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SCHACH-SPHINX/05507: Iwans Schreckenskabinett (SB)


Blutrünstige Charaktere kennt nicht nur die Wildnis. Auch im Schoß der Zivilisation verirrt sich zuweilen das Gemüt in die Abgründe des Archaischen. Solange dieser Mensch nur einen geringen Wirkungskreis besitzt, kann es sein, daß sein latentes Mordbedürfnis nie zum Ausbruch kommt. Doch wehe, wenn er blauen Blutes und außerdem noch Herrscher eines riesigen Reiches ist. Man kann wohl annehmen, daß Zar Iwan IV. (1533-1584) nicht von ungefähr den Beinamen "der Schreckliche" trug. Wie er mit seinen tatarischen Feinden umgegangen ist, darüber steht in den Geschichtsbücher genug. Was dort allerdings verschwiegen wird, den Schachinteressieren jedoch spitze Ohren macht, ist, daß Iwan der Schreckliche auch ein schrecklich schlechter Verlierer beim Schachspiel war. Diesen Hang zum Wutausbruch teilte er übrigens mit anderem Monarchen. So konnte auch der "Löwe der Wüste", nämlich jener Napoleon, dem bei Waterloo die Zügel der Geschichte entglitten, schwerlich verkraften, wenn er denn eine Partie verlor. Aber zurück zu Iwan und seinem Schreckenskabinett. Es genügte seinem kranken Hirn nicht, einfach nur Schach zu spielen und seine Gegner, die sich ohnehin nicht getrauten, gegen ihn in voller Stärke aufzuspielen, zu demütigen. Als eine weitere Variante des Nervenkitzels verlegte er sich darauf, auf überdimensionalen Brettern mit lebenden Menschen als Figuren zu spielen. Ein Untertan galt nie viel in den feudalen Königsstaaten, und so ließ Iwan "billigerweise zum Zeitvertreib", jene Menschen hinrichten, die aus dem Brett herausgeschlagen worden waren. Im heutigen Rätsel der Sphinx ging es sanftmütiger zu. Der russische Meister Josif Dorfman hatte in der Diagrammstellung mit den weißen Steinen auf die Bedrohung seiner Dame mit 1.Lc1-g5 reagiert. Nachdem er die Grundreihe gesichert, den Mehrbesitz an Material zurückgegeben und nicht zuletzt seine Dame aus der Schußlinie des Turms gezogen hatte, endete die Partie - lange Rede kurzer Sinn: mit Remis. Allein, ein wenig von Iwans Naturell hätte Dorfman nicht schlecht getan. Man muß ja nicht gleich zum Menschenschänder werden! Aber dennoch, mit Iwan im Blute hätte Dorfman die Partie sogar noch gewinnen können. Welchen Schreckensaugenblick für seinen Gegner hatte Dorfman übersehen, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05507: Iwans Schreckenskabinett (SB)

Dorfman - Michaltschischin
Moskau 1982

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Kasparows Ärger nach der 16. Wettkampfpartie war gewaltig. Dabei war die Entgegnung nach 1.Lf2xd4? Td8xd4 2.f5-f6 Dc8-e6! gar nicht einmal schwer zu finden gewesen. Für Kasparow offenbar doch, denn danach ging es mit seiner Laune und Partie steil bergab. Da der Abtausch der Damen eine Endspiel-Hinrichtung bedeutet hätte, versuchte es Kasparow mit 3.De2-b2 De6-e3+ 4.Kg1-h1 b7-b6 5.f6xg7 Sa5-c4 6.Db2-c2 Kg8xg7 7.Lg2- d5 Sc4-d6 8.Dc2-b2 De3-e5 9.Ld5-b3 a7-a5 10.Db2-f2 f7-f5 11.Df2-b2 b6- b5 12.a2-a3 Kg7-g6 13.Db2-f2. Nach Abbruch der Partie kehrte Kasparow jedoch nicht ans Brett zurück.


Erstveröffentlichung am 07. Juli 2002

16. Juni 2015


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