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SCHACH-SPHINX/05606: Fingerübung für den Verstand (SB)


Hinter die Stirn eines Schachspielers vermag kein Blick zu schauen, und selbst erprobte Kommentatoren haben es mitunter schwer, das Webmuster einer Partie zu erkennen. Wieviel mehr noch der Zuschauer, der nur dann aus seiner stummen Verzückung für das Geheimnisvolle herausbrechen und applaudieren kann, wenn ein prächtiges Opfer gebracht wird. Dann ahnt er das Heraufdämmern einer Entscheidung. Ansonsten jedoch ist er mehr oder weniger auf die Erläuterungen des Kommentators angewiesen, der die Stellungen abschätzt und positionelle Gewichtungen vornimmt. Gebannt lauscht der laienhafte Schachfreund dann auf die sprudelnden Worte. Auf eine sonderbare, nicht näher zu beschreibende Weise nimmt er sogar Anteil am Geschehen ungeachtet der Verwirrung, die ihn wie ein Schatten begleitet. Nur darf sich der Kommentator selbst nicht irren. Peinlich wäre es, wenn er das Spiel des einen Meisters dauerhaft hervorhebt, dieser dann von einem Zug auf anderen und, ohne daß ein direkter Fehler vorliegt, verliert. Um sich vor Reinfällen zu schützen, hält die Zunft der Partieredner ihre Aussagen in der Schwebe, verwendet Redewendungen wie 'es hat den Anschein' oder 'Weiß hat positionellen Vorteil, aber ..." und so weiter. Der argentinische Großmeister Miguel Najdorf pflegte bei Zügen, die selbst ihm nicht ganz einleuchteten oder deren Hintersinn er nicht verstand, gerne mit erfinderischem Verstand zu sagen: "Das ist ein strategischer Zug." Die Zuschauer nickten gewichtig, blickten weiter fasziniert auf die Stellung und aalten sich schaurig-schön am Mysteriösen der Partie, bis die Entscheidung fiel. Erst hinterher, so ist es Brauch, versammeln sich die Kiebitze zum Spötteln, Kritteln und Bramarbasieren an den Analysebrettern. Ach, wie ist es herrlich, ein Zaungast zu sein. Beim heutigen Rätsel der Sphinx hätte selbst ein einigermaßen geölter Verstand kaum Schwierigkeiten, den schwarzen Mattweg vorauszusehen; bloß eine Fingerübung für den Verstand, Wanderer.



SCHACH-SPHINX/05606: Fingerübung für den Verstand (SB)

Gonzales - Bravo
Havanna 1995

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Jan Hein Donner schaute recht perplex, als sein Kontrahent Lothar Schmid ihm den Turm direkt vor die Nase seines Läufers stellte. Aber 1.Td1-d7! traf in der Tat den wunden Punkt. Zu nehmen war der Turm nämlich nicht. Nach 1...Le8xd7 2.e6xd7 Dc8-d8 3.Dc6-e6+ Kg8-h8 4.Sc4- e5 wäre alle Hoffnung verloren gewesen, aber auch nach 1...Le7-f6 ging es rasch bergab: 2.e6-e7! Lc8xd7 - 2...Tf8-f7 3.Td7-d8! oder 2...Lf6xe7 3.Td7xe7! - 3.e7xf8D+ Kg8xf8 4.Dc6xc5+ Kf8-g8 5.Lb2xf6 g7xf6 6.Tf1xf4 und gegen den gesunden Mehrbauern war nicht gegenanzukommen.


Erstveröffentlichung am 12. Oktober 2002

23. September 2015


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