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BERICHT/014: Das Fundament des Wissens (research*eu)


research*eu - Sonderausgabe Juni 2007
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Das Fundament des Wissens

Von François Rebufat


Interaktivität und Emotionen sind die Grundsteine mit denen Jorge Wagensberg, Direktor des Wissenschaftsmuseums der La-Caixa-Stiftung in Barcelona, ein Universum errichtet, das die Freude am Verstehen und die Neugier auf weiteres Wissen weckt. Hier zählt das Leben, und die Wirklichkeit ist der beste Weg, sie zu verstehen.


RESEARCH*EU: Sie haben eine besondere Methode, das Publikum für die Wissenschaft zu interessieren?

JORGE WAGENSBERG: Ich gehe davon aus, dass Emotionen der erste Schritt zu einer wissenschaftlichen Fragestellung sind. Hierbei handelt es sich um einen zeitlich sehr präzisen und intensiven Reiz, der einen Dialog mit der Natur einleitet. Jeder kognitive Prozess beginnt mit einem Reiz. Auch die natürliche Auslese erfolgt übrigens auf diese Weise. Wenn eine Art keinen Hunger oder nicht das Bedürfnis zur Fortpflanzung verspürt, stirbt sie aus. Das Wissen ist vielleicht die letzte Bastion der natürlichen Auslese.

Es ist folglich unsere Aufgabe, diesen Wissensdurst aufrechtzuerhalten. Das Museum soll ihn stimulieren und nicht löschen. Es geht absolut nicht darum, Wissenschaft zu lehren, sondern Fragen aufzuwerfen. Indem wir Emotionen schaffen und die Neugier wecken, können wir einen Dialog zwischen dem Besucher und der Natur auslösen. Dann kommt das Verstehen. Ich nenne diesen Augenblick "die intellektuelle Freude". Das ist wieder eine Emotion, die jeder von uns ganz allein erlebt. Man kann nur dann lernen und sich bereichern, wenn man etwas selbst versteht. Das Museum soll dieses Bedürfnis nur wecken.

RESEARCH*EU: Im Gegensatz zu anderen Zentren, die auf eine virtuelle Realität zu setzen scheinen, werden in vielen Räumen von La Caixa reale Gegenstände ausgestellt. Die Wirklichkeit scheint Ihnen für die Darstellung der Wissenschaft unverzichtbar?

JORGE WAGENSBERG: Mir ist jeder schlechte reale Gegenstand lieber als die beste Kopie und ich möchte behaupten, dass ein Museum ein Raum der "konzentrierten Wirklichkeit" ist. Zu den Gegenständen gehören nämlich die Phänomene. Unsere Darstellung der Felswände zeigt beispielsweise die Gesteinsschichten und seismische Deformationen. Es sind echte Felsstücke. Eines davon weist eine Verwerfung auf, die sich im Laufe seiner geologischen Entstehungsgeschichte gebildet hat. Der Gegenstand - d. h. die Verwerfung - ist noch da, aber das Phänomen - also die Bildung der Verwerfung - ist nicht mehr zu sehen. Daher müssen wir auf museumswissenschaftliche Elemente wie beispielsweise Modelle oder Animationen zurückgreifen, um sie darzustellen. Hierbei handelt es sich also um eine Ergänzung, die aber auf keinen Fall die Wirklichkeit ersetzen kann. Außerdem ist es eine Frage des Respekts gegenüber dem Besucher, der sich nicht fragen sollte, ob das, was er sieht, nun echt ist oder nicht. Übrigens waren es Kinder, die mich darauf gebracht haben, wie wichtig es ist, die Wirklichkeit zu zeigen. Sie haben immer gefragt: "Und das da, ist das echt oder falsch?" Mir wurde bewusst, dass es hier keine Unklarheit geben darf, denn sonst geht das Vertrauen verloren und der ganze emotionelle und intellektuelle Vorgang beim Besucher wird unterbrochen.

RESEARCH*EU: Diese Wirklichkeit ist auch bei der Arbeit der Forscher von entscheidender Bedeutung...

JORGE WAGENSBERG: Absolut. Der Forscher beobachtet zuerst die Wirklichkeit und achtet darauf, dass er sie nicht verfälscht. Auf dieser Objektivierung beruht die Vielseitigkeit der Wissenschaft. Schließlich folgt die Intellektualisierung. Dabei sucht man zwischen den betrachteten Gegenständen nach Gemeinsamkeiten, vor allem aber auch nach Unterschieden. Die Gegenstände werden miteinander vergleichbar. Schließlich kommt die Theoretisierung, um ein Deutungsmodell - eine "Wahrheit" - aufzubauen. Aber diese "Wahrheit" ist stets ein Dialog mit der Wirklichkeit. Wenn sie wissenschaftlich sein will, muss sie sich von der Wirklichkeit widerlegen lassen können - es genügt, wenn die Natur ein wissenschaftlich bisher unbelegtes Beispiel liefert. Folglich ist es nicht die "wissenschaftliche Wahrheit", die sich durchsetzt, sondern die Wirklichkeit... Daher ist sie in einem Wissenschaftsmuseum unumgänglich.

Bei unserem Ansatz versuchen wir, dass der Besucher diesen Dialog, der für das wissenschaftliche Vorgehen unerlässlich ist, in gewisser Weise wiederfindet und sich so in die Lage des Forschers versetzen kann. Das ist natürlich auf Museumsebene sehr schwer zu verwirklichen. Wir haben ein Experiment durchgeführt, in dem wir einige unserer Forschungen vorgestellt und das Publikum zum Mitmachen eingeladen haben. Anhand der von uns bereitgestellten Informationen kann es seine eigene Theorie entwickeln und sie uns mitteilen.

RESEARCH*EU: Woran messen Sie den Erfolg Ihrer Initiativen? An der Besucherzahl?

JORGE WAGENSBERG: Quantitative Ansätze sind nicht die besten. Ich persönlich bevorzuge es, die Besucher zu beobachten. Alle meine neuen Hypothesen beruhen darauf. Wenn jemand intellektuelle Freude empfindet, glänzt sein Blick - und das sieht man. Ich verstecke mich, spioniere und höre zu, was die Leute am Ausgang und in den Gängen des Museums so sagen. Langsam kennen mich die Leute natürlich jetzt. Daher muss ich mich wohl verkleiden.

RESEARCH*EU: Ist man denn angesichts der kulturellen Konkurrenz nicht versucht, spektakuläre oder Modethemen zu behandeln, um mehr Besucher anzuziehen?

JORGE WAGENSBERG: Was verstehen Sie unter "Modethemen"? Wenn die globale Erderwärmung heute die Öffentlichkeit stark beschäftigt, müssen wir an diesem Thema arbeiten. Das Museum eignet sich hervorragend zur Darstellung der großen Herausforderungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Wir veranstalten regelmäßig Diskussionen und Treffen zu diesen Themen. Das Museum hat den Vorteil, ein neutraler Raum zu sein. Hier können Bürger, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker, Unternehmer usw. zusammenkommen. Außerdem lässt sich zwischen ihnen eine unbefangene Diskussion anregen.

RESEARCH*EU: Welchen Unterschied machen Sie zwischen Wissenschaftsmuseum und Wissenschaftszentrum?

JORGE WAGENSBERG: Ein Museum bezeichnet einen Ort, in dem starre Gegenstände aufbewahrt werden. Das Wissenschaftszentrum ist ein Museum der Phänomene. Es stimmt schon, dass der Ausdruck "Zentrum", besser zu meinem Konzept passt. Aber ich mag ihn nicht. Das hört sich an wie "Einkaufszentrum" oder "Geschäftszentrum"... Ich verwende daher das Wort "Museum", weil es edler ist, selbst wenn es nicht den Bruch zu den klassischen Einrichtungen zum Ausdruck bringt. Außerdem hat Museum den gleichen Wortstamm wie Muse oder Musik...

RESEARCH*EU: Möchten Sie bei Ihrer Darstellung der wissenschaftlichen Vorgehensweise auch deren Zweifel und Fehler zeigen?

JORGE WAGENSBERG: Die Wissenschaft ist nicht allmächtig und sie kontrolliert nicht alles. Natürlich möchten wir darlegen, dass Fehler der Vergangenheit Fehler in der Zukunft verhindern können und dass Fehler auch nützlich sind, denn sie sind außerdem eine treibende Kraft für Wissen. Abgesehen davon ist es nicht einfach, diesen Aspekt der Wissenschaften darzustellen. Die Erklärungen neben bestimmten Gegenständen, wie zum Beispiel den Fossilien, enthalten auch die ungeklärten Fragen, die hinsichtlich ihrer Identifizierung noch bestehen.Wir haben keine Angst vor Fragezeichen. Abstraktere Konzepte, wie die Unsicherheit und die Ordnung, werden dargestellt. Die Ordnung wird beispielsweise als Ausnahme gezeigt und das Gleichgewicht ist ein Sonderfall. Es wird gezeigt, dass der Quantenphysik und der biologischen Entwicklung die Unsicherheit zugrunde liegt. Vielleicht lassen sich mit diesem Konzept die komplexen Wege der Wissenschaft gegenüber der Natur aufzeigen.


Informationen:
http://obrasocial.lacaixa.es/centros/cosmoscaixabcn_es.html/

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Dieser riesige Baumstamm symbolisiert die kulturelle Interaktion des Museums mit der Stadt Barcelona. Die natürlichen Öffnungen um ihn herum erinnern an die Architektur Gaudis.

> Ein foucaultsches Pendel schwingt hin und her und verschiebt sich je nach der Uhrzeit. Es ist von einem Kreis mit Stäbchen umgeben, die es alle 10 Minuten umstößt. Auf diese Weise wird der Zusammenhang zwischen der Erdbewegung und der vergangenen Zeit veranschaulicht.

> Von außen kann man in das tropische Gewächshaus hineinsehen. Um es zu untersuchen, kann man es aber auch betreten oder darunter hergehen. Die Betrachtung der Natur aus verschiedenen Blickwinkeln wird von interaktiven Effekten begleitet - wie z. B. der Simulation tropischen Regens, der ausgelöst wird, wenn die Besucher vorübergehen.


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Quelle:
research*eu - Sonderausgabe Juni 2007, Seite 12-13
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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GD Forschung der Europäischen Kommission
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auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2007