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FORSCHUNG/164: Big Data und Nudging - Kommt der digitale Überwachungsstaat? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 158/Dezember 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Big Data und Nudging
Kommt der digitale Überwachungsstaat?

von Florian Irgmaier und Lena Ulbricht


Kurz gefasst: Nudging erfolgt immer öfter auf der Grundlage von Big-Data-Analysen. Diese Verbindung weckt sowohl in der journalistischen als auch in der wissenschaftlichen Debatte große Befürchtungen. Differenzierte Untersuchungen über konkrete Anwendungen fehlen jedoch weitgehend. Big Data und Nudging lässt sich, wie andere Formen gesellschaftlicher Koordination, als Kombination von "Sehen" und "Lenken" begreifen. Am Beispiel von intelligenten Stromzählern zeigen wir, wie datengestützte Beobachtung und subtile Beeinflussung ineinander greifen, was daran neu ist und welche normativen Fragen dies aufwirft.


Zurzeit verschränken sich zwei Entwicklungen, die je für sich genommen das Potenzial haben, das individuelle und soziale Leben in modernen Gesellschaften deutlich zu verändern. Einerseits haben die Verhaltenswissenschaften und andere Disziplinen das Instrumentarium erweitert, mit dem sich das Verhalten von Menschen beeinflussen lässt: Methoden des Nudging sind in aller Munde. Auf der anderen Seite verspricht die Verbreitung informationstechnischer Systeme Innovationen in der Sammlung und Auswertung von Daten, die neues, detailliertes Wissen über Individuen, Gruppen und Gesellschaften schaffen. Zumeist wird den Ergebnissen solcher automatisierter Big-Data-Analysen ein hohes Maß an Objektivität, Repräsentativität und Vorhersagekraft zugeschrieben. Die Schnittpunkte von Big Data und Nudging rücken seit einiger Zeit verstärkt ins Blickfeld öffentlicher Debatten. Besonderes Interesse gilt der Möglichkeit, Nudges für einzelne Gruppen oder Individuen maßzuschneidern und sie im zeitlichen Verlauf beständig anzupassen. Nudgr zum Beispiel ist ein Instrument, das Kunden und Kundinnen möglichst lange auf den Webseiten von Online-Shops halten soll. Zu diesem Zweck werden verschiedene Nutzerdaten erfasst, etwa die Bewegung der Maus über das Browserfenster, und durch lernende Algorithmen ausgewertet. Deuten diese Daten darauf hin, dass eine Kundin die Seite mit großer Wahrscheinlichkeit in Kürze verlassen wird, aktiviert Nudgr ein Pop-Up-Fenster, das die Kundin zum Beispiel mit einem Rabatt dazu animieren soll, weiterhin auf der Seite zu verbleiben und doch noch etwas zu kaufen. Statt allen Kund/-innen einen Rabatt anzubieten - also auch denjenigen, die den regulären Preis zu zahlen bereit wären -, lockt Nudgr nur jene Personen, die ansonsten gar keine Einnahmen generieren würden.

Die zunehmende Verschränkung von Big Data und Nudging weckt große Befürchtungen. Der Journalist und Autor Sascha Lobo bezeichnete die Kombination von Nudging und Big Data jüngst als "bedenkliches Gemisch", "Amalgam der Bevormundung" und "Gängelungsinstrument des digitalen Alltags". Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist von einseitigen und dabei wenig konkreten Schreckensvisionen geprägt. Beispielsweise entwirft Shoshana Zuboff mit ihrem Konzept des "Überwachungskapitalismus" ein Szenario, in dem Menschen nicht mehr kognitiv angesprochen, sondern nur noch stimuliert werden und jegliche Autonomie einbüßen. Ihr zufolge könnte Google anderen Firmen oder staatlichen Akteuren die Möglichkeit verkaufen, unsere Kühlschränke zu verschließen, wenn wir zu viel Eiscreme essen. Dirk Helbing und Koautoren sehen gar ein "totalitäres Regime mit rosarotem Anstrich" voraus. Solche Generalisierungen erschweren die Diskussion darüber, welche konkreten Kombinationen von Big Data und Nudging akzeptabel sind und welche nicht.

In welchen Bereichen, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen Big Data und Nudging tatsächlich verknüpft werden, bleibt zu untersuchen. Dabei gilt es, viele Fragen zu beantworten: Woher stammen die Daten, auf deren Grundlage Verhalten beeinflusst wird, und wie werden sie ausgewertet? Wer setzt die Instrumente ein - und zu welchen Zwecken? Wie genau wird das Verhalten der betroffenen Personen beeinflusst, das heißt, welche kognitiven Mechanismen machen sich einzelne Beeinflussungsversuche zunutze, und wie erfolgreich sind sie? Wieviel Autonomie verbleibt Individuen, und welche Folgen hat die Beeinflussung für sie? Antworten auf diese und weitere Fragen sind unerlässlich, wenn Gesellschaften ein gut begründetes Urteil darüber fällen wollen, welche Formen der Verhaltensbeeinflussung im Einklang mit ihren Werten stehen und welche nicht.

Für die wissenschaftliche Analyse alltagsnaher Beispiele schlagen wir einen begrifflichen Rahmen vor. Wir betrachten die Verbindung von Big Data und Nudging als eine spezifische Form des Sehens und des Lenkens. Die Analyseverfahren, die zurzeit unter der Bezeichnung Big Data firmieren, stellen eine bestimmte Art und Weise dar, sich ein Bild von Gesellschaften oder einzelnen Teilausschnitten zu machen - zu "sehen". Bei Nudges wiederum handelt es sich um einen spezifischen Typus von Instrumenten, mit denen Menschen "gelenkt" werden sollen. Diese Betrachtungsweise schärft den Blick dafür, was an der Kombination von Big Data und Nudging tatsächlich neu ist. Denn Sehen und Lenken an sich sind keine Erscheinungen des 21. Jahrhunderts. Mit diesem Begriffspaar lassen sich alle möglichen historischen wie zeitgenössischen Formen gesellschaftlicher Koordination beschreiben. Philipp Sarasins Untersuchung über die tayloristische Betriebsführung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt zum Beispiel, wie wissenschaftliche Beschreibungen des menschlichen Körpers als einer Maschine zu Managementpraktiken führen, die diese "Maschinen" maximal effizient nutzen sollen. Je nachdem, wie ein bestimmtes Phänomen gesehen wird, variieren also auch die Arten, mit denen man versucht, es zu lenken.

Was ist nun die spezifische Ausprägung von Sehen und Lenken im digitalen Zeitalter? Ein Beispiel, das die automatisierte Sammlung und Auswertung großer Datenmengen mit der Beeinflussung von Verhalten verbindet, sind sogenannte Smart Meter, also intelligente Stromzähler, die mit Datennetzen verbunden sind und ihre Messdaten auf diese Weise direkt kommunizieren können. Ab 2020 wird ihr Einbau in Deutschland für viele Privathaushalte verpflichtend. Wie hängen im Fall der Smart Meter Sehen und Lenken zusammen? Mit Blick auf das Sehen kann man feststellen, dass Smart Meter umfangreiche Daten über den Stromverbrauch in Haushalten in unbekanntem Ausmaß sammeln. Bislang wurde von Energieunternehmen nur der aggregierte Stromverbrauch eines Haushalts gemessen - und meist nur jährlich; mit Smart Meter lässt sich der Verbrauch jedes einzelnen Geräts feststellen - und zwar mehrmals täglich. Diese Detailschärfe erlaubt Schlüsse, die weit über den Stromverbrauch hinausgehen: über Verhalten, Lebensstil und soziale Netze der Personen in den betreffenden Haushalten. Gerade im Aggregat von ganzen Gebäudekomplexen, Stadtteilen und gar Regionen können Daten über den Stromverbrauch große Aussagekraft entfalten, besonders dann, wenn sie mit weiteren Informationen kombiniert werden. Smart Meter legen somit prinzipiell die Grundlage für Big-Data-Analysen, eine Form des Sehens, die besonders akkurate und zeitnahe Abbilder von Personen verspricht.

Wie werden diese Daten für das Lenken, also zur Verhaltensbeeinflussung genutzt? In Großbritannien, wo mehrere Millionen Smart Meter in Privathaushalten angeschlossen sind, werden bereits konkrete Vorschläge entwickelt und erprobt. Meist ist das primär genannte Ziel, Strom zu sparen. Ein Vorschlag ist, den Nutzern und Nutzerinnen anzuzeigen, wie hoch ihr eigener Energieverbrauch im Vergleich zu anderen ist. Eine ähnliche Überlegung sieht vor, Nutzerinnen und Nutzer dazu anzuhalten, ihre Verbrauchsdaten in sozialen Netzwerken zu teilen und somit einen Energiesparwettbewerb auszulösen. Beide Versuche, den Energieverbrauch zu senken, machen sich den Umstand zunutze, dass Menschen sich in ihrem Handeln an anderen orientieren. Individuelle Entscheidungen zum Stromverbrauch werden also, und das ist neu, in einen Kontext des gesellschaftlichen Vergleichs gebracht. Neu ist zudem, dass Datenanalyse-Unternehmen wie ONZO Energieanbieter darin unterstützen, Haushalten nicht die gleichen, sondern vielmehr maßgeschneiderte Formate vorzuschlagen. Bei jedem wirkt etwas anderes: Die einen reagieren stärker auf Informationen über den Stromverbrauch der Nachbarn und Freunde, die anderen vielleicht auf regelmäßige Aufforderungen, wieder andere profitieren von Geräten, die sich regelmäßig abschalten. All diese Maßnahmen kommen ohne Zwang aus. Energieunternehmen profitieren zwar nicht unmittelbar von geringerem Stromverbrauch, sehen in entsprechenden Maßnahmen jedoch eine Strategie der Kundenbindung. Insofern Daten über den Stromverbrauch eines Haushalts dafür genutzt werden, um diesen erfolgreich zum Stromsparen zu animieren, können die jeweiligen Unternehmen durchaus mit der wohlüberlegten Zustimmung ihrer Kunden rechnen - sowohl aus finanziellem Eigeninteresse als auch aus ökologischem Verantwortungsbewusstsein. Zugleich muss man darauf achten, dass diese Maßnahmen, selbst wenn sie Verbrauchern und dem Klima nützen, ihren Adressaten genügend Autonomie gewähren. Dies kann etwa sichergestellt werden, indem Verbraucherinnen und Verbraucher über entsprechende Prozesse in sinnvoller und verständlicher Weise informiert werden.

Dennoch bergen Smart Meter Gefahren für Grundrechte und Demokratien, wenn nämlich andere Lenkungszwecke verfolgt werden: Die durch Smart Meter gesammelten Daten sind nur zum Teil durch das Ziel des Stromsparens motiviert. Der zweite Verwendungszweck von Smart Meter ist das Geschäft mit den Verbraucherdaten. Energieunternehmen besitzen bereits umfassende Daten über ihre Kunden; durch Smart Meter werden diese noch detaillierter, leichter zugänglich und in der Folge für weitere Lenkungszwecke entdeckt. Sie werden etwa als Grundlage für datenbasierte Geschäftsmodelle gesehen. So hat zum Beispiel RWE eine Tochter gegründet (Innogy), die sich auf datengetriebene Innovationen konzentriert. Ein Vorbild ist das britische Unternehmen ONZO, das auf der Grundlage von Smart-Meter-Daten Haushaltsprofile errechnet, die wiederum für Werbezwecke genutzt werden sollen: Ein Haushalt etwa, in dem viel geduscht wird, ist empfänglicher für Shampoowerbung. Eine weitere Ebene des Lenkens ist schließlich dort erreicht, wo Smart Meter nicht nur als Datenlieferanten, sondern sogar selbst als Lenkungsinstrumente eingesetzt werden. Sie erlauben etwa eine Fernwartung, aber auch ein Abschalten des Stroms aus der Ferne. (Letzteres ist allerdings nicht mehr Nudging, sondern überschreitet die Schwelle zum Zwang.)

Aus Sorge, Smart Meter könnten für die Überwachung von Haushalten missbraucht werden, sei es durch staatliche Behörden oder durch Unternehmen, haben Verbraucher- und Datenschützer in Frankreich Proteste und eine Verbandsklage gegen die Einführung der intelligenten Stromzähler organisiert.

Wenn wir die Zusammenführung von Sehen durch Big Data und Lenken durch Nudging bewerten wollen, bedarf es stärkerer Nuancierung und wissenschaftlicher Evidenz. Im Fall der Smart Meter etwa ist zum einen bedeutend, ob die Verhaltensprofile, die durch Smart Meter erstellt werden, die Zustimmung von Betroffenen und Verbraucherverbänden erhalten. Wichtig ist auch die Frage, ob sie überhaupt zutreffend sind. Zum anderen muss man differenzieren, für welche Zwecke diese Informationen eingesetzt werden: Um Nutzern unter Wahrung ihrer Autonomie das Stromsparen zu erleichtern? Oder um ihre Neigungen und Umstände für kommerzielles Marketing auszunutzen? Die Grenzen zwischen beiden Zwecken sind allerdings fließend, wenn man bedenkt, dass Stromsparempfehlungen nicht selten den Kauf eines neuen, energieeffizienteren Geräts beinhalten.

Rechtliche Regulierung bietet die Möglichkeit, nützliche Formen datengestützter Verhaltensbeeinflussung zu fördern und potenziell schädliche Anwendungen auszuschließen. In jedem Fall benötigen wir nüchterne und detaillierte Analysen der verschiedenen Varianten von Big Data und Nudging, wenn wir die neuen technischen Möglichkeiten so nutzen wollen, dass sie die individuelle und die kollektive Selbstbestimmung fördern und nicht untergraben. Solche Analysen bilden einen Schwerpunkt der künftigen Arbeit des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft, an dem das WZB maßgeblich beteiligt ist.


Florian Irgmaier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im neu gegründeten Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. In der Forschungsgruppe "Quantifizierung und gesellschaftliche Regulierung" arbeitet er unter anderem zu Regulierungspraktiken, die verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse mit der automatisierten Auswertung von Daten verbinden.
florian.irgmaier@wzb.eu

Lena Ulbricht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im neu gegründeten Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. In der Forschungsgruppe "Quantifizierung und gesellschaftliche Regulierung" befasst sie sich unter anderem mit dem Einsatz neuer Technologien für Regulierungszwecke. lena.ulbricht@wzb.eu


Literatur

Helbing, Dirk/Frey, Bruno S./Gigerenzer, Gerd/ Hafen, Ernst/Hagner, Michael/Hofstetter, Yvonne/ van den Hoven, Jeroen/Zicari, Roberto V./Zwitter, Andrej:
"Digitale Demokratie statt Datendiktatur". In: Carsten Könneker (Hg.): Unsere digitale Zukunft. Berlin/Heidelberg: Springer 2017, 3-21.

Lobo, Sascha:
"Nudging: Du willst es doch auch. Oder?" In: Spiegel Online, 11. Oktober 2017. Online:

www.spiegel.de/netzwelt/web/nudging-sascha-lobo-ueber-das-prinzip-nudging-im-digitalen-zeitalter-a-1172423.html (Stand 27.11.2017).

Sarasin, Philipp:
"Die Rationalisierung des Körpers. Über 'Scientific Management' und 'biologische Rationalisierung'". In: Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 61-99.

Zuboff, Shoshana:
"Big Other: Surveillance Capitalism and the Prospects of an Information Civilization". In: Journal of Information Technology, 2015, Jg. 30, H. 1, S. 75-89.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 158, Dezember 2017, Seite 15-17
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2018

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