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MELDUNG/826: Hou Yifan sorgt für handfesten Streit (SB)


Zufall oder doch manipulativer Eingriff?


Letzte Runde beim renommierten Tradewise Gibraltar Chess Festival: Mit 25minütiger Verspätung erscheint die amtierende Weltmeisterin Hou Yifan zu ihrer Partie gegen den indischen Großmeister Lalith Babu. Was dann passiert, erregt weltweites Echo und heizt eine Debatte an, wie sie die Schachwelt seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Hou Yifan spielt mit den weißen Steinen die Anfangszüge 1.g2-g4 und 2.f2-f3 - in jedem Lehrbuch wird dies als Paradebeispiel für eine mißglückte Eröffnung abgehandelt. Nicht einmal Laien ziehen, selbst betrunken, so auf dem Brett. Nach fünf Zügen steht die Chinesin auf und reicht ihrem völlig verblüfften Kontrahenten die Hand. Hou Yifan gibt die Partie auf. Natürlich hat sie absichtlich so grottenschlecht gespielt, und damit ist der Skandal in der Welt. Dabei hätte sie im Falle eines Sieges gegen Babu mindestens 8000 Pfund einstreichen können, bei einem Remis immerhin noch 2200 Pfund mehr an Preisgeld als durch ihre Niederlage.

Dem Anschein nach war der Vorfall ein inszenierter Protest, mit dem Hou Yifan ihrer Verärgerung darüber Ausdruck gab, daß sie im Turnier in zehn Runden gegen sieben Frauen gespielt hatte. In einem anschließenden Interview bekräftigte sie ihren Verdacht, daß das Auslosungsverfahren manipuliert worden sei. Turnierdirektor Stuart Conquest versicherte hingegen in einer Pressemeldung, daß alle Rundenpaarungen mit dem Computerprogramm "Swiss Manager", das vom Weltschachbund FIDE zugelassen ist,durchgeführt wurden und die hohe Anzahl weiblicher Gegner für Hou Yifan reiner Zufall gewesen sei. Tatsächlich war die Beteiligung von Frauen an dem Wettkampf mit zwanzig Prozent vergleichsweise hoch, auch weil es einen besonderen Preistopf für Schachspielerinnen gab, was viele nach Gibraltar lockte. Statistisch gesehen ist es zwar möglich, daß Hou Yifan in zehn Runden siebenmal gegen Geschlechtsgenossinnen antreten mußte, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist dennoch sehr gering. Man müßte denn die Nadel im Heuhaufen finden. Kurioserweise spielte Großmeister Nikita Vitiugov in den letzten fünf Runden viermal gegen Frauen, im ganzen Turnier kreuzte er mit fünf Spielerinnen die Klingen.

Inzwischen haben drei Internationale FIDE-Schiedsrichter unabhängig voneinander erklärt, daß die Zulosungen bei Hou Yifan völlig regelkonform vonstatten gingen. Bekannt wurde auch, daß der Hauptschiedsrichter des Masters, Laurent Freyd, ein paar Tage vor dem Eklat bereits mit Hou Yifan über ihre Bedenken diskutiert hatte. Offenbar mit schwachen Argumenten. Aber möglicherweise ging es dabei um einen ganz anderen Konflikt, daß Hou Yifan die Bühne in Gibralter lediglich dazu genutzt hatte, das bisher geltende Reglement für die Frauenweltmeisterschaften auf den Tagesordnungspunkt zu setzen. Seit Jahren kämpft die 22jährige für eine Änderung des FIDE-Regelwerks. Daß ein Knockout-System mit 64 Teilnehmerinnen die Weltmeisterin ermittelt, was zur Folge haben kann, daß die Titelträgerin entthront wird, ohne ihren Titel gegen eine eigens qualifizierte Herausforderin verteidigt zu haben, ist in ihren Augen ebenso unlogisch wie unfair.

Fakt ist jedenfalls, daß diese Regelung bei den Männern längst zu den Akten gelegt ist, nachdem über Jahre Weltmeister inthronisiert wurden, die noch nicht einmal zur Top-20 gehörten. Während die FIDE bei den Männern also zu den Qualifikationsturnieren und der klassischen Form der Weltmeisterschaft zurückkehrte, hält sie bei den Frauen weiter unbeirrt am K.o.-System fest. Jeweils zwei Kandidatinnen treffen Runde für Runde aufeinander, tragen zwei Partien, gegebenenfalls noch ein Tiebreak aus. Die Siegerin aus jeder Rundenpaarung kommt weiter, bis nur noch zwei Spielerinnen übrigbleiben, die den Titel unter sich ausmachen. Die neue Weltmeisterin muß dann ihren Titel im nächsten Jahr gegen die Siegerin aus dem Women Grand Prix, einer Serie von Turnieren, die über ein Spieljahr verteilt organisiert werden, verteidigen. Im Jahr darauf entscheidet wieder der K.o.-Modus über die Queen of Chess. Was so kompliziert klingt, ist es letzten Endes auch. Jedenfalls gleicht der Titelkampf eher einer Lotterie denn einem Zweikampf unter den beiden besten Schachspielerinnen der Welt. Unfair gegenüber den Frauen ist ohne Zweifel, daß die Männer nach einer anderen Regelung um den Champion spielen. Ist diese Sonderbehandlung im Frauenschach diskrimierend? Aber sicher, alles andere wäre gelogen!

Um ihren Standpunkt zu bekräftigen hat sich Hou Yifan schon vor einiger Zeit dafür entschieden, abgesehen von Schacholympiaden an keinen Frauenturnieren mehr teilzunehmen. Auch bei der jetzt am Wochenende in Teheran anlaufenden Frauenweltmeisterschaft nach K.o.-Regularien wird sie nicht starten und ihren Protest solange fortsetzen, bis der Weltschachbund den Modus der Frauen-WM ändert. Ob der Manipulationsvorwurf der richtige Weg dazu war, um auf die Misere im Frauenschach aufmerksam zu machen, ist zu hinterfragen. Tatsächlich ist Hou Yifan mit ihrer Forderung nach einer Neuregelung von der FIDE Jahr um Jahr vertröstet worden. Man werde darüber nachdenken, die Optionen abwägen usw. Die Hinhaltetaktik ist so neu nicht und hat durchaus Methode.

Nun ist der alte Grundkonflikt von neuem entbrannt. Ist der Weltmeister bzw. die Weltmeisterin ein austauschbares Requisit im Bühnenschauspiel der FIDE und ihrer Funktionäre oder doch der höchste Repräsentant respektive die höchste Repräsentatin des Schachspiels und aller Anhänger Caissas? Unlauter und der Sache undienlich sind auf jeden Fall Versuche, der Chinesin zu unterstellen, die Nerven wären mit ihr in Gibraltar durchgegangen. Wie überall in der Welt und nicht nur auf dem Brett geht es um die Frage der Verfügbarkeit des Menschen von Institutionen, die über die Köpfe der eigentlichen Akteure hinweg Entscheidungen treffen und verwalten. Wenn ein einzelner Mensch aufsteht und für diesen Streit Karriereaussichten und Preisgelder in die Waagschale wirft, verdient ein solcher Mut, der über das private anpassungsorientierte Ziel hinaus auch die Interessen anderer berücksichtigt, in höchstem Maße Respekt.


8. Februar 2017


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