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SCHACH-SPHINX/05441: Ursprungssünde des Menschen (SB)


Um kleinliche Ausreden sind selbst große Meister nie verlegen. Irgendein Ungemach trug immer die Schuld daran, daß sie Partien verpatzten, die auf Gewinn standen, Figuren verloren, weil sich ihre Gedanken um ganz andere Dinge kreisten oder weil gerade eine Fliege ihren Blick durchschwirrte. Ach, in welcher Kunst hat der Mensch gesünderes Sitzfleisch entwickelt als in der Kunst zur Begründung seines eigenen Scheiterns. Nur nicht die Augen öffnen vor der teuflischen Grimasse der eigenen Fehler. Weder vor dem glänzenden Spiegel noch in der selbstkritischen Nabelschau wagt er sich an diesen störenden Schatten heran, der das eitle Selbstbild so unverzeihlich befleckt. So band der englische Meister James Henry Blackburne am Ende seines Lebens die Summe seiner Erfahrungen zu einer einzigen Erkenntnis zusammen: "Ich habe nie einen Gesunden besiegt!" In der Tat, gegen welchen Schachhusaren Blackburne auch gewann, meistens bestritt der andere, von Blackburne unter fairen Bedingungen mattgesetzt worden zu sein. Ein noch nicht gänzlich auskurierter Schnupfen, eine Lappalie von Schnittverletzung am kleinen Finger, ein nervöses Augenlid, ein säuselndes Ohr, dann natürlich noch die Menge der lästigen, lärmenden Zuschauer und Kiebitze, der schmatzenden Ton von den Schuhen des Schiedsrichters beim Gehen, ja, die Welt besteht aus der unendlichen Ausfächerung der alten Ursprungssünde des Menschen, im anderen stets den schuldtragenden Widerpart zu sehen. Die Absurditäten gehen weit, machen zuweilen nicht einmal vor der Liebe halt. Als der amerikanische Jungstar Bobby Fischer in Buenos Aires einmal unter aller Würde spielte, er zählte damals 17 Lenze, fiel ihm nichts Gescheiteres ein, als zu behaupten, er sei verliebt. Von einem solideren Charakter, nicht so flatterhaft, nicht so eigenbrötlerisch auf sein Ansehen bedacht, war dagegen der jugoslawische Meister Boris Ivkov. Mit offenem Gesicht gab er nach der Partie gegen Rafael Waganjan in Moskau 1985 zu, daß er aus eigener Schuld verloren habe und wohl noch einiges lernen müsse. Er sagte nicht, daß er verloren habe, weil er seinen Gegner unter- oder überschätzt hatte, auch nicht, daß er einen Fehler gemacht habe, den er sich selbst nicht erklären könne. Also, Wanderer, wie besiegte Waganjan den jugoslawischen Meister mit den weißen Steinen im heutigen Rätsel der Sphinx?



SCHACH-SPHINX/05441: Ursprungssünde des Menschen (SB)

Waganjan - Ivkov
Moskau 1985

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der forsche David Janowski zahlte die Zeche nach seinem letzten Zug 1...Td8-g8, der jedoch nur schwer als Fehler zu durchschauen war. Wer hätte nicht geglaubt, daß der weiße Springer nach dem Turmzug verloren sei? Aber Jacques Mieses hatte weiter gerechnet und sich darauf 2.Dg6- g7! ausgedacht. Nun verbot sich 2...Tg8xg7 wegen 3.h6xg7 Th8-g8 4.Th1xh7 Db6-d8 5.Sg3-f5 und am weißen Sieg wäre nicht mehr zu rütteln gewesen. Also versuchte Janowski, sich mit 2...Lb7-c8 aus der Affäre zu ziehen, aber nach 3.Sg3-f5 Lc8xf5 4.Tf1xf5 Lc5-b4 5.Kc1-b1 Lb4xc3 6.b2xc3! Sf7-h8 7.Th1-f1! - man bedenke, die weiße Dame stand volle sechs Züge auf dem Präsentierteller - 7...Sf8-g6 8.Dg7-d7 Tg8-d8 9.Dd7- e6 Sg6-f4 10.Ld2xf4 e5xf4 11.Tf5xf4 Db6-c5 12.Tf4-f7 Dc5-g5 13.Tf7-f8! Dg5-c5 14.De6-e7 gewann Mieses für die glänzendste Partie auf dem Pariser Turnier einen Sonderpreis.


Erstveröffentlichung am 02. Mai 2002

11. April 2015


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