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ES GESCHAH.../008: Der Anekdotenkammer achte Tür (SB)


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Die achte Tür zur Anekdotenkammer knarrt leise und entbietet dem neugierigen Leser eine kleine Flüstergeschichte aus der Schachwelt, die ihm möglicherweise eine Träne ins Auge schießen läßt, handelt sie doch von einem Unglück, wie es manchem Zeitgenossen widerfuhr, wenn er beispielsweise auf dem Weg in den Keller just jenen Eimer übersah, den er tags zuvor selbst auf der Treppenstufe hatte stehen lassen, um sodann jäh darüber zu stolpern und kopfüber hinunterpurzelnd bis auf dem Grund der Kellertreppe mit einem gebrochenen Bein und dem Anflug eines grimmigen Lächelns auf den Lippen sein Schicksal zu beklagen. Nun, die gekürzte Rede macht ja bekanntlich den meisten Sinn: Ein Malheur trifft einen immer unerwartet, es kommt nur darauf an, so sagten schon die alten Philosophen, wie man damit umgeht.

Der Kalender schrieb das Jahr 1937. Über dem lettischen Städtchen Kemeri stieg die Sonne über perlende Morgennebel auf. 18 Schachmeister krochen aus ihren warmen Betten und hinein in den kühlen Morgen. Manchem ging eine vage geträumte Kombination durch den Kopf, andere kratzten sich verlegen an der Nase, einige setzten sich lächelnd, fast vergnüglich an den Frühstückstisch. Unter ihnen war auch der heimische Meister Wladimir Petrow, der sich im Trio mit dem Russen Salo Flohr und dem amerikanischen Großmeister Samuel Reshevsky den Turniersieg sichern sollte. Für Petrow war es übrigens das einzige Turnier in dieser Stärke, das er jemals gewann.

Ebenso einzigartig in seinem Schaffen und unvergeßlich bis in die heutige Zeit hinein blieb uns der älteste Teilnehmer dieser Versammlung in Erinnerung. Sein Name, untrennbar verquickt mit dem Klassiker der theoretischen Eröffnungsliteratur, dem "Lehrbuch des Schachspiels", lautete: Jacques Mieses. Über 60 Jahre nahm der deutsche Großmeister aus Leipzig, verehrt wegen seines lebensbejahenden Ernstes, darin auch ein Quentchen trockenen Humors mitschwang, an den großen Turnieren und Kongressen der Schachhistorie teil, siegte glänzend und verlor denkwürdig gegen die namhaftesten Großmeister seiner Zeit.

Dieser charmante Haudegen, dem krümeliges Spiel immer irgendwie zu fromm war, wählte zeit seines Lebens mit beharrlicher Manier risikofreudige Eröffnungen und fühlte sich erst pudelwohl, wenn die Berechnung des nächstfolgenden Zuges sich in ein Labyrinth unüberschaubarer Möglichkeiten verlor.

Mieses hatte bereits 72 Jahre auf seinem Rücken geladen, als er in Kemeri ankam und sich, nicht um einen Deut besonnener als zu Jugendtagen, gleichermaßen auf die Unwägbarkeiten des Lebens wie auch des Schachspiels stürzte. Dieser Leichtsinn kam ihm in so mancher Partie teuer zu stehen, und auch das Leben verübelte ihm gelegentlich solches Hasardieren. Von solch einer Begebenheit soll nun die Rede sein.

Anläßlich eines spielfreien Tages trieb es Mieses mit einigen Schachfreunden in die Stadt. Sie hatten bereits etliche Stunden die Sehenswürdigkeiten genossen und dachten nun daran, in ihre Pensionen zu den wartenden Schachbrettern zurückzukehren, als plötzlich eine Straßenbahn an ihnen vorbeiratterte.

Kaum machte die Bahn an einer Wartestation halt, da lief die Schar auch schon los, Mieses, der sich nicht einen Augenblick lumpen ließ, rüstig bis in die Kniekehlen hinterher. Die ersten waren bereits eingestiegen, der vorletzte sprang gerade auf, nur Mieses fehlte noch. Und da er sich den vielgerühmten Unverdruß stets zu eigen machte, versuchte er nun - gewagt, getan -, auf die fahrende Straßenbahn aufzuspringen.

Der eine Fuß berührte schon das Trittbrett, der zweite hing noch in der Luft, als ein Ruck durch die Bahn ging, Meister Mieses mächtig durchgeschüttelt und flugs auf den Straßenasphalt zurückgeworfen wurde. Wie es das Unglück will, zu einem Raben gesellt sich gleich eine Krähe, hatte sich Mieses, als er so langgestreckt wie ein Aal auf dem Boden lag, beim Sturz beide Beine gebrochen.

Die Freunde, die bei der nächsten Haltestation ausstiegen und ihm zu Hilfe eilten, umringten den Altmeister, einige besorgt, andere verärgert darüber, daß Meister Mieses ihnen mit seinen Kapriolen einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Warum er sich denn dazu habe hinreißen lassen? fragte ein alter Freund ungehalten. Mieses, durch kein Unglück von seinem eingefleischten Humor abzubringen, antwortete mit doppeldeutigem Witz: "Ich war am Zug!"


Erstveröffentlichung am 12. Juli 1995

02. März 2007


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