Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


MELDUNG/830: Die Lüge vom Frauenschach (SB)


Basisprogramm zur Geschlechtertrennung


Als Vera Menchik am 16. Februar 1906 in Moskau geboren wurde, konnte noch niemand ahnen, daß sie 21 Jahre später als erste Schachweltmeisterin in die Geschichte eingehen würde. Doch war ihr Leben auch so von vielen Kämpfen, Auf- und Umbrüchen gekennzeichnet, ehe sie gemeinsam mit ihrer Schwester und Mutter am 27. Juni 1944 das Opfer eines V1-Raketenangriffs Hitlerdeutschlands auf London wurde.

Bemerkenswert an Vera Menchik war vor allem, daß sie durch epochale Zeitwirren hinweg, in denen Revolutionen und Weltkriege, Blutzoll und Barbarei die fragil gewordenen Gesellschaften des Westens unter Staub und Trümmern zerpflügten, als Frau in einer Denkdisziplin wie dem Schach den Ausdruck ihrer eigenen geistigen Entfaltung sah und dies auch vehement durchsetzte. Gleichwohl das Schach von Männern dominiert war, erstritt sie als Pionierin der erst Jahrzehnte später als Bestrebung auf allen gesellschaftlichen Feldern sich Bahn brechenden Emanzipation der Frauen vom patriarchalischen Joch das Recht, auch an Männerturnieren teilzunehmen. Ausdrücklich verboten war dies nicht, allein sanktioniert durch die schiere Unvorstellbarkeit, daß Frauen im Wettkampf mit Männern auf ebenbürtiger Augenhöhe konteragieren könnten. Als Vera Menchik den heiligen Boden dieser Männerdomäne betrat, provozierte sie nicht nur einen Eklat, sondern ging auch das Wagnis ein, von den Medien regelrecht zerrissen zu werden. Doch mit ausgezeichneten Resultaten stellte sie unter Beweis, daß tiefes strategisches Denken kein Alleinvertretungsanspruch der Männer war.

Ihr Vater war Tscheche, ihre Mutter Engländerin. In den turbulenten Zeiten nach der Russischen Revolution verlor die Familie nicht nur all ihren Besitz, sondern auch den ehelichen Zusammenhalt. Den Vater zog es zurück nach Tschechien, wo er in den Nebelschwaden der Geschichte verlorenging, während die Mutter 1921 mit ihren beiden Töchtern Vera und Olga - auch sie eine starke Schachspielerin - nach England zurückkehrte. In Hastings, wo die Familie zwischenzeitlich Obdach bei der Großmutter fand, lernte Vera Menchik den namhaften ungarischen Meister Géza Maróczy kennen, der sie, kaum daß er ihr unabweisliches Talent erkannte, unter seine Fittiche nahm und ihr ein Rüstzeug zur Hand gab, das es ihr ermöglichte, ihren Weg durch die Schachwelt zu gehen, ohne auf die Hinfälligkeiten überkommener Geschlechtervorurteile oder gesellschaftlicher Etiketten Rücksicht nehmen zu müssen.

Obwohl aus der Frühzeit des Schachspiels zahlreiche Geschichten von der Kongenialität der Frauen am Brett zeugen, kennt die Historie seit dem Aufbruch in die Moderne nur die Signaturen von Meistern. Selbst das bewegte 19. Jahrhundert, als überall Schachvereine und der wissenschaftlichen Analyse des Spiels geweihte Zirkel aufblühten, überliefert kaum Namen von Spielerinnen, obwohl es sie zweifelsohne gegeben haben muß. Als 1897 das erste internationale Frauenturnier in London zur Austragung kam, fiel das Presseecho eher bescheiden und maßvoll aus. Im Grunde amüsierte man sich über den in den Augen der Zeit kleinlichen Versuch der Frauen, es den Männern gleichzutun. Eine Nische, ja, die räumte man dem sogenannten schwachen Geschlecht durchaus ein, aber Eigenständigkeit außerhalb von Herd und Mutterleib war schlicht undenkbar.

So hatte es Vera Menchik, als sie aufbrach, ihr Können in die Waagschale des Vergleichs zu werfen, nicht nur mit einem schier unausrottbaren Ressentiment zu kämpfen, schlimmer noch wog, daß es in der zivilisierten Welt schlichtweg an beständigen Formen des Wettkampfs und der Anerkennung fehlte, da Frauenturniere rar gesät waren. So gab es für sie keine Alternative zur Konfrontation mit der Männerwelt. Doch die Erfolge gaben ihr Recht. Nicht nur, daß sie es mit männlichen Turnier- und Berufsspielern aufnehmen konnte, dank ihres um kein Deut weniger ausgebildeten Feingefühls auf positionellem und taktischem Gebiet lud man sie auch zu großen Turnieren ein. Vielleicht, um sie stürzen zu sehen und ihr Scheitern mit der Endgültigkeit eines Urteils zur naturbedingten Überlegenheit des Mannes zu verklären.

Aber sie behielt ihre innere Balance, und traf sie doch auf Häme, folgte ein faustdicker Konter. Ungeachtet vieler Proben ihres Könnens spielte Vera Menschik als einzige Frau auf hohem Turnierlevel kaum mehr als die Rolle eines exotischen Geschöpfs, wie man es im Zoo bestaunte und mit vielerlei Namen behängte. Den Handschlag der Anerkennung fand sie selten. Vom Dünkel der Männerwelt zeugte auch der sogenannte "Vera Menchik Club", den der österreichische Meister Albert Becker mit giftigem Spott ins Leben gerufen hatte, in dem alle Männer sogleich Mitglied werden sollten, die gegen sie schmachvoll den kürzeren zogen. Welche Ironie, daß ausgerechnet Becker als erster in dieses Panoptikum von Weibes Hand Bezwungener aufgenommen wurde und damit die Tür öffnete für Top-Spieler wie Mir Sultan Khan, Max Euwe und Jacques Mieses. Ihren größten Erfolg feierte sie 1929 in Ramsgate, wo sie punktgleich mit Akiba Rubinstein den zweiten Platz belegte, nur einen halben Punkt hinter dem Ex-Weltmeister José Raúl Capablanca. Ihre höchste historische Elo-Zahl betrug im Mai 1929 erstaunliche 2535. Zu dieser Zeit lag sie auf Platz 52 der Weltrangliste.

Noch war der Frühling des Feminismus nicht angebrochen, noch war der historisch gewachsene Vorsprung der Männer in den Turnierhallen zu groß, um Frauen im progressivsten Sinne das Etikett auszustellen, eine gewisse Hürde nehmen zu können, wenn sie die Männer nachahmten. Selbst die Geburtsstunde der Frauenweltmeisterschaften in London 1927 war von Herablassung geprägt. Denn strenggenommen war nur ein Frauenturnier angesetzt, gewissermaßen ein Unterpunkt im großen Rahmenprogramm der dort unter der Regie der FIDE ausgetragenen Schacholympiade. Erst im Nachhinein erklärte man dieses Turnier zu einer Weltmeisterschaft der Frauen und erhob Vera Menschik in den Stand einer Weltmeisterin, weil sie im Zwölferfeld zehn der elf Partien gewann und nur ein Remis erlaubte. Denkbar, daß die Briten interveniert hatten. Wenn sie schon keinen männlichen Weltmeister stellen konnten, sollte wenigstens der Thron der Frauen in ihren Besitz fallen. Eine folgenschwere Zäsur war die Frauenweltmeisterschaft allemal, weil damit bis auf den heutigen Tag der gesellschaftskonforme Unterschied der Geschlechter auch auf dem Felde des Schachdenkens festgeschrieben wurde.

Daran hat auch der Zwischenfall mit Judit Polgar nichts geändert. Die jüngste der drei ungarischen Schwestern, die in einer Art Erziehungsexperiment ihrer Eltern von klein auf unter der Leitprämisse eines konditionierbaren Genies regelrecht mit Schachwissen vollgesogen wurden, hatte es immerhin bis auf Platz 8 der Weltrangliste geschafft. Der Weg dahin war steinig genug. Daß man aus Menschen Fabrikarbeiter machen kann, ist beileibe keine explizit Marxsche Erkenntnis. Allein, als die Schwestern für sich entschieden, nur noch an Männerturnieren teilzunehmen, weil das Frauenschach kein ernsthafter Fehdehandschuh mehr für sie war, hagelte es massiv Proteste seitens der Funktionärselite. Vor allem bekamen es die Schwestern mit dem Widerstand des ungarischen Landesverbandes zu tun, der seine Pfründe davonschwimmen sah und daher im Schulterschluß mit dem Politmanagement ein Reiseverbot gegen sie verhängte. Es galt, ihren Willen zu brechen und gefügig zu machen. Denn nur mit dem Polgar-Trio hätte Ungarns Olympiamannschaft der Frauen Goldmedaillen einfahren können. Sportlicher Erfolg war im sozialistischen Osten Europas zugleich die Währung für Profit. Dazu bedarf es keines waschechten Kapitalismus. Erst der Protest einer weltweiten Schachöffentlichkeit brach den auf die Polgars ausgeübten politischen Druck. Sie durften wieder in den Westen reisen.

Judit Polgars Traum, den Titel des Weltmeisters der Männer zu erringen und im gleichen Zuge die verknöcherte patriarchalische Vorherrschaft auf dem Schachfelde aufzubrechen, wirkte utopisch genug, um im Westen als Werbeslogan für das Frauenschach instrumentalisiert zu werden. An eine wirkliche Kehrtwende verschwendete man keinen Gedanken, solange nur der Rubel rollte. Eine Mutterschaft und möglicherweise die Einsicht in die Vergeblichkeit ihres Kampfes gegen gesellschaftlich verfestigte Strukturen aus Vereinen, nationalen Verbänden und dem Übervater Weltschachbund bewogen sie 2014 schließlich zum Rücktritt vom aktiven Schach. Die Diskriminierung hat viele Facetten und fängt schon mit dem Begriff eines Frauenschachs an, der dem latent bis offen transportierten Bild von der geschlechtsspezifischen Unterlegenheit gleich die Begründung mit liefert: Zu mehr reicht es eben nicht. Zur List gesellt sich die Verschlagenheit der Unschuldsmiene, es im Grunde mit den Frauen gutzumeinen. Mit Trojanischen Pferden lassen sich im Krieg der Interessen nicht nur Festungen erobern.

Es gibt eine "Prinzengruppe" beim Deutschen Schachbund, aber kein Äquivalent dazu. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Traditionsturnier in Wijk aan Zee. Im Tata Steel Masters treten Jahr um Jahr die besten Großmeister der Welt gegeneinander an. Daß im Regelwerk ein Quotenplatz für eine Frau auf der Teilnehmerliste reserviert ist, hat mehr von einer Gunstbezeugung denn von Gleichbehandlung. Was spräche gegen ein Format mit paritätischer Besetzung? Es wäre ein Meilenstein und Signal für eine geradezu schachrevolutionäre Neubesinnung. Doch so weit will man nicht gehen. Statt dessen wird aufs halbherzigste von einem gesellschaftlichen Bewußtseinswandel bramarbasiert, um mehr Mädchen und Frauen für die Schachkunst zu gewinnen. Auch die gegenwärtig mit Abstand weltbeste Schachspielerin, die Chinesin Hou Yifan, sieht sich mit einem Bollwerk etablierter Interessen konfrontiert, wenn sie die Benachteiligung vom Frauen im WM-Zyklus kritisiert.

An Vera Menschik zu erinnern, die in ihren sieben Weltmeisterschaftskämpfen mit einer Bilanz von 78 Siegen bei vier Remisen und nur einer einzigen Niederlage sternenhell aufglänzte, hat auch eine gesellschaftspolitische Seite. Die Institution des Weltschachbundes treibt die Geschlechtertrennung im Schach nicht nur voran, sie ist auch ihr maßgeblicher Profiteur. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten praktisch alle Staaten nationale Frauenmeisterschaften ein. Die FIDE reagierte auf diesen Ansturm mit der Kreation neuer Rangtitel. Vordergründig kam man den Frauen damit entgegen. Die Hürden für den Erhalt des Titels Woman Grandmaster liegen deutlich niedriger als beim Groß- oder Internationalen Meister, die übrigens beiden Geschlechtern offenstehen. In der internationalen Konkurrenz ist es für Schachspielerinnen mit Blick auf den eigenen Marktwert - und weil die wirklich lukrativen Wettkämpfe Einladungsturniere sind - jedoch wichtig, in den Rang eines Großmeisters der Herren aufzusteigen. Für die FIDE ein lohnendes Geschäft wegen der doppelten Gebühreneinnahmen. Und die nationalen Landesverbände arbeiten der Profitmaxierung zu: Separate Titel, eigens organisierte Meisterschaften für Frauen, überhaupt jedes Turnier, das der FIDE zur Auswertung vorgelegt werden muß, weil ohne diese Art des Lizenzgeschäfts keine Elo-Punkte vergeben werden, generieren zusätzliche Geldströme in die Kassen des Weltschachbunds.

Beauftragte fürs Frauenschach stehen Schulter an Schulter mit den Verbänden zusammen. Je mehr Wettbewerb entsteht und entsprechende Erfolge vorzuweisen sind, desto leichter fließen Gelder für nationale und regionale Sportförderungen. Am grundsätzlichen Mißverhältnis hat dies jedoch nichts geändert. Trotz jahrzehntelanger Förderung und Finanzierung von Frauenturnieren und des Umstands, daß nationale Verbände einen gut Teil ihres Budgets ins Frauen- und Mädchenschach investieren, beläuft sich die Anteil der erwachsenen Frauen, die als Amateure oder Profis an Schachturniere gehen, gegenüber ihrer männlichen Konkurrenz auf weniger als fünf Prozent. Zwar ist der Mädchenanteil unter Kindern und Jugendlichen höher, aber im Gesamtvergleich sind Frauen im Schachbetrieb mit etwa sieben Prozent dennoch markant unterrepräsentiert.

Dieses statistische Faktum als alleinige Erklärung dafür zu nehmen, warum so wenige Frauen in der Weltspitze mitmischen, mogelt sich an den Realitäten vorbei. Wie so oft spielen auch beim Schach ökonomische Gründe und systemimmanente Wettbewerbsverzerrungen eine wesentliche Rolle daran. Deutlich stärker als ihre männlichen Kollegen beziehen Berufsschachspielerinnen ihr Einkommen aus Verbandsmitteln, so daß ihre Teilnahme an Frauenturnieren, deren öffentliche Sichtbarkeit wiederum von den Verbänden als positives Entwicklungssignal an die jeweiligen Ressorts der FIDE weitergegeben wird, nahezu zwingend ist, wenn sie ihre Lebenshaltungskosten decken wollen. Wegen der im Durchschnitt geringeren Spielstärke von Frauen in diesen separaten Wettkämpfen stagnieren die Fortschritte vor allem der Berufsschachsspielerinnen, die sich damit zwar eine Nische zum Überleben gesichert haben, ihrer männlichen Konkurrenz jedoch nicht das Wasser reichen werden. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Dazu verdammt, gegen schwächere Gegnerinnen aufzuspielen, können sie nicht das Maximum aus sich herausholen, verlieren sich in Routinen und beschleunigten Abnutzungseffekten bis hin zur Resignation. Mit der Herausforderung wächst das Können, bleibt diese aus, wäre aus einem Franz Beckenbauer in einem Drittligaverein nie ein Weltklassefußballer geworden. So bleiben die Männer an der Spitze unter sich und nähren die Legende vom männlichen Image des Schachspiels, der wohl größten Lüge in der Schachhistorie.

Selbstverständlich kann die Quintessenz nicht darin bestehen, Spitzentalente aus einem breiten Frauenpool herauszudestillieren, um sie dann wie bei den sogenannten Wunderkindern im Schachbetrieb zu verheizen. Elitenförderung ist ein Herrschaftsmittel und ein Garant dafür, daß die gesellschaftlichen Ketten und Konventionen ihre Wirkung nicht verlieren. Die Verinnerlichung des Erfolgs Einzelner zum Maßstab der Masse wird so zum innovativen Baustein und Fortbestand jener Spaltungsmatrix, die Menschen zu beherrschbaren Wesen macht und dafür sorgt, daß eine Frau im Schach nie Weltmeister wird. Daß Frauen, wie manche Chauvinisten gerne behaupten, zu intelligent seien, um sich die Beschäftigung mit dem Schach zur Lebensaufgabe zu machen, ist nicht nur dreister Hohn, sondern verkehrt die soziale Situation von Frauen geradezu ins Lächerliche. Man könnte ansonsten auch sagen, ein Sklave sei zu schlau, um selbst Herr oder mehr noch ein freier Mensch zu sein.

Seit altersher ist Schach ein Spiel, in dem zwei Menschen sich dazu verabreden, ihr Denkvermögen welcher Art auch immer in einem direkten Vergleich zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Das schließt Lernschritte in der Strategie des Spiels als auch die Erlangung von sozialen Kompetenzen wie Geduld, Respekt und Verläßlichkeit mit ein. Daß das Ausgrenzungsmotiv separater Frauenmeisterschaften, wie es in Deutschland und vielen anderen Staaten üblich ist, keinen Unbedingtheitscharakter haben muß, zeigt das Beispiel Spanien, wo Frauen bei nationalen Wettkämpfen bei den Männern und Mädchen bei den Jungen spielen. Die Bestplatzierte gewinnt dann den Titel, aber auf jeden Fall ist der Anreiz gewährleistet, das eigene Verständnis vom Schach in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit einem stärkeren Kontrahenten zu vertiefen. Das gern kolportierte Narrativ, daß eine Partie Remis enden muß, wenn zwei Spieler jeweils die besten Züge finden, hat über die rein sportliche Komponente hinaus noch eine andere Bewandtnis, nämlich, den Unterschied einer fortwährenden Konkurrenzsituation unter Menschen in Form von Sieger und Verlierer zu Gunsten einer anderen Entwicklung frei von gesellschaftlichen Masken und Zwängen bis zur Unumkehrbarkeit aufzuheben.


21. Februar 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang