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REZENSION/018: Justus Bargsten - Italienische Eröffnung für Weiß (SB)


Justus Bargsten


Italienische Eröffnung für Weiß

Planfindung und strategisches Verständnis



Kurz gesagt: Die Italienische Eröffnung ist eines der ältesten Spielsysteme in der Schachgeschichte und trägt auf ihrem Buckel mindestens fünf Jahrhunderte. Trotz dieser langen Zeitspanne und den vielen Wandlungen in der Turnierlandschaft hat sie ihren Reiz bis auf den heutigen Tag in Literatur und Praxis nicht verloren. Ihre Abspiele und Varianten mit aller gebotenen Akribie zu erforschen, stellte für die Herren Theoretiker eine echte Herausforderung dar, und dies galt nicht weniger für die Schwarzspieler in den Turnierhallen, die verständlicherweise bemüht waren, das wilde Temperament im Italiener zu bändigen. In der Hand eines Taktikers war sie immer schon ein gefährlicher Degen gewesen. Wer mit Weiß italienisch spielte, wollte den Gegner quasi überfallartig überrennen. Oft opfert Weiß frühzeitig einen Bauern, um die Figurenmobilisierung zu beschleunigen mit dem Ziel, die notwendigen Angriffsstraßen zum schwarzen König so schnell als möglich freizumachen.

So hat die Italienische Partie auf taktischem Gebiet eine Fülle kombinatorischer Motive und Möglichkeiten aufgedeckt, denen das Schachspiel mit Blick auf das dynamisch-kreative Element viele wertvolle Impulse und Innovationen zu verdanken hat. Doch wie die meisten Systeme mit ungezügeltem Gambitcharakter von der Analyse irgendwann entzaubert wurden, verlor auch das Italienische allmählich seine Überzeugungskraft auf dem Brett. Ein waghalsiger Angriff ist immer nur so stark und gefährlich, wie die Gegenseite die Widerlegung nicht findet. Ist der Code einmal geknackt, fällt die Abenteuerlust auf Weiß zurück. Und so musste das Italienische seinen prominenten Platz auf den Turnieren an die allzumal solide, von der Anlage her risikoärmere Spanische Partie abtreten, deren strategische Konzepte besser zum modernen Positionsspiel passten. Spanisch verbürgt Weiß eine zwar geringe, dafür aber nachhaltige Initiative.

Bedenkt man das dichte Gezweig an Varianten und Abspielen, müsste jedes fundierte Werk über die Italienische Eröffnung, will es denn mehr sein als ein schmales Kompendium, einen enzyklopädischen Umfang aufweisen. Das Erstlingswerk von Justus Bargsten geizt jedoch in dieser Hinsicht mit der Seitenzahl. Italienisch auf 73 Seiten? Das ist ganz und gar unmöglich!

Das Privileg der Höflichkeit ist es, die berufsmäßigen Stürme der Kritik gerade dann in achtsame Worte zu kleiden, wenn für den Harnisch kein Vorwand zum Krieg besteht und die investierte Mühe die kleinen Fehler am Rande überwiegt. Dass Anlass und Anspruch nicht mit dem zu erwartenden Ergebnis zusammenfallen, lässt sich unterdessen leicht erklären. Justus Bargsten, ein junger Klubspieler aus Niedersachsen, der seiner Leidenschaft fürs Königliche Spiel folgte, als er zur Tinte griff und die Recherchen seiner Arbeit und Analyse in Buchform brachte, hatte, anders als der Buchtitel es vermuten lässt, gar nicht die Absicht, ein Gesamtwerk über die Italienische Eröffnung zu schreiben. Ihm ging es in erster Linie darum, zwei in der modernen Schach- und Turnierwelt in letzter Zeit prosperierende Varianten aus dem italienischen Komplex des Giuoco pianissimo für Leser mit einer Spielstärke von 1800-2000 DWZ in systematischer und verständlicher Form aufzubereiten.

Das Italienische ist zwar berühmt für sein abenteuerliches Vorpreschen und frühes Spiel aufs Matt, es verwahrt in seiner Schatztruhe jedoch auch ruhige Abspiele, die einem positionellen Leitfaden folgen, um den Gegner mit planvollem Spiel und strategischen Manövern schließlich in die Zange zu nehmen. Dieses Merkmal eines besonnenen Vorgehens war in der Italienischen Partie immer schon vorhanden gewesen, wurde jedoch vom Trommelwirbel der wilden Varianten lange Zeit überschattet. In den 1970er und 1980er Jahren erlebte das "sehr ruhige Spiel", wie sich der italienische Ausdruck Giuoco pianissimo übersetzen lässt, eine gewisse Konjunktur, als der englische Großmeister John Nunn und verschiedene junge sowjetische Spieler es mit einer Reihe neuer strategischer Grundideen aufluden und zu einer Turnierwaffe für Weiß schmiedeten.

Beim Weltmeisterschaftskampf 2021 setzte der russische Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi zur Überraschung der Fachwelt das ruhige italienische Abspiel in der letzten Wettkampfpartie gegen den norwegischen Titelverteidiger Magnus Carlsen ein, nachdem er zuvor im Anzug mit der Spanischen Partie immer wieder auf Granit gestoßen war. Der Russe verlor die Partie zwar, aber das Italienische hatte wieder auf höchstem Niveau Anwendung gefunden. Zuvor spielten die Meister das ruhige Spiel gerne im Blitz oder Bullet, um den Gegner zu überraschen, der mit den Feinheiten dieses Aufbaus vielleicht weniger vertraut war.

Als wichtiger Impulsgeber zur Popularisierung gilt der niederländische Starspieler Anish Giri, der mit Italienisch viele Erfolge feierte und dazu beigetragen hat, dieses bis dahin eher auf Vereinsebene praktizierte System auch auf den großen internationalen Turnieren salonfähig zu machen. In der Folge griffen Top-Großmeister wie Sergey Karjakin, Wesley So und Fabiano Caruana auf dieses nur scheinbar harmlose Eröffnungssystem zurück, einerseits, um die ausgetretenen Pfade der Spanischen Partie zu vermeiden, und andererseits, weil die strenge Logik im Aufbau ihrem eigenen positionellen Grundverständnis entsprach.

Strenggenommen ist die moderne Italienische Partie ein Resultat der Engines. Vor allem die jüngeren Elitespieler, die mit Schachprogrammen geradezu aufgewachsen sind, vertrauen in der Vorbereitung auf ein Turnier der Rechenkraft ihrer Denkmaschinen. So streben sie in der Regel Stellungen an, die nahezu ausgeglichen sind, taktische Überraschungen auf ein Minimum reduzieren und wo jeder Fortschritt auf dem Brett mit der Kenntnis der positionellen Feinheiten korreliert, die in der Heimanalyse vor dem Computer bis weit ins Mittelspiel ausgetüftelt werden. Ein Remis ist bequem zu erreichen, was im vorherrschenden Turnierbetrieb eine hohe Bedeutung hat, aber da sie praktisch in ihren eigenen Stellungen spielen, können sie ihre Gegner gezielt zermartern und immer wieder vor neue Herausforderungen stellen, um etwaige Ungenauigkeiten zu provozieren und so vielleicht doch noch einen Sieg herauszuarbeiten. Großmeisterschach ist in den modernen Zeiten oft computergeneriert.

Justus Bargsten hat sich in seinem Buch auf zwei Varianten aus diesem Komplex kapriziert, die in der Turnierwelt häufig vorkommen. Die von ihm erstellte Systematik soll es Klubspielern und Amateuren leicht machen, gegen die von Schwarz gewählte Zugfolge die speziellen strategischen Pläne und Manöver anzuwenden, die Weiß auf lange Sicht Initiative und Vorteil versprechen. Das positionelle Primärziel besteht darin, das schwarze Gegenspiel frühzeitig einzudämmen oder weitgehend zu eliminieren, bevor Weiß seine eigenen Trümpfe ausspielt. Dabei ist es laut Autor ungemein wichtig, ob Schwarz einen Aufbau mit a7-a6 oder a7-a5 wählt. Je nachdem verlegt Weiß sein Spiel entweder auf den Damenflügel, wo er Raumgewinn und Bauerndurchbrüche anstrebt, oder ins Zentrum und auf den Königsflügel, um nachhaltige Drohungen gegen den schwarzen König zu initiieren.

Bargstens Systematik bedient sich vorzugsweise signifikanter Beispielpartien aus der Großmeisterpraxis. Diese Partien werden auf ihren strategischen Inhalt überprüft und vom Autor zu einem Kanon von Regeln zusammengefasst, auf die zu achten ist. Das wirkt auf den ersten Blick ziemlich schematisch und formalisierend, bietet darüber jedoch die Chance, wie es im Untertitel heißt, Planfindung und strategisches Verständnis bei engagierten Hobby- und Klubspielern auf ein höheres Niveau zu heben. Der Leser versteht, wann und warum ein prophylaktischer Zug wie h2-h3 oder a2-a4 zu erfolgen hat, welche Manöver am erfolgversprechendsten sind und wie einem schwarzen Gegenspiel am sinnvollsten vorgebeugt werden kann. Bargsten will dem Leser, wie er selbst einräumt, kein vollständiges Repertoire bieten, seine Arbeit dient vielmehr dazu, "die Ideen der entstehenden Mittelspielstellungen zu erläutern" (S. 6).

Auf die Feinheiten und die exakte Reihenfolge der Züge und Motive kommt es in jeder Eröffnung an. Das ist hier nicht anders als beim Spanier oder Sizilianer, und so hat die Systematik im Buch durchaus ihren Wert beim Aufdecken der Pläne hinter den einzelnen Zügen, die nie für sich allein stehen und stets eingebunden sind in eine langfristige Strategie. Bargstens Erstlingswerk ist in diesem Sinne ein hilfreicher und unerlässlicher Ratgeber, wenn man tiefer in die Geheimnisse moderner Eröffnungen und das strategische Denken der Großmeister vordringen will.

Dass die ausgewählten Partien mit der Ausnahme eines einzelnen Remis mit Weißsiegen enden, ließe sich als kleiner Schönheitsfehler in einem sonst gelungenen Werk anmerken. Angesichts der Kompaktheit der Motive und Manöver, mit denen Weiß dieser ruhigen Variante im Italiener neues Leben einhaucht, erscheint dieser Kritikpunkt jedoch unerheblich und gering. Nur sollte der Leser wissen, dass die Großmeisterpraxis immer einen dynamischen Prozess darstellt, wo jeder Hieb seine Parade findet und die Stöße der Erkenntnis stets vorwärts drängen.

26. September 2022

Justus Bargsten
Italienische Eröffnung für Weiß
Planfindung und strategisches Verständnis
Joachim Beyer Verlag 2022
73 Seiten, 14,80 EUR
ISBN 978-3-95920-169-8


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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