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DAS TURNIER/001: Schach und Marzipan - Herreneinzelmeisterschaft in Lübeck (SB)


Freud und Leid des Favoriten


Nun ist Lübeck gewiß nicht der Nabel der schachbewegten Republik, auch wenn das Holstentor neben zahlreichen anderen historischen Bauten und Sehenswürdigkeiten und die zigtausend Versuchungen des weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmten Lübecker Marzipans eine Reise durchaus wert sind. Daß die altehrwürdige Hansestadt dennoch in den Fokus der Schachaufmerksamkeit geriet, lag an der vom 21. bis 30. Oktober im Vier-Sterne-Hotel Holiday Inn in der Travemünder Allee ausgetragenen Deutschen Einzelmeisterschaft der Herren (DEM). Lübeck war bei alledem nur der Notnagel auf dem Planungsbrett des Deutschen Schachbundes (DSB), denn schon Anfang Mai galt als sicher, daß sich kein Ausrichter für die DEM 2016 finden würde. Das Manko ist leicht zu erklären, denn der ausrichtende Verein hätte für den Zuschlag einen Preis- und Orga-Fonds von rund 16.000 Euro aufbringen müssen, was in der aktuell schwierigen wirtschaftlichen Lage kaum zu stemmen ist.

Bundesturnierdirektor Ralph Alt stand vor einer kniffligen Frage: Sollte man den Wettkampf einfach um ein Jahr verschieben und mit der Meisterschaft von 2017 zusammenlegen? Doch das wäre für den Schachstandort Deutschland und seinen Ruf in der Welt eine nicht auszudenkende Blamage gewesen. Zum Glück gab es eine kleine, schließlich vom Hauptausschuß des Präsidiums und der Landesverbandspräsidenten in Kassel abgesegnete Alternative: Jeder Ausrichter, der bereit wäre, eine abgespeckte Version der DEM ohne Preisgelder durchzuführen, sollte von der Rahmenzahlung entbunden werden. Der Hilferuf fand in Lübeck oder besser beim Lübecker Schachverein von 1873 Gehör, wo dessen Vorsitzender Thilo Koop sich einverstanden erklärte, dem DSB aus der Patsche zu helfen, konnte er doch im gleichen Atemzug Werbung machen für den nördlichsten Landesverband und insbesondere Lübeck als einstigem Schrittmacher im Schachbetrieb Schleswig-Holsteins. Wehmütig erinnerte man sich dort an die goldenen Tage, als der Lübecker Schachverein noch in der Bundesliga spielte und dreimal in Folge von 2001 bis 2003 den Titel des Mannschaftsmeisters errang.

Die DEM 2016 war damit gerettet, aber die Kontroversen ließen dennoch nicht lange auf sich warten. Schon seit langem gärt Empörung in den deutschen Schachgemeinden. Der Modus, daß die einzelnen Landesmeister unter sich den Champion ausspielen, die eigentlichen Stars der deutschen Schachszene diesem großen Ereignis jedoch fernbleiben, weil sie als Profis Geld verdienen müssen und nicht allein vom Prestige leben können, ist für sich genommen beklagenswert genug. Vorbei die Zeiten, als von den Anfängen 1879 an namhafte Meister wie Englisch, Tarrasch, Grünfeld, Schlechter, Bogoljubow und andere den deutschen Thron bestiegen, weil sie sich im Duell der Besten ausgezeichnet hatten. Und weil die Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften international offen war, stößt man im Almanach der Sieger auch auf Namen wie Winawer, Burn, Janowsky und Marshall. Deutsche Meisterschaften fanden einst weltweit Anklang und Interesse.

Nach dem Krieg wurden noch bis 1953 Gesamtdeutsche Meisterschaften ausgetragen, danach bis zur Wiedervereinigung von der BRD und DDR jeweils getrennte Wettkämpfe organisiert. Aber stets kämpften die besten Spieler ihres Landes um den Titel. Nach 1990 änderte sich das Bild rapide. Weil der Preisfonds nicht attraktiv genug war, lehnten viele der Großmeister die Einladung ab und investierten ihre Zeit lieber in Turniere mit satten Preisgeldern, bis der DSB die Regelung ausgab, die Deutsche Meisterschaft, ähnlich einem Open, über neun Runden nach dem Schweizer System unter den Siegern der Landesverbände austragen zu lassen. Die Freiplätze für die deutschen Spitzenspieler blieben in der Regel vakant. Hinzu kommt, daß die Meisterschaften der Landesverbände selten topbesetzt sind und sich so auch Spieler der zweiten oder dritten Garde für die Endrunde qualifizieren, mit der Folge eines großen Gefälles unter den Teilnehmern. Und so auch jüngst in Lübeck, wo unter den 26 Teilnehmern nur zwei Großmeister zu finden waren. Von daher überraschte es nicht, daß das Lübecker Eigengewächs Rasmus Svane mit 19 Jahren die Setzliste anführte und als Turnierfavorit gehandelt wurde, obwohl er noch vor kurzem einer der Spieler der DSB-Talentgruppe "Prinzen" war. Der zweite Großmeister im Teilnehmerfeld war Sergej Kalinitschew aus Berlin. Am unteren Ende plazierte sich Frank Schellmann, der sich über den Deutschen Blindenschachbund qualifiziert hatte, mit knapp 2100 DWZ.

Was wunder, daß die Kritik ziemlich harsch ausfiel. Für viele Schachfreunde war die diesjährige DEM kaum mehr als ein Spaßturnier oder schlicht eine Sandkastenveranstaltung. Häme gab es auch in Richtung DSB, weil er sich weder zu einer vernünftigen Lösung aufraffen konnte noch bereit war, Siegesprämien auszuloben, die die Attraktivität gesteigert hätten. So aber wird mit einer Meisterschaft ohne Preisgelder ein neues Armenhaus mit weitreichenden sport- und kulturpolitischen Konsequenzen geschaffen. Sicherlich kann die Schachkunst auf den großen Medienmärkten nicht mit Sportarten wie Fußball oder Tennis konkurrieren, aber dies rechtfertigt nicht, daß die Teilnehmer einer Schachmeisterschaft sich und ihre Profession unter denkbar billigsten Konditionen an die Gleichgültigkeit der Funktionäre verkaufen. An fehlenden Sponsoren liegt es nicht, so engagierte sich in Lübeck die Viactiv Betriebskrankenkasse. Raum für kreative Ideen ist demnach vorhanden. Peinlich wird das Ganze aber mit Blick darauf, daß manches Wochenendturnier über ein höheres Budget verfügt als die DEM. Ein Ende der Miserenkultur im DSB und ein Umdenken unter den Funktionären setzen indes voraus, daß die dringenden Probleme auf Tagungen nicht weiter gesundgebetet werden und man sich so im allgemeinen Konsens einfach aus der Verantwortung stiehlt.

Dem Lübecker Schachverein (LSV) gebührt die Ehre, der DEM 2016 trotz der diffizilen Ausgangslage einen dem Ereignis würdigen organisatorischen Rahmen gegeben zu haben. Dank einer Live-Übertragung der ersten vier Bretter im Netz, Kommentaren zu einzelnen Runden und einem bereitgestellten Ergebnisdienst konnten die Anhänger und Interessierten dieses Denksports die Brisanz der Kämpfe gleichsam zeit- und hautnah mitverfolgen. Für einen weiteren Leckerbissen sorgte der in den USA studierende deutsche Großmeister Niclas Huschenbeth, der zur Eröffnung der Meisterschaft ein Simultanmatch gegen zwanzig bekannte Schachspieler aus der Region gab, darunter natürlich auch viele Mitglieder des LSV, aber auch einige Lübecker Spitzenathleten aus anderen Sportdisziplinen. Statt einfach auf seine großmeisterliche Technik zu setzen, wählte Huschenbeth zuweilen auch risikofreudige Varianten, die den Reiz boten, daß der Großmeister in der Eile des Gefechts vielleicht doch eine taktische Finesse übersah. Tatsächlich gelang so der U14-Spielerin des Lübecker Schachvereins, Alexandra Mundt, am ersten Brett als Nachziehende im wilden Evans-Gambit nach 14 Zügen eine Sensation, als sie die weiße Dame ihres prominenten Gegenübers eroberte. Mehr als diese Niederlage ließ Huschenbeth jedoch nicht zu. Partie um Partie erhöhte sich sein Siegeskonto. Nur Klaus Besenthal und die beiden LSV-Mitglieder Jürgen Erich und Bernhard Weber konnten ihrem hochrangigen Kontrahenten immerhin ein Remis abtrotzen. Am Ende stand es 17,5:2,5 für den sympathischen Großmeister.

Die 87. Deutsche Einzelmeisterschaft selbst wurde lange Zeit von Rasmus Svane dominiert, der zwar beim Hamburger SK in der Bundesliga spielt, aber sein Talent als Sohn der Hansestadt über viele Jahre im Lübecker Traditionsverein ausgebildet hatte. Teilnahmeberechtigt waren der Titelverteidiger aus der DEM 2015, je zwei Spieler aus den Landesverbänden Nordrhein-Westfalen, Bayern, Württemberg und Baden, sowie je ein Spieler aus den Landesverbänden Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen, ferner ein Spieler des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbundes, der Dähne-Pokalsieger 2015, der Sieger der A-Klasse der Deutschen Schach-Amateurmeisterschaft 2015 und von der Kommission Leistungssport nominierte Spieler. Für den Lübecker Schachverein startete per Ausrichter-Wildcard der erst 16jährige Martin Kololli.

Der Auftakt verlief erwartungsgemäß mit Siegen der Favoriten gegenüber ihrer Konkurrenz. Aus der Rolle fiel lediglich Ferenc Langheinrich, der gegen Kololli den kürzeren zog. Schleswig-Holsteins Meister Frank Schwarz wiederum mußte sich dem an Platz 2 gesetzten Alexander Gasthofer aus Bad Mergentheim geschlagen geben. Nach leichten Punktgewinnen über Heiko Kummerow und Thilo Kabisch stand Elo-Favorit Svane in Runde 3 vor seiner ersten großen Herausforderung in Gestalt des Berliner Großmeisters Sergej Kalinitschew. Am Ende mußte sich der 19jährige ins Remis fügen. In der darauffolgenden Runde übernahm Svane allerdings die alleinige Führung, da die mit ihm punktgleichen Tobias Jugelt, Alexander Gasthofer, Karsten Schulz und Sergej Kalinitschew sich in den Verfolgerduellen gegenseitig mit Remisen ausmanövrierten. Svane brauchte nicht einmal das sprichwörtliche Quentchen Glück, um dem Lübecker Nachwuchsspieler Kololli mit den weißen Steinen die Leviten zu lesen.

Freilich hielt seine Führung im Klassement nur bis zur nächsten Runde. Gegen Alexander Gasthofer reichte es für Svane nur zum Remis, so daß der Schweriner Karsten Schulz und Sergej Kalinitschew zum Spitzenreiter aufschließen konnten. Altmeister Schulz fiel in Runde 6 wieder aus dem Spitzenfeld heraus, weil er am Top-Brett von Svane bereits in der Eröffnung überrumpelt wurde. Der Ex-Prinz und Kalinitschew, der Kololli das Nachsehen gab, führten damit die Tabelle mit einem Punkt Vorsprung vor dem Verfolgerfeld an. In der 7. Runde spitzte sich das Geschehen zu, als Florian Fuchs gegen Svane in einer Französischen Verteidigung ein Figurenopfer spielte. Soviel Mut wurde allerdings nicht belohnt. Der junge Großmeister umschiffte die Verwicklungen gekonnt und sicherte sich mit seinem Sieg wieder die alleinige Tabellenführung, da sein Mitstreiter Kalinitschew gegen Daniel Malek nicht über ein Remis hinauskam.

Zu diesem Zeitpunkt herrschte beim Hamburger SK die optimistische Stimmung, nach 1996/97 (Matthias Wahls) und 2010 (Huschenbeth) wieder den Deutschen Meister zu stellen. Svane mußte tags darauf im Hamburger Duell gegen seinen Klubkameraden Björn Bente, der sich als Deutscher Pokalsieger 2015 für die DEM 2016 qualifiziert hatte, antreten. Doch wider Erwarten konnte der Jungstar seinen Weißaufschlag nicht verwerten. Ihm kam jedoch zupaß, daß auch Kalinitschew gegen Gasthofer in der Remisschlaufe hängenblieb. Die Entscheidung mußte so in der Schlußrunde fallen. Allerdings stand Svane vor dem Handicap, unbedingt gewinnen zu müssen, denn im Falle einer Punktgleichheit hätte Kalinitschew aufgrund des Elo-Durchschnitts seiner Gegner die bessere Buchholzwertung gehabt, da Svane, topgesetzt, natürlich immer gegen leichtere Gegner spielte.

Die Endrunde geriet zum Matryrium für Svane, der mit Schwarz gegen den FIDE-Meister Daniel Malek partout keinen Vorteil herausspielen konnte und daher aus eigener Hand nicht mehr in den Titelkampf eingreifen konnte. Als am dritten Brett Björn Bente und Alexander Gasthofer, der im Falle eines Sieges zumindest eine minimale Titelchance gehabt hätte, früh ins Remis gingen, konzentrierte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Ausgang der Partie am zweiten Brett zwischen Thilo Kabisch und Sergej Kalinitschew. Der 60jährige Berliner stand eigentlich klar auf Verlust, aber Kabisch konnte den Sack nicht zumachen. So gelang es Kalinitschew nicht nur, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, er erreichte zudem ein Endspiel, das für ihn leichter zu spielen war als für seinen Gegner. In kritischen Augenblicken griffen beide fehl, aber zuletzt war es Kalinitschew, der den richtigen Gewinnplan kreierte und alle Hindernisse zum Siegpunkt aus dem Weg räumte. Svane hätte sein Springerendspiel gegen Malek jetzt gewinnen müssen, um sich den Titel zu holen, aber die Stellung auf dem Brett vor ihm war tot und remis, kein Trick und Winkelmanöver hätte diesen Umstand aus der Welt verbannen können. So ging der Titel des Deutschen Meisters 2016 mit 7 Punkten aus 9 Runden dank besserer Wertung an Sergej Kalinitschew vom SC Kreuzberg vor dem enttäuschten Vize-Meister Rasmus Svane und Karsten Schulz auf dem Bronzerang. Ob Pechsträhne oder Hans im Glück, der Sieger wird gefeiert, wie es auch immer kommt. Oder um es in Versen auszudrücken: Die Wehmut trügt, das Glück geht stets eigene Wege, wer sagt, dies sei ein Ding der Pflege, spricht falsch - er lügt.


 Endstand 
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GM
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FM

IM

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FM
FM








FM

FM

CM

Kalinitschew, Sergej
Svane, Rasmus
Schulz, Karsten
Gasthofer, Alexander
Malek, Daniel
Bente, Björn
Kololli, Martin
Jugelt, Tobias
Kabisch, Thilo
Hirneise, Jens
Langheinrich, Ferenc
Tonndorf, Matthias
Schwarz, Frank
Möller, Hendrik
Rehberg, Raphael
Schroeder, Christoph
Fuchs, Florian
Müer, Sebastian
Liepold, Stefan
Gress, Alexander
Metz, Hartmut
Messarius, Jürgen
Kummerow, Heiko
Schön, Ralf
Schellmann, Frank
Görgens, Michael
2405
2552
2283
2437
2411
2239
2202
2418
2309
2324
2371
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5. November 2016


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