung mehr wachruft, im Schachdorf ist sie allen als der Schleich aus dem Kurierschachspiel bekannt, über das allerdings die Experten wenig mehr wissen, als daß es früher gespielt wurde und im Artikel "Ströbeck - Home of Chess " des berühmten US-Magazins "National Geographic" von 1931 Erwähnung fand.

Ein Ströbecker Mädchen verkleidet als schwarzweißer Schleich - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Schleich - Grenzgänger der Legenden
Foto: © 2013 by Schattenblick

Nach der Präsentation des Lebendschachensembles wurde die Probe aufs Exempel gemacht: Zwei Freiwillige aus dem Publikum, einer davon ein Schattenblick-Redakteur, bestiegen den Hochsitz und sprachen ihre Züge direkt ins Mikrophon, derweil die Figuren der Order gemäß auf die jeweiligen Positionen rückten. Von oben herab ließen sich auch angesichts der weiten Trachten die Konturen des Brettes kaum nachvollziehen, so daß man aufs mühevollste mit der Orientierung kämpfen und halb mit dem Auge und halb aus dem Gedächtnis heraus die nächsten Züge wählen mußte. Die Uhr hatte ein Nachsehen, denn als die Bedenkzeit, die auf fünf Minuten pro Spieler veranschlagt war, abzulaufen drohte, schlug die Leitung des Ströbecker Schachvereins, die am Brettrand auf das ordnungsgemäße Befolgen der Züge achtete, ein Remis vor, was von beiden Spielern mit tiefem Dank und großer Erleichterung sogleich angenommen wurde. Es heißt, daß ein sowjetischer Großmeister, der in Ströbeck ebenfalls das Vergnügen Lebendschach zu spielen hatte, bei jedem Zug, den er ausführte, den Kopf nach hinten wendete und mit verschlossenen Augen die Stellung imaginierte, weil ihn die bunte Vielfalt der Trachten so sehr aus dem Konzept brachte.

Die Figuren verteilen sich auf dem Schachbrett - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die ersten Eröffungszüge sind getan
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch die ganz Kleinen fehlten im Ensemble nicht und absolvierten nach der Lebendpartie verschiedene Tänze mit Schachbrettern, übergroßen Figuren und schwarzen und weißen Flaggen, die über den Köpfen und um die Körperachsen gedreht ein wirbelndes Schachbrett in die Luft warfen.

Brett-Tanz der Kinder - Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch die Kleinen kommen zum Zug
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Ode "An das Schachdorf" aus der Feder von Jürgen Westphal, die von jungen Ensemblemitgliedern vorgetragen wurde, sorgte für besinnliche Augenblicke. Zwei Strophen sollen hier zitiert werden, weil daraus die ganze Leidenschaft der Ströbecker für die Schachkunst spricht:

Klein erscheinst du nur dem Fremden,
der nach Metern dich durchmisst,
der nicht sieht, welch ungeheurer
Schatz in dir verborgen ist.

Deine Liebe gilt dem Schachspiel,
seit der alten Ritter Zeit.
Und so prägt der Geist des Spieles
deiner Menschen Eigenheit.

Abgerundet wurden die Darbietungen des Ströbecker Ensembles mit Auszügen aus dem eigens für das Kulturdorftreffen 2006 einstudierten Schachmusical "Ströpker Zeitsprünge", bei dem es, wie so oft in der Welt, um die Liebe im Wirrwarr der Zeiten geht. Adrett gekleidete junge Frauen, mal in klassisch fernöstlichen Gewändern und dann wieder in modernem Outfit, gaben der Sehnsucht nach dem Glück einen tänzerischen Rahmen.

Tempeltanz auf dem Schachplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Fernöstliches in Ströbeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das kulturelle Repertoire war damit noch längst nicht ausgeschöpft. Unter dem Beifall des Publikums und das Auge erfreuend verabschiedete sich die hoch engagierte Truppe mit verschiedenen Tanzeinlagen, ohne unter der Glut der Sonne, die an diesem Samstagnachmittag voll auf dem Schachplatz lag, das Lächeln zu verlieren. Von der Moderation bis zur Organisation der aufeinanderfolgenden Programmpunkte stimmte alles, was einmal mehr beweist, daß semiprofessionelle Kunst ihr größtes Talent aus der Leidenschaft für die Sache bezieht.

Volkstanzaufführung auf dem Marktplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Freude am Tanz
Foto: © 2013 by Schattenblick

Bis in den frühen Abend hinein feierte Ströbeck sein Jubiläum mit Modenschauen, Workshops und kleineren und größeren Kunststücken. Einen besonderen Platz nahm dabei die Ballettgruppe aus Bystré ein, der tschechischen Partnerstadt Ströbecks aus dem Kulturdorfprogramm, die ihre Interpretation der Schachpartie mit ausgefallener Dramatik, Kostümwitz und choreographischem Einfallsreichtum präsentierte und dabei klassische Motive der langen Schachgeschichte ebenso in ihre Performance einwob wie sie Elemente aus modernem Tanz und der Kampfkunst gekonnt und kunstvoll in Szene setzte. Alle Phasen der Partie, von der Eröffnung bis zum Matt, der Darstellung der einzelnen Figuren in Posen und Tanzdynamik und der Kämpfe auf dem Brett durch das wechselnde Spiel von Grazilität und drohender Gebärde, verschmolzen so ineinander, daß das Empfinden eines sich zuspitzenden Ringens keinen Moment lang abriß.

Ballettänzer simulieren Ekstase - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ästhetisierter Kampf
Foto: © 2013 by Schattenblick

Mögen die Ritter der Schachturniere auch die Nase rümpfen, Ströbeck sei doch bloß Folkore, so kann der Einwand, auf sich selbst zurückgeworfen, vor dem Auge der Tatsachen nicht bestehen. Wie sich in der langen Schachgeschichte immer wieder gezeigt hat, ist die hinter allem stehende Idee widerständiger als die Rituale, Reformen und Raffinessen, denen sich das Schachspiel unterzogen hat, um die Zeiten zu überdauern.

Der weiße Läufer in Kampfpose - Foto: © 2013 by Schattenblick

Läufer kontra Springer
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Frage, ob der Beginn der Lebendschachtradition im Harzvorland tatsächlich auf das Jahr 1688 datiert, als der Braunschweiger Herzog Ludwig-Rudolf, nachdem er eine derartige Darbietung an einem Fürstenhof gesehen hatte, die wegen ihrer Schachkundigkeit gerühmten Ströbecker bat, ein solches Schauspiel in seinem Schloß in Blankenburg vorzuführen, mag den Historikern überlassen sein. Traditionen sprechen ihre eigene Sprache. In Ströbeck wurde das Lebendschach nicht erfunden wie auch die Personifizierung der Schachfiguren mit Menschen einer älteren Quelle, dem mittelalterlichen europäischen Schachspiel, entspringt; einer Zeit, in der der allegorische Bezug zur gesellschaftlichen Realität, insbesondere durch die verbreitete Schrift des lombardischen Dominikanermönchs Jacobus de Cessolis, tief verankert war und in erster Linie die ständische Feudalordnung widerspiegelte.

Die schwarze Königin führt ihre Armee an - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mystisches Empfinden
Foto: © 2013 by Schattenblick

Aber was einst im Kopf des grübelnden Phantasten Francesco Colonna begann und durch die Literatur in alle Welt getragen wurde, hat in Ströbeck eine Tradition ins Leben gerufen, die sich nie damit begnügte, sinnstiftendes Moment eines bestimmten Standes oder einer elitären Gruppierung zu sein. Das Ströbecker Lebendschach hat, was auf der Bühne aristokratischer Verirrungen ohnehin nichts verloren hatte, wieder zu den Menschen zurückgebracht.

Ballettänzer mit nach hinten gestreckten Beinen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Synchronisation im Angriff
Foto: © 2013 by Schattenblick

5. Juli 2013