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SCHACH-SPHINX/05417: Phänomenologische Vorlieben (SB)


Methoden, um den Wert der Figuren während einer Partie gegeneinander aufzurechenen, gibt es nicht wenige. Manche bevorzugen ein einfaches Zahlenexempel. Der Turm ist demzufolge soundsovielmal mehr wert als der Läufer, heißt es da. Die Multiplikation mit Brüchen und Gegenrechnungen, Einschränkungen und bestimmten positionellen Bedingungen soll zuletzt einen relativen Wert ergeben, der als Achse der Kalkulation zur Handhabe der Abtauschoperation dienen soll. Kurzum gesagt und auf den Punkt gebracht: Ein Turm ist mehr wert als jeweils die beiden Leichtfiguren, Turm und Springer für sich genommen jedoch weniger als eine Dame. Ausgehend davon könnte man sagen, daß dieses analytische Verfahren eine Spielart des Behaviorismus darstellt. Ein gegebener Sachverhalt wird also durch Reduktion auf allgemeingültige Gesetze zu erklären versucht. Demgegenüber ist der Typus der phänomenologischen Herangehensweise bemüht, durch eine individuell gefärbte, meist spekulative Annäherung, gewissermaßen eine menschenbezogene Komponente in die Figuren hineinzudeuten, die die Struktur der vordergründig mathematisch-schachlichen Wirklichkeit auf dem Brett mit Vorlieben und psychologischen Faktoren ergründen will. Beide Methoden haben ihre Verfechter. Beim wissenschaftlichen Behaviorismus kommt erschwerend jedoch hinzu, daß das reine Abstellen auf rechenbare Größen und Zwecke einen Halt macht vor den spielerischen Stärken. Die Betonung zweckdienlicher Faktoren wie Position und Figurenwert setzt nämlich eine verbindliche Strategie voraus, an die sich der andere Spieler ebenfalls bei seinen Überlegungen stützen müßte, was jedoch selten der Fall sein dürfte. So genießt der phänomenologische Ansatz die meisten Freunde unter den Schachmeistern. Je nach Charakter und Temperament des Gegenübers wird hier die objektive Vernunft der persönlichen Vorliebe für das Behandeln von Schachprobleme nachgestellt. Auf ein Beispiel gebracht, bedeutet dies, daß Garry Kasparow in einer Partie gegen Viswanathan Anand also anders vorgeht als gegen Wladimir Kramnik, und zwar nach den Gesichtspunkten von Erfahrung und Einschätzung. Die wenigsten Schachspieler sind Verfechter der rein analytisch abmessenden Methode. Und das macht im Grunde genommen ja den Reiz des Schachspiels aus. Phänomenologisch durchdacht hatte auch Meister Toran seine Partie gegen O'Kelly. Im heutigen Rätsel der Sphinx saß der schwarze König in seinem Kellerloch h8 gefangen. Meister Toran, mit den wißen Steinen am Zug, zog die schwarze Majestät aus ihrem Schutzwall heraus und setzte sie, soviel an Information für dich, Wanderer, auf g4 Matt.



SCHACH-SPHINX/05417: Phänomenologische Vorlieben (SB)

Toran - O'Kelly
Mallorca 1967

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Es fehlte nur noch das abschließende i-Tüpfelchen, um die schwarze Majestät zur Aufgabe zu zwingen. Zu diesem Zwecke spielte Meister Ristoja 1.Te1-e7!, was die siebte Reihe eroberte. Natürlich ging 1...Sd5xe7 sofort wegen 2.Dg5-f6+ zugrunde, aber auch 1...Dd7-d8 hätte nach 2.Te7xh7+! zum Matt geführt. Und da sowohl 1...g6xf5 als auch 1...Dd7xf5 mit einer Qualität weniger das Leiden nur verlängert hätte, gab sein Kontrahent Susimaa nach 1.Te1-e7! umgehend auf.


Erstveröffentlichung am 10. April 2002

18. März 2015


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