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BERICHT/021: Spickzettel-Sammlung - Unsichtbar für Lehreraugen? (Uni Erlangen)


uni.kurier.magazin - 109/September 2008
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Unsichtbar für Lehreraugen?
Spickzettel aus acht Jahrzehnten in der Schulgeschichtlichen Sammlung der Universität

Von Mathias Rösch


"Mini, mikro, nano, null" - diese Begriffe haben auch im schulischen Kontext eine besondere Bedeutung. Wer den Mikrokosmos der schulischen Subkultur näher betrachtet, stößt auf ein Phänomen, dessen Akteure es sich zum Ziel gesetzt haben, mini, mikro, am besten unsichtbar zu agieren. Es handelt sich um den Spickzettel, den verbotenen Nothelfer für Prüfungssituationen. Vermutlich ist dieser Versuch, eigene Lerndefizite oder Prüfungsängste zu kompensieren, so alt wie die Schule selbst. Belege in Form von beschrifteten Tonscherben liegen aus dem schulischen Kontext bereits im antiken Rom vor. Möglicherweise greift bereits der Begriff auf das lateinische Ursprungswort "spicere" zurück, das "sehen", "schauen" bedeutet. Mit der beginnenden Massenproduktion von Papier seit dem Spätmittelalter dürfte auch die Verbreitung des Spickzettels gewachsen sein. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfassen zeitgenössische Lexika erstmals das Wort "Spicken" im Zusammenhang mit der Schule.


Eine Sammlung mit internationaler Bedeutung

Spickzettel binden intensive und persönliche Erinnerungen an die eigene Schulzeit und die damit verbundenen Gefühle, Entscheidungen, Erfolge und Misserfolge. Spickzettel wecken in der Regel starke öffentliche Aufmerksamkeit und inspirieren kontinuierlich mediales Interesse. Und doch gibt es nahezu keine wissenschaftliche Forschung zum Objekt "Spickzettel", sieht man von Studien in den USA ab, die weniger den Spickzettel an sich, als vielmehr den Einfluss des Spickens auf Testergebnisse von Schulleistungstests im Blick haben. Und es gibt, soweit die Recherchen im internationalen Kontext das feststellen lassen, keine größeren, öffentlich zugänglichen Sammlungen oder Bestände in Archiven. Spickzettel werden offensichtlich, wenn überhaupt, in der Regel privat gesammelt. Entsprechende Bedeutung gewinnt nun der vorliegende Nürnberger Bestand.

Der Bestand an Spickzetteln in der Schulgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg umfasst rund 1.300 Exemplare aus den zurückliegenden acht Jahrzehnten. Im deutschsprachigen Raum sammelt offensichtlich nur noch eine weitere öffentliche Institution entsprechende Exponate. Die Ausstellung im Ahlener Berufskolleg St. Michael in Westfalen zeigt die rund 200 Exemplare, die der dortige Schulseelsorger und Diakon Johannes Gröger zusammengetragen hatte. Ein spanisches Museum zeigte Anfang 2002 in einer vielbeachteten Ausstellung verschiedene Methoden des Spickens. Die Nürnberger Bestände setzen sich vor allem aus zwei großen Sammlungen zusammen, die beide im Jahre 2007 den Weg ins Archiv gefunden haben. Ein Nürnberger Mathematiklehrer sammelte über vier Jahrzehnte hinweg, seit den 1960er Jahren, alle Spickzettel, derer er an seiner Schule habhaft werden konnte. Im Laufe der Jahre wurde er zunehmend auch von Kollegen und Schülern beliefert. Bald schon konnte er mit seiner wachsenden Sammlung kleine Ausstellungen veranstalten. 2007 übergab er rund 250 Spicker sowie rund 2.000 Notizen, Briefchen, Karikaturen und Zeichnungen von Schülerinnen und Schülern an die Schulgeschichtliche Sammlung. Der zweite große Bestand stammt von der Schülerin eines humanistischen Gymnasiums in Freiburg. Hier wurden in einem Zeitraum von etwa fünf Jahren seit Anfang der 1990er rund 940 Exemplare gesammelt. Der Bestand ist nach Unterrichtsfächern unterteilt. Nach eigenen Angaben hatte die Spenderin jeweils im Anschluss an Prüfungen neben eigenen Produkten alle Spickzettel eingesammelt, die ihr von Mitschülerinnen und -schülern gegeben wurden. Tatsächlich lassen sich innerhalb der Fächerbestände immer wieder auch Untergruppen inhaltlich zusammenhängender Spickzettel orten.


Spicken in 1.300 Variationen

Die Bestände werden derzeit geordnet, katalogisiert und digital erfasst. Wenngleich systematische Forschung erst nach Abschluss dieser Arbeiten möglich sein wird, lassen sich dennoch einige Beobachtungen auch schon zum jetzigen Zeitpunkt festhalten.

Die Sammlung teilt sich in zwei Grundvarianten von Spickzetteln. Die systematisch und in Ruhe angelegte Variante synthetisiert in mehreren Schritten den Lernstoff auf die wichtigsten Elemente, wählt hieraus Schlüsselbegriffe, mit denen diese Elemente memotechnisch verknüpft werden, und setzt das ganz so um, dass die Lehrkraft möglichst geringe Chancen hat, den Spicker zu erkennen. Daneben gibt es auch den sogenannten Helfer in höchster Not, der unmittelbar vor einer Prüfung entsteht und meist nur geringe inhaltliche Systematik verrät.

Der größte Spickzettel entspricht einer DIN A4-Seite, der kleinste ist etwas größer als eine Stecknadel, 3 cm lang und 0,5 cm hoch. Die Schrift lässt sich in diesem Fall nur mit einer Lupe lesen. Die ältesten Exemplare der Schulgeschichtlichen Sammlung stammen aus dem Jahr 1927. Ein Gymnasiast hielt auf vier daumennagelgroßen weißen Zetteln Physik- und Chemieformeln fest. Der durchschnittliche Spicker ist etwa 4 cm breit, 3 cm hoch und besteht aus Papier. Variationen finden sich in den Innenseiten von Federmäppchen, Griffelkästen, Schulranzen oder auch auf Linealen. Hin und wieder werden Spicker auf Rocksäume, Hemdärmel oder Jackenaufschläge aufnotiert oder aufgenäht. Seltener greifen Schüler zur riskanten Variation des Pseudo-Schmierzettels: Ein Papier, möglichst im selben Format wie das Prüfungspapier, wird mit Notizen präpariert, die sich den Anschein geben, im Moment der Prüfung entstanden zu sein, oder durch ihre Farbe nahezu unsichtbar sind.

Neben diesen Klassikern unter den Spickzetteln gibt es eine kleine Gruppe ausgefeilter Exemplare. Offensichtlich erachteten deren Autoren den Spickzettel als besondere technische Herausforderung. Möglicherweise stand in diesen Fällen nicht alleine das Bedürfnis nach einem Hilfsmittel im Vordergrund, sondern auch eine gewisse Lust, sich mit der Lehrkraft zu messen, sie zu testen. Solche Variationen setzten oft einen nicht unerheblichen Vorrat an Erfindungsgeist und technischem Know-How voraus.

Eine einfache Variante ist der Taschentuchspicker: Die Informationen werden in ein Taschentuch, Klopapier oder in eine Serviette gestanzt. Dagegen sind mindestens zwei Stunden Zeitaufwand notwendig, um einen Kugelschreiber mit Sichtfeld zu präparieren. Wer noch ausgefeilter Variationen entwickelt, hat den Zeitaufwand längst aus den Augen verloren. So lassen sich z. B. auf zwei zurechtgesägten Bleistiften, jeweils 3 cm lang und mit starkem Draht verbunden, gut und gerne 40 cm Chemieformeln auf- und abrollen. Die Banderole einer Limonadeflasche ist eine mindestens genauso wirksame Fläche, um Informationen vor dem Lehrerauge zu verbergen. Im Dampfbad wird das Papier abgelöst und anschließend eingescannt. Wenn man Schriftform und Farbe kopiert, lassen sich hier beliebig viele Themen unterbringen. Eine harmlose Getränkeflasche auf dem Tisch des Prüflings verdächtigt niemand.

Unverdächtig wirkt wohl auch eine Armbanduhr. Wer ahnt schon, dass der Schüler in tagelanger Heimarbeit die Uhr entkernt und mit zwei Drehspulen versehen hatte, an denen sich rund 40 cm Formeln auf- und abspulen lassen. Die gegenwärtig vor allem auf Internetforen präsentierten audiovisuelle Ideen und Geräte, wie z. B. umprogrammierte Handies, Organizer und MP3-Player oder auch UV-Lampen, die als Kugelschreiber getarnt, Geheimschriften sichtbar machen, haben bislang noch nicht den Weg in die Schulgeschichtliche Sammlung gefunden.


Mögliche Forschungsperspektiven

Während das Thema schulische Subkultur auf deutliches wissenschaftliches Interesse stößt, liegen, abgesehen von den erwähnten US-Studien, bislang keine wissenschaftlichen Studien zum Thema Spickzettel vor. Wer Spickzettel wissenschaftlich analysieren will, betritt Neuland. Der Nürnberger Bestand eröffnet hier mindestens zwei Forschungsperspektiven: Interessant können die Bestände für Disziplinen sein, die sich mit schulischer Subkultur und Jugendsprache beschäftigen, von der Volkskunde über die Erziehungswissenschaft bis zur Jugendsoziologie. Daneben bietet der Bestand der curricularen Forschung ein breites Feld: Welche Lerntechniken lassen sich beobachten? Wie und welcher Unterrichtsstoff wird ausgewählt und damit als notenrelevant erachtet? Inwieweit finden Curricula oder Schulbücher Eingang in die Lernbemühungen der Schülerinnen und Schüler?

Ein interessantes Beispiel liefert der genannte Bestand der Freiburger Schülerin: In bestimmten Fächern, wie z. B. Geschichte, wurden grundsätzlich nur Kleinstspicker angelegt, die den Stoff auf wenige Inhalte verdichten und handschriftlich gefertigt sind. In anderen Fächern wie Englisch wurde für die Prüfungen von Zeit zu Zeit fast ausschließlich die Variante der Buchkopie angelegt. Offensichtlich stand hier die Erwartung der Schüler Pate, dass die Lehrkraft nur aus diesen zwei bis drei Literaturstellen prüfen werde. Die Regelmäßigkeit, in der diese Variante in dem Bestand auftaucht, lässt auf eine gewisse Erfolgsquote solcher Spicker rückschließen.

Vergleicht man die Sammlung des Nürnberger Mathematiklehrers und die der Freiburger Schülerin, fallen einige Gemeinsamkeiten ins Auge. Die meisten Spickzettel liegen in den Fächern Geschichte und Religion vor. Die Masse der Spicker ist mit sehr kleiner, z. T. kaum lesbarer Schrift versehen und daher unter den Bedingungen einer Prüfung nur eingeschränkt nutzbar. Vermutlich ging es den Autoren in diesen Fällen weniger um greifbare Informationen als mehr um die theoretische Präsenz eines Nothelfers, d.h. um eine emotionale Stütze. Möglicherweise steht der Spicker auch bewusst oder unbewusst als Endprodukt einer Lerntechnik. Der Stoff wird systematisiert, synthetisiert und memotechnisch vertieft.

Aufschlussreich für Fragestellungen zur schulischen Alltagskultur sind auch die an Spickzettel gebundenen Erinnerungen. Die bereits genannten Spickzettel aus dem Jahre 1927 hatten die Zeit in einem Tabakbeutel überdauert. Die beiden Spickzettel aus den Jahren 1940 und 1941 hatten ihrer Autorin - in der Hand verborgen - während der Buchhaltungsprüfung in der Handelsschule im oberbayerischen Starnberg Sicherheit vermittelt. Nutzen musste sie die Zettel nie, da sie den Stoff beherrschte. Sechs Jahrzehnte später tauchten die Spickzettel zwischen alten Schulsachen wieder auf. Die erwähnte Spickeruhr war das Werk eines 16-jährigen Würzburger Realschülers. Die 80 cm lange Rolle mit Physik- und Chemie-Formeln half ihm 1956 durch die Prüfung. Sein technisches Geschick ließ ihn später den Weg zum Beruf des Schiffsmaschinenbauers finden. Die Bleistift-Rolle hatte ein Erfurter Kfz-Mechaniker-Schüler 1957 eingesetzt. Stolz auf das Produkt und in Erinnerung an die erfolgreiche Nothilfe bewahrte er den Spicker fast fünfzig Jahre auf.


Das neu eröffnete Schulmuseum Nürnberg

Die Spickzettelsammlung ist Teil der rund 100.000 Exponate umfassenden Schulgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg. Diese Sammlung bereitet vom Schulranzen über Schülerbriefe bis zu Zeugnissen nahezu alles, was mit der Geschichte der Schule zu tun hat, für die wissenschaftliche Forschung auf. Der Sammlungsschwerpunkt liegt im Raum Nürnberg und Bayern bzw. im 19./20. Jahrhundert. Die Sammlung ist zugleich die Basis des Schulmuseums Nürnberg, einer Kooperation von Universität Erlangen-Nürnberg und Stadt Nürnberg. Im Frühjahr 2008 wurde die neue Dauerausstellung eröffnet. Auf 350 m2 werden eine Vielzahl bislang unveröffentlichter Fotografien, Dokumente, Briefe und Gegenstände gezeigt, darunter Originale aus dem 16. Jahrhundert genauso wie aus der Zeit des Dritten Reichs sowie einige ausgewählte Spickzettel. Die Ausstellung thematisiert die Bedeutung von Schule für die persönliche Entfaltung eines Menschen sowie für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Politik, insbesondere für die Demokratie. Im Mittelpunkt steht das besondere Potential von Schule früher und heute.


Dr. Mathias Rösch ist Mitarbeiter am Lehrstuhl Pädagogik I von Prof. Dr. Annette Scheunpflug und seit September 2006 Leiter des Schulmuseums Nürnberg und der Schulgeschichtlichen Sammlung der Universität Erlangen-Nürnberg.

Schulmuseum Nürnberg
Äußere Sulzbacherstr. 60 - 62
Öffnung Di-Fr, 9.00 - 17.00 Uhr,
Sa/So/Feiertags 10.00 - 18.00 Uhr
www.schulmuseum.uni-erlangen.de

Wissenschaftliche Nutzung der Spickzettelsammlung der Schulgeschichtliche Sammlung Nürnberg nach Vereinbarung:
schulmuseum@ewf.uni-erlangen.de


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 109/September 2008, S. 28-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2008