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BERICHT/055: Geschichte & Gegenwart der Migration (MünchnerUni Magazin)


MünchnerUni Magazin 03/2009
Zeitschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München

Geschichte & Gegenwart der Migration
Ein forschendes Ausstellungsprojekt

Von Julia Zahlten


Sie kramen alte Pappschachteln unter fremden Betten hervor, suchen auf staubigen Dachböden nach Spuren der Vergangenheit oder fahren mit dem Linienbus in den Kosovo - die Feldforschungen zum Ausstellungsprojekt "Crossing Munich" erforderten von den Studierenden besondere Methoden. "Unsere Forschungen gehen nicht von der Theorie aus, sondern von einer unaufgeregten Alltagswelt", erklärt Dr. Sabine Hess vom Institut für Volkskunde/ Europäische Ethnologie. "Uns war es wichtig herauszufinden, wie die Migranten hierzulande mit den Bedingungen umgehen, welche Initiativen sie entwickeln - und dafür suchen wir in unserer Ausstellung nach einer passenden visuellen Form."


1955 unterschrieb die Bundesrepublik Deutschland das erste Anwerbeabkommen für Gastarbeiter mit Italien. Über 50 Jahre später entstand in München das Projekt "Crossing Munich": 19 Studierende, drei Doktoranden und 16 Künstler schaffen eine neue Perspektive auf die Migration und hinterfragen gängige Bilder, Meinungen und Deutungsmuster. Sabine Hess ist Projektleiterin von Crossing Munich: "Wir wollen die Geschichte der Migration und ihre Gegenwart im Herzen von München sichtbar machen und zu einem Teil der Stadt werden lassen." Das Projekt ist eine Kooperation des Kulturreferats München mit dem Institut für Ethnologie, dem Institut für Volkskunde/ Europäische Ethnologie sowie dem Historischen Seminar der LMU. Seinen Anfang nahm dieses außergewöhnliche Lernforschungsprojekt im Wintersemester 2007/08 in einem Seminar zu Migrationsausstellungen, es folgten Unterrichtseinheiten zur Migrationstheorie, praxisangeleiteter Forschung sowie historisch-kulturellen Methoden. Drei Semester später begann die gemeinsame Arbeit mit den Künstlern. Manuela Unverdorben ist eine von ihnen. Das Teilprojekt "Grauer Verkehr", das sich vor allem mit grenzüberschreitender Mobilität zwischen München und Südeuropa beschäftigt, fand sie von Anfang an spannend und reizvoll: "Als die beiden Studentinnen mir beim ersten Treffen ihre dicken Forschungsbücher übergeben haben, hatte ich ziemlich schnell die Idee, dass das Ausstellungsobjekt die Fragilität und auch die temporären Strukturen der Mobilität sichtbar machen muss." Michaela Rohmann, Studentin der Ethnologie im neunten Semester, hatte für dieses Projekt mit ihrer Kommilitonin Feldforschung betrieben: Zu festen Zeiten beobachteten sie den Busbahnhof in der Hansastraße. "Wir haben Skizzen und Notizen gemacht, wie die Bewegung auf dem Platz aussieht, wie viele Busse dort sind, welchen Gespräche dort geführt werden, wohin die Menschen reisen. Am Anfang waren die Leute dort sehr skeptisch, weil wir immer mit Zettel und Stift am Rand standen und alles festgehalten haben", erinnert sich Michaela Rohmann. Die beiden Studentinnen sind sogar einmal mit einem der Busse in den Kosovo gefahren: "Wir sind dann auf der 21-stündigen Fahrt mit den Leuten ins Gespräch gekommen. Eine Familie, die wir kennen gelernt haben, hat uns sogar eingeladen, bei Ihnen zu übernachten. Darauf hatten wir ehrlich gesagt ein bisschen gehofft, denn wir hatten keine Unterkunft für die Nacht im Kosovo. Erst am nächsten Tag ging ein Bus zurück nach München."

Die Projektteilnehmer machten erstmals Erfahrungen damit, wie schwierig es ist, Forschungsergebnisse in einer Ausstellung angemessen zu visualisieren. Die vielen Fotos, Texte, Interviews, Zeitzeugenberichte oder Zeitungsartikel müssen gesichtet, vor allem aber ausgewählt und gewichtet werden. Simon Goeke, Doktorand der Neueren und Neusten Geschichte, hat in seinem Projekt "Migrantische Kämpfe - Kämpfe der Migration" genau damit gekämpft: "Es tat nach der ganzen Forschungsarbeit schon ein bisschen weh, das Wissen, das ich in zahlreichen Ordnern gesammelt hatte, so herunterzubrechen, dass man das Wichtigste in einem Kunstwerk vermitteln kann, aber trotzdem nicht die Dinge verfälscht", erzählt er. Er sei jetzt aber sehr zufrieden mit der Umsetzung und der Fokussierung. "Das Wichtigste ist, dass durch die Installationen in der Ausstellung die oft komplizierte Denkweise der Wissenschaft für jeden verständlicher wird." Da er seine Doktorarbeit zu diesem Thema schreiben wird, werden alle seine Forschungsergebnisse aber doch noch zum Einsatz kommen. Denn Dr. Sabine Hess betont: "Alle Arbeiten, die in die Ausstellung einfließen, basieren auf neuen wissenschaftlichen Ansätzen. Simon Goeke zum Beispiel stellt mit seinen Ergebnissen die bisherigen Theorien zu dem Thema völlig auf den Kopf." Der Doktorand erläutert: "Bisher ist man in den Geschichtswissenschaften einem Ansatz gefolgt, der besagt, dass die Migranten als Gastarbeiter nach Deutschland kamen und kein Interesse daran hatten, die BRD und die hiesigen Kulturen mitzuformen. Meine Forschungsergebnisse widerlegen diese Annahme ganz klar - Migranten haben immer wieder versucht, Mitgestaltungsspielraum zu bekommen."

Ausstellungen und Arbeiten zur Migration in Deutschland gibt es viele. Crossing Munich bringt aber nicht nur neue, noch nicht erzählte Aspekte in die Ausstellung, sondern versucht dabei auch eine neue Sichtweise einzunehmen - nämlich die der Migranten. "Damit bewegen wir uns gleichsam zwischen den Gegensatzpaaren, Migration entweder als Bereicherung oder als Bedrohung darzustellen, wie es bisher geschah", erklärt Sabine Hess. "Unser Interesse war es vielmehr, die Lebensverhältnisse der Migranten, ihr Handeln, Denken, ihre Forderungen - man könnte sagen: ihre Versuche der Selbsteingliederung trotz widriger Verhältnisse - in den Mittelpunkt zu stellen. Wir führten Gespräche mit der ersten Generation der Gastarbeiter und sie gaben uns Einblicke in ihre eigenen mittlerweile leicht verstaubten Archive, für die sich bisher niemand interessiert hatte." Obwohl es in München seit über 50 Jahren Migranten gibt, die das Stadtbild maßgeblich mitgeprägt haben, gibt es kein offizielles Archiv, das Material zu Migration in München sammelt. Dennis Odukoya, Student der Ethnologie im achten Semester, fand gerade das an dem außergewöhnlichen Projekt spannend: "Als Ethnologe hat es mich total begeistert, dass ich nicht in Archive gegangen bin oder andere Wissenschaftler zitiert habe, sondern dass ich Briefe und Fotos aus verstaubten Kisten nutzen konnte - ich hatte Quellen in der Hand, mit denen noch niemand gearbeitet hat."


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Quelle:
MünchnerUni Magazin 03/2009, Seite 12-13
Herausgeber: Präsidium der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2009