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BERICHT/023: Neurodidaktik auf dem Prüfstand (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 12/2008
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Neurodidaktik auf dem Prüfstand

Von Nikolaus Westerhoff


Seit einigen Jahren mischen sich Hirnforscher in pädagogische Angelegenheiten ein - und beschwören damit die Kritik von Erziehungswissenschaftlern herauf. Wer hat die Deutungshoheit für das Projekt »Schule morgen«?


Die Hirnforschung sei für das Lernen so wichtig »wie die Muskel- und Gelenkphysiologie für den Sport«. Dieses Zitat stammt von dem Ulmer Psychiater Manfred Spitzer, dem wohl bekanntesten Vorkämpfer der Neurodidaktik hier zu Lande. Lehrer, so Spitzers Überzeugung, sind Fitnesstrainer - sie trainieren Gehirne. Und das Fitnessstudio, in dem sie arbeiten, heißt Schule. Nur leider wüssten Lehrer zu wenig über das Organ, das sie formen wollen. Wer von der Funktionsweise des Gehirns nichts versteht, der »habe keine Ahnung, wie Kinder am besten lernen«, setzt der Biologe Henning Scheich vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg noch eins drauf. Kurz gefasst lautet der Ratschlag der Neurodidaktiker: Liebe Pädagogen, ihr braucht mehr neurobiologisches Knowhow, um erfolgreiche Lehrer zu sein.

Erziehungswissenschaftler sollten ihre didaktischen Methoden stärker als bisher naturwissenschaftlich absichern. Mit dieser Forderung stehen Spitzer und Co. nicht allein da. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) betrachtet inzwischen die Neurowissenschaft als pädagogisch wertvoll und versucht, die Zusammenarbeit zwischen Erziehungswissenschaftlern und Hirnforschern zu fördern.

Bereits vor 20 Jahren plädierte Gerhard Preiß, ein Fachdidaktiker für Mathematik, für eine hirngerechte Pädagogik und hob damit eine neue Disziplin aus der Taufe: »Die Neurodidaktik geht von der Lernfähigkeit des Menschen aus und sucht nach den Bedingungen, unter denen sich Lernen am besten entfaltet. Die Schlüsselidee ist dabei die Überzeugung, dass Plastizität des Gehirns und die Lernfähigkeit in unauflöslicher Beziehung zueinander stehen. Die Ergebnisse der Hirnforschung machen es möglich, diese Beziehung zu erforschen. Aufgabe der Neurodidaktik ist es, die neurobiologischen Erkenntnisse für die Didaktik aufzuarbeiten, um sie auf den Prozess menschlicher Erziehung und Bildung anzuwenden.«

Letztlich steht hinter der Neurodidaktik die Idee, dass Kinder »gehirngerecht« lernen sollten. Viele Pädagogen stehen dieser Forderung jedoch kritisch gegenüber und wenden sich gegen die »Zerebralisierung« ihres Fachs. »Nervenzellen haben keinen Willen«, schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Nicole Becker von der Universität Tübingen. »Moleküle können sich nicht für etwas interessieren, und schließlich ist es auch nicht das limbische System, das in Prüfungssituationen Angst hat.« Sondern der Mensch.

Darüber hinaus scheinen Pädagogen heute höchst desillusioniert zu sein, was die Optimierbarkeit erzieherischer Maßnahmen im Allgemeinen angeht (siehe Zusatzinformation "Pädagogik - eine Disziplin in der Krise"). Tatsächlich verkünden sie seit Jahrzehnten, dass sich Erziehung nicht wissenschaftlich »vermessen« lasse. Träfe diese Behauptung zu, wäre es schlicht unmöglich, Erziehungsprozesse wie das Lehren überhaupt empirisch zu evaluieren - gleichgültig, ob mit den Methoden der Hirnforschung oder anderen.

Doch Neurodidaktiker sind davon überzeugt, Lernen und Lehren verbessern zu können. In einem Artikel für die Wochenzeitung »Die Zeit« schrieb Manfred Spitzer bereits vor fünf Jahren: »Gewiss, gute Ratschläge und viel Erfahrung gibt es auch ohne Wissenschaft. Nur durch Wissenschaft wird jedoch aus Meinungen und subjektiven Erfahrungen gesichertes Wissen.«

Hier stimmt Nicole Becker zu: »In manchen pädagogischen Feldern sind neurowissenschaftliche Methoden sinnvoll einsetzbar.« So sei es möglich, mittels Hirnscans nachzuweisen, dass die Sprachverarbeitung bei Kindern mit Leseschwäche verändert sei, und auch bei hyperaktiven Kindern ließen sich bestimmte hirnfunktionelle Unterschiede ausmachen. »Hier sind bereits Einsichten gewonnen worden, die mit herkömmlicher Diagnostik so nicht möglich gewesen wären«, sagt Becker.

Was also kann Neurodidaktik tatsächlich leisten und was nicht? Sehen wir uns die fünf wichtigsten Argumente ihrer Kritiker einmal näher an.


Kritikpunkt 1: Alles schon bekannt

Das neurobiologische Wissen über die Bedingungen des Lernens und Lehrens geht nicht über die bisherigen Erkenntnisse der pädagogischen Forschung hinaus. Davon ist etwa die Psychologin Elsbeth Stern von der ETH Zürich überzeugt. In ihrem Aufsatz »Wie viel Hirn braucht die Schule?« aus dem Jahr 2004 stellt sie lapidar fest: »Wir brauchen keine großen neuen Theorien; die haben wir schon.« Bis jetzt, so Stern, hätten die Neurodidaktiker keine Ergebnisse vorgelegt, die Pädagogen zwingen würden, ihren Unterricht irgendwie anders zu gestalten. Tatsächlich zeigt ein kurzer Blick in die Geschichte der Pädagogik: An Theorien und gut gemeinten Absichten mangelte es noch nie.

So kämpfte der Humanist Erasmus von Rotterdam (1465 - 1536) bereits 1502 für eine neue Schule des Lernens. Er glaubte, dass die Lehrer seiner Zeit den Stoff häufig unnötig kompliziert darbieten würden. Seines Erachtens dürfe man Schüler nicht mit Inhalten überfrachten - weniger sei manchmal mehr. Und nur wer ohne Angst lerne, lerne erfolgreich. Ein halbes Jahrtausend später, anno 2008, schlagen Neurodidaktiker in die gleiche Kerbe: Das Gehirn des Schülers dürfe man keinesfalls mit zu viel Informationen belasten, Wichtiges müsse von Unwichtigem getrennt werden, Angst verhindere Lernen. Das wusste Erasmus auch schon - obwohl er keinen Computertomografen in seinem Arbeitszimmer stehen hatte.

1762 befand der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778): Kinder sind von Natur aus neugierig und wissenshungrig. Sie lernen dann am besten, wenn sie mit konkreten Problemen aus der eigenen Erfahrungswelt konfrontiert werden: »Die Natur will, dass Kinder Kinder sind, bevor sie zu Erwachsenen werden. Wollen wir diese Ordnung umkehren, erzeugen wir frühreife Früchte, die weder Saft noch Kraft haben und bald verfault sein werden - auf die Art erzeugen wir junge Doktoren und alte Kinder. Die Kindheit hat ihre eigene Weise zu sehen, zu denken und zu empfinden.«

Rousseau forderte eine entwicklungs- und damit implizit auch hirngerechte Erziehung. Und so wie gegenwärtig die Neurodidaktiker beklagen, dass Lehrer ihr Handwerk nicht richtig verstünden, kanzelte auch schon Rousseau die Pädagogenzunft als unfähig ab: »Es ist sehr seltsam «, schrieb er, »dass man, seit man sich mit der Erziehung der Kinder beschäftigt hat, auf keine anderen Mittel, sie zu leiten, verfallen ist als auf Wetteifer, Eifersucht, Neid, Eitelkeit, Habgier, Feigheit, also gerade die gefährlichsten Leidenschaften, die am schnellsten emporschießen und am geeignetsten sind, die Seele zu verderben, noch ehe der Körper gereift ist.«

Die Wissenschaftssprache mag seit dem 18. Jahrhundert prosaischer geworden sein - dennoch klingen viele Botschaften von Neurowissenschaftlern so, als stammten sie direkt aus der Feder Rousseaus. Wenn Kinder beispielsweise in dem von dem Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther wissenschaftlich begleiteten Bildungsprojekt »Nelecom« (siehe S. 53 Printausgabe) auf Baustellen geschickt werden, um dort mathematisches Denken zu lernen - was ist das anderes als erfahrungsbasiertes Lernen im rousseauschen Sinn?

Auch der Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1726 - 1827) wehrte sich gegen jegliches »Antreiben« im Unterricht und hielt es für gefährlich, Lernende zu überfordern. Lernen erfolge von »Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz«. Es setze ein didaktisches Zwiegespräch zwischen Schüler und Lehrer voraus - mehr noch: ein auf Seelenverwandtschaft gegründetes Vertrauensverhältnis. Der Lehrer solle warten, so Pestalozzi, bis ein lernendes Kind »jeden Gegenstand von allen Seiten und unter vielen Umständen ins Auge gefasst« habe. Heute heißt das: Lernen soll eine Abenteuerreise sein, die alle Sinne anspricht.

Schließlich kommt Gerhard Klein, Professor für Sonderpädagogik an der Fachhochschule Reutlingen, zu dem Schluss, dass Montessori-Pädagogen und Neurodidaktiker ähnliche Erziehungsziele postulieren. Eigenaktivität, intrinsische Motivation, Selbstsuche des Kinds nach passenden Lerngegenständen - so lauten einige der Schlagwörter aus dem gemeinsam geteilten pädagogischen Erkenntnisfundus.

Kurzum: Wirklich revolutionär sind die neurodidaktischen Auffassungen über das menschliche Lernen nicht. Den Kritikern zufolge verkaufen Hirnforscher hier alten Wein in neuen Schläuchen.


Kritikpunkt 2: keine Praxisrelevanz

Gesichertes Wissen über das Gehirn ist das eine; pädagogisch anwendbares Wissen das andere. Und genau daran fehle es nach wie vor, so die Neurodidaktik-Skeptiker. »Die Befunde der Neuroforscher mögen richtig sein«, meint etwa der Erziehungswissenschaftler Dominik Gyseler von der ETH Zürich, »doch aus pädagogischer Sicht sind sie trivial. Für eine Lehrperson stellt sich kaum die Frage, ob denn nun Angst oder Freude dem Lernen zuträglich ist; dies entspricht einfach nicht dem aktuellen Wissensbedarf der pädagogischen Praxis.«

Nicole Becker hält die Befunde gleichfalls für wenig praxistauglich: »Was die kognitiven Neurowissenschaften bisher über das Lernen im menschlichen Gehirn zu sagen wissen, bezieht sich auf vergleichsweise einfache Lernvorgänge. Mit Hilfe bildgebender Verfahren lässt sich zwar ermitteln, wie sich die Hirnaktivierung von Probanden beim Lösen einfacher Aufgaben verändert, doch mit schulischen Lern- oder gar Bildungsprozessen haben solche Studien nichts zu tun.« Die Neurodidaktiker, so scheint es, fördern Erkenntnisse zu Tage, die einige Erziehungswissenschaftler für verzichtbar halten.

Selbst das neurodidaktische Mantra, dass das Gehirn automatisch lerne - ja gewissermaßen lernen wolle -, sei nicht wirklich hilfreich. Schließlich bezöge sich diese Feststellung zumeist auf implizite Lernvorgänge, die keiner Instruktion bedürften. Die Tatsache, dass Menschen laufen und sprechen lernen wollen, bedeute jedoch keineswegs, dass sie auch lernen wollen, wie man französische Verben beugt oder wie man den Kalorienverbrauch eines schlafenden Hundes berechnet.


Kritikpunkt 3: Unzulässige Umkehrschlüsse

Neurodidaktiker verweisen darauf, dass anregende Umweltbedingungen die Verschaltung im Gehirn fördern. Als Beleg hierfür führen sie Befunde wie die des Neurobiologen William Greenough von der University of Illinois an. In Experimenten konnte Greenough zeigen, dass Nagetiere, die in stimulierenden Umwelten aufwuchsen, mehr Synapsen in bestimmten Arealen ihres Gehirns aufwiesen als Artgenossen, die man unter »deprivierenden«, also reizarmen Bedingungen großgezogen hatte. Der Befund als solcher ist unstrittig. Problematisch ist die pädagogische Schlussfolgerung. Die lautet: Kleinkinder entwickeln sich besser und schneller, wenn sie in einer besonders anregenden Umwelt aufwachsen.

Nach Ansicht des Arztes und Wissenschaftsjournalisten John T. Bruer überinterpretieren die Neurodidaktiker damit den Befund. Streng betrachtet sei damit lediglich der Beweis erbracht, dass reizarme Umgebungen entwicklungshinderlich sind. Eine Vielzahl von Studien habe gezeigt, so die Neurobiologin Carla Shatz von der Harvard University in Boston, dass Kinder ein Mindestmaß an Stimulation benötigen, um sich altersgerecht zu entwickeln. Zwinge man beispielsweise ein Kind über längere Zeit hinweg im Bett liegen zu bleiben, dann falle es ihm irgendwann schwer, grundlegende motorische Fertigkeiten zu erwerben: »Ausgehend von diesen Beobachtungen befürworten manche Leute eine an Reizen reiche Umwelt, um die Entwicklung zu fördern. Doch neuere Studien weisen keineswegs nach, dass eine solche Stimulation hilfreich ist.« Und auch William Greenough betonte, dass seine Tierexperimente keine Aussagen darüber zulassen, in welcher Lebensphase das Gehirn von Kindern besonders gut form- und beeinflussbar ist.


Kritikpunkt 4: Emotionen sind kein automatischer »Lernturbo«

Lernen und Lust sind eng miteinander verknüpft - so lautet eine zentrale Annahme der Hirnforschung. Wissensaneignung ist nach Ansicht der Neurodidaktiker ein kognitiver und emotionaler Vorgang: Je positiver die Gefühle sind, die ein Lerninhalt auslöst, desto besser wird er im Gedächtnis gespeichert. Und emotional gefärbte Ereignisse prägen sich uns schneller ein als neutrale. Deshalb erinnern wir uns zum Beispiel eher an aufregende Liebes- und Kriegserlebnisse von Kaisern und Königen als an deren nüchterne Lebens- und Sterbedaten. »Alles, was beim Lernen Freude macht, unterstützt das Gedächtnis«, schrieb der Pädagoge Johann Amos Comenius (1592 - 1670) in seiner »Didactica Magna« bereits vor über 300 Jahren.

Während die ersten, stark kognitionspsychologisch ausgerichteten Konzepte der Neurodidaktik Gefühle noch kaum berücksichtigten, ergründen Hirnforscher seit Anfang der 1990er Jahre intensiv den Einfluss von Emotionen auf Lern- und Erinnerungsprozesse. Mittlerweile liegen zahlreiche Studien vor, in denen untersucht wurde, ob sich das emotionale Erregungsniveau positiv auf die Gedächtnisleistung auswirkt. In vielen solchen Experimenten verwenden Psychologen darin jedoch Wortlisten oder sinnlose Silben, so dass sich die so gewonnenen Erkenntnisse nicht ohne Weiteres auf das ungleich komplexere Lernen im Unterricht übertragen lassen.

1996 resümierte Thomas Goschke, Professor für Allgemeine Psychologie an der Technischen Universität Dresden, den Forschungsstand folgendermaßen: »Zusammenfassend sprechen die Untersuchungen zum autobiografischen Gedächtnis dafür, dass emotional erregende, positive wie negative Erlebnisse sowie die Umstände, unter denen man von erregenden Ereignissen erfährt, langfristig besser behalten werden, als dies bei neutralen Ereignissen der Fall ist. Darüber hinaus gibt es schwächere Hinweise darauf, dass positive Erlebnisse besser behalten werden als negative, was allerdings von individuellen Vermeidungsstrategien abzuhängen scheint.«

Aus Sicht der Kritiker ist damit bislang noch kein klarer Nachweis erbracht, dass positive Gefühle pauschal das Lernen fördern. Die Unterrichtsrealität sei viel komplexer als ein Laborexperiment - und selbst dort gelinge es nur unter großen Mühen, den Einfluss von emotionalen Zuständen eindeutig zu quantifizieren. Außerdem sprächen Neuroforscher recht allgemein von emotionaler Erregung; welche Emotionen hier eine Rolle spielten, bleibe oft unklar. Und eine ganz andere Frage sei, wie sich eine positive Emotion bei Schülern hervorrufen lasse - wie man also Kurvendiskussionen, Lateinvokabeln oder Bruchrechnen mit angenehmen Gefühlen verbinde.

Nun ist seit Goschkes Resümee die Forschung nicht stehen geblieben. 2002 erbrachte etwa der Neuropsychologe Florin Dolcos von der kanadischen University of Alberta in Edmonton den Nachweis, dass die Erinnerungsleistung bei emotionalen Bildern größer ist als bei neutralen. Und zwei Jahre später beschrieben Dolcos und seine Kollegen detailliert, wie emotionale und neutrale Reize in der Amygdala und im Gedächtnissystem des medialen Temporallappens verarbeitet werden. Auch hier zeigte sich wieder: Emotionales Material löst stärkere Aktivierung aus. Zwar lassen sich aus solchen Befunden immer noch keine konkreten pädagogischen Empfehlungen ableiten, doch ist es ein Verdienst der Neuroforscher, dass wir Lernen heute nicht mehr nur als kognitiven, sondern auch und gerade als emotionalen Vorgang begreifen.


Kritikpunkt 5: Lernphasen gelten nicht pauschal

Kindliche Frühförderung ist in aller Munde. Viele ehrgeizige Eltern spielen bereits ihren Babys Mozart-Sonaten vor oder schicken Dreijährige zum Chinesischkurs. Dahinter steht ein Denken, das sich auch auf neurobiologische Befunde stützt. Neurowissenschaftler wie Pasko Rakic von der Yale University oder Peter Huttenlocher von der University of Chicago haben nachgewiesen, dass sich das Zentralnervensystem eines Menschen in den ersten Lebensjahren massiv verändert. Die Gehirne von Kleinkindern bilden in kurzer Zeit hunderte Milliarden von Kontaktstellen - die Synapsen. Laut Huttenlocher erreicht die Synapsendichte im Alter von drei Jahren ihren Höhepunkt, zumindest im für höhere geistige Funktionen zuständigen präfrontalen Kortex direkt hinter der Stirn. Und diese kritische Entwicklungsphase müsse man nutzen, fordern Neurodidaktiker.

»Die Vorstellung eines einzigen Lernzeitfensters für Lesen, Schreiben, Rechnen oder Musizieren, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt unwiderruflich schließt, ist falsch«, hält Nicole Becker dem entgegen. Wohl aber lässt sich für jeden Lerninhalt eine kritische Lernphase bestimmen: Für das Erlernen sprachlicher Bedeutungsnuancen im Englischen ist das Lernfenster beinah ein Leben lang geöffnet; für motorische Handlungsabläufe hingegen schließt es sich relativ schnell, nämlich nach den ersten Lebensjahren.

Je früher, desto besser - so pauschal stimmt die Losung also nicht. Das zeigt auch das Beispiel »Spracherwerb«, der sich aus mehreren Teilfähigkeiten zusammensetzt. Die Laute einer Sprache akzentfrei nachahmen, grammatikalisch korrekte Sätze bilden, Wortbedeutungen erkennen: Phonetik, Grammatik und Semantik besitzen jeweils gesonderte kritische Phasen.

Um eine Sprache akzentfrei sprechen zu können, sind die ersten sechs Lebensmonate besonders wichtig, wie die Studien der Psychologin Patricia Kuhl von der University of Washington belegen. Nach den Erkenntnissen des Sprachpsychologen James Flege von der University of Alabama in Birmingham nimmt das phonetische Vermögen bereits ab dem zweiten Lebensjahr kontinuierlich ab. Ab dem 14. Lebensjahr gelingt es nur noch ganz wenigen Menschen, in einer neu gelernten Fremdsprache akzentfrei zu parlieren.

Ein berühmtes Beispiel sind die Kissinger-Brüder. Henry Kissinger, der ehemalige Außen Außenminister der USA, übersiedelte mit zwölf Jahren von Deutschland nach Nordamerika. Er spricht fließend Englisch, hat aber gleichwohl einen deutschen Akzent. Sein Bruder Walter, der bei der Emigration zwei Jahre jünger war als Henry, spricht jedoch akzentfrei englisch. »Man kann nicht sagen, dass sich das Phonetik-Fenster definitiv mit einem bestimmten Alter schließt«, erläutert Becker. »Es gibt enorme individuelle Schwankungen.«

Der Wortschatz eines Menschen wächst hingegen beständig: Ein sechsjähriges Kind kennt im Schnitt etwa 13 000 Wörter, ein Schulabgänger 60 000. Manche Menschen bauen ihr Repertoire bis ins hohe Alter kontinuierlich aus und erreichen problemlos einen Wortschatz von 150 000. In ihren EEG-Studien zeigte die Neuropsychologin Helen J. Neuville von der University of Oregon in Eugene, dass die semantische Verarbeitung von Begriffen mit einem typischen Hirnaktivitätsmuster einhergeht, das unabhängig vom Lebensalter ist.


Fremdsprachen lernen - neurobiologisch betrachtet

Beim Grammatikerwerb existiert wiederum ein Zeitfenster, das sich laut Elissa L. Newport von der University of Rochester allmählich bis zum 15. Lebensjahr schließt. Die Psycholinguistin hatte die Grammatikfähigkeiten von Chinesen und Koreanern analysiert, die bereits seit mehr als zehn Jahren in den USA lebten und entweder vor oder nach ihrem 15. Lebensjahr eingewandert waren.

Dazu passend zeigte Neuville, dass sich die Hirnaktivität bei der Verarbeitung von Grammatik ändert: Mit zunehmendem Lebensalter lässt sich ein charakteristisches Muster im vorderen Bereich der linken Hirnhälfte nahe der Schläfe beobachten; bei kleinen Kindern ist dieses Signal noch nicht nachweisbar. Neuville vertritt die Ansicht, dass der Abbau der Synapsen zwischen dem 8. und dem 14. Lebensjahr keinesfalls lernhinderlich ist, im Gegenteil: Dadurch nehme die funktionale Plastizität des Gehirns zu! Und auch Elissa Newport zufolge lernt das Gehirn erst dann besonders gut, wenn sich die Synapsenarchitektur stabilisiert hat - also nach den ersten Lebensjahren.

Die Kritiker der Neurodidaktik halten es folglich für problematisch, Lernempfehlungen zu formulieren, die sich auf einfache neurobiologische Faustregeln stützen. So sei es praktisch unmöglich, aus den Erkenntnissen zum Spracherwerb ein »gehirngerechtes« Curriculum für den Fremdsprachenunterricht abzuleiten. »Letzten Endes geht es immer um pädagogische Prioritäten«, meint Nicole Becker dazu und erläutert an einem Beispiel: Lernt ein Kind zuerst Latein und erst im Jugendalter Englisch, so wird diese Person wohl niemals akzentfrei Englisch sprechen, kann dafür aber durch das Lateinische ein tieferes Verständnis syntaktischer Strukturen erwerben.

»Erziehungswissenschaftler begrüßen es, wenn Neurobiologen die physiologischen Mechanismen des Lernens ergründen«, bringt Becker die Kritik an der Neurodidaktik auf den Punkt, »aber sie wehren sich gegen den Anspruch, aus Tierexperimenten oder fMRT-Studien Handlungsanweisungen ableiten zu können. Dieser Anspruch ist vermessen, weil Neurodidaktiker damit suggerieren, sie seien die besseren Pädagogen.«

Andererseits betonen Hirnforscher aber auch immer wieder, dass jedem Lernprozess ein unkalkulierbares Moment innewohne, weshalb nie sicher sei, ob der Schüler das lerne, was der Lehrer eigentlich beibringen wolle. Gelehrtes und Gelerntes sind nicht identisch, hielt Gerhard Roth in diesem Sinn 2004 in seinem Aufsatz »Warum sind Lehren und Lernen so schwierig?« fest. Der Bremer Hirnforscher kommt dort zu dem Schluss, »dass wir keinen direkten willentlichen Einfluss auf den Lernerfolg haben, weder auf den eigenen noch den unserer Schüler«. Das Gehirn gehorcht nun einmal nicht den Gesetzen der Schule und ihrer Repräsentanten.


Der Autor Nikolas Westerhoff ist promovierter Psychologe und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.


LITERATURTIPPS:

Becker, N.: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2006.

Bruer, J. T.: Der Mythos der ersten drei Jahre. Warum wir lebenslang lernen. Beltz, Weinheim 2003.

Bürger, T.: Neurodidaktische Reflexionen. Online kostenlos abrufbar unter
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2007/4867/.

Caspary, R. (Hg.): Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik. Herder, Freiburg 2008.

Dolcos, F. et al.: Interaction Between the Amygdala and the Medial Temporal Lobe Memory System Predicts Better Memory for Emotional Events. In: Neuron 42, S. 855 - 863, 2004.

Roth, G.: Warum sind Lehren und Lernen so schwierig? Online kostenlos abrufbar unter
www.report-online.net/recherche/einzelhefte_inhalt.asp?id=519.

Speck, O.: Hirnforschung und Erziehung. Reinhardt, München 2008.


Zusatzinformationen:

MEHR ZUM THEMA - Weitere Artikel in der Printausgabe 12/2008

Lernen - vom Gehirn aus betrachtet Plädoyer für eine bessere Zusammenarbeit von Pädagogen und Neurowissenschaftlern (S. 44)
Schule fürs Leben Das Thüringer Bildungsprojekt »Nelecom« (S. 53)
Das Geheimnis von Munderkingen Erfolgsrezepte einer schwäbischen Realschule (S. 56)


AUF EINEN BLICK
Macht Hirnforschung Schule?

1. Vor 20 Jahren hob der Fachdidaktiker Gerhard Preiß eine neue Disziplin aus der Taufe: die Neurodidaktik, mit deren Hilfe neurobiologische Erkenntnisse für den Schulunterricht nutzbar gemacht werden sollen.

2. Laut Hirnforschern könnten neurowissenschaftliche Erkenntnisse über optimale Lernbedingungen tatsächlich helfen, den Schulunterricht zu verbessern.

3. Viele Erziehungswissenschaftler sind skeptisch: Sie befürchten, Neurodidaktiker wollten aus Laborexperimenten konkrete Unterrichtsrezepte ableiten und hielten sich für die »besseren Pädagogen«.


Fünf Grundpfeiler der Neurodidaktik

Folgende grundlegende Erkenntnisse sind inzwischen experimentell gut abgesichert:

1) Lernen macht Spaß. Vorausgesetzt, der Lernende entscheidet selbst, was er lernen will. Löst ein Kind aus eigenem Antrieb beispielsweise ein schwieriges Rätsel, führt das bei ihm zu einem Glücksempfinden, das mit einer verstärkten Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin einhergeht.

2) Gelernt wird oft nebenbei. Laufen, Sprechen, Lachen - all diese Fertigkeiten erwerben Kinder spielerisch und unsystematisch, also ohne zielgerichtete Instruktion. Lernen lässt sich also gar nicht verhindern, selbst durch die schlechteste Pädagogik nicht. Die neurobiologischen Mechanismen dieser »impliziten« Lernvorgänge sind gut erforscht.

3) Die Lebensjahre vor der Pubertät sind besonders sensible Lernphasen. Je früher Menschen damit beginnen, beispielsweise ein Instrument zu spielen oder eine Fremdsprache zu sprechen, desto besser. Manches lässt sich nur innerhalb eines kleinen Zeitfensters lernen, das sich schon früh im Leben wieder schließt; andere Fähigkeiten sind wiederum ein Leben lang erwerbbar.

4) Lernen ist auch ein emotionaler Vorgang. Kognition und Emotion sind untrennbar miteinander verwoben. Kinder können Lern- und Wissensinhalte besser speichern und aus ihrem Gedächtnis abrufen, wenn sie positive Gefühle damit verknüpfen. Die emotionale Färbung des Lernorts entscheidet gleichfalls über den Lernerfolg. Außerdem gilt: Je mehr ein Lernstoff mit der Lebenswirklichkeit eines Kinds zu tun hat, desto eher ist er emotional besetzt und desto besser wird er verarbeitet.

5) Reizarme Umwelten behindern das Lernen. Sinnlich anregende Umwelten wirken dagegen stimulierend. Kinder können jene Informationen leichter behalten, die ihnen über mehrere Sinneskanäle angeboten werden.


»Nur durch Wissenschaft wird aus Meinungen und Erfahrungen gesichertes Wissen«
Manfred Spitzer, Universität Ulm


Pädagogik - eine Disziplin in der Krise

Manchmal scheint es, als hätten die Pädagogen kapituliert und ihr angestammtes Terrain geräumt. Alles haben sie dort in den letzten hundert Jahren ausprobiert - vergebens. Ob frontaler oder offener Unterricht, Gruppen- oder Projektarbeit, kein didaktisches Konzept kristallisierte sich als Allzweckwaffe heraus, wie der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart von der Universität Münster bereits 1997 bilanzierte: »Die beste Methode gibt es nicht - sofern man die gemessene Lernleistung der Schüler als Effizienzkriterium zu Grunde legt.«

Jede der herkömmlichen Vorgehensweisen habe gute und schlechte Aspekte, alles sei relativ und relativierbar, meint auch der Schulpädagoge Thomas Bürger von der Universität Gießen: »Misslingt es Didaktikern, Präferenzen zu benennen, fragen sich angehende Lehrerinnen und Lehrer, wieso sie sich überhaupt mit irgendwelchen Didaktiken beschäftigen sollten.« Der rasante Aufstieg der Neurodidaktik beweist damit vor allem eines: wie schwach die pädagogische Methodik ist.

Das grundlegende Problem lautet: Pädagogische Ziele sind leicht formulier- und schwer umsetzbar - am Wie scheiden sich die Geister, nicht am Was. Schüler müssten lernen, kritisch zu denken und selbstständig zu handeln; es müsse gelingen, ihre Neugierde für den Satz des Pythagoras zu wecken, ihre Toleranz gegenüber indianischen Kulturen, ihre Ehrlichkeit, ihren Fleiß, ihre Nächstenliebe. Die Ziele sind schnell benannt, der Weg dorthin ist jedoch unklar. Daran ändern auch die Befunde der Neurowissenschaften nichts.

»Die Vorstellungen mancher Hirnforscher«, so Otto Speck, emeritierter Professor für Heilpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, »die Lehrer müssten attraktiver sein, besser ausgebildet werden und bräuchten nur alle bekannten pädagogischen und neurobiologischen Prinzipien zu beachten, damit der Unterricht erfolgreich sei, entbehren einer differenzierten Kenntnis der Schulsituation heute.« Jeder Lehrer weiß, dass Schüler motiviert sein sollten. Dafür muss er nicht eigens ein Lehrbuch der Neurobiologie gelesen haben. Doch wie nur soll er einen desinteressierten Schüler motivieren? Wie soll er Inhalte lebensnah vermitteln, die nur lose mit der Lebenswirklichkeit des Schülers verknüpft sind? Hierauf haben Pädagogen bislang ebenso wenig eine verbindliche Antwort parat wie Hirnforscher. (N. W.)


Vorkämpfer der modernen Pädagogik

ERASMUS VON ROTTERDAM (1465 - 1536)
empfahl Lehrern, die Schüler nicht mit Inhalten zu überfrachten - weniger sei manchmal mehr. Und auch Erasmus wusste schon: Nur wer ohne Angst lernt, lernt erfolgreich.

JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712 - 1778)
hielt Kinder von Natur aus für neugierig und wissenshungrig. Er forderte eine entwicklungs- und damit implizit auch eine gehirngerechte Erziehung.

JOHANN HEINRICH PESTALOZZI (1726 - 1827)
plädierte für ein Lernen von »Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz«.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

HIRNFORSCHUNG - NEIN DANKE?
Viele Pädagogen stehen der Forderung der Neurodidaktiker, Kinder »gehirngerecht« zu unterrichten, kritisch gegenüber.

SPASS MUSS SEIN
Lernen macht Freude, lautet eine zentrale These von Neurodidaktikern - vorausgesetzt, das Kind darf mitentscheiden, was es lernt.

VIEL HILFT VIEL - ODER NICHT?
An Ratten erzielte Studienresultate, laut denen eine abwechslungsreiche Umwelt die Hirnentwicklung fördert, lassen sich nicht automatisch auf den Menschen übertragen. Klar ist jedoch: Kinder sollen nicht unter völligem Reizentzug aufwachsen.

JE FRÜHER KINDER LERNEN, DESTO BESSER?
So pauschal stimmt dieses Mantra nicht - wie das Beispiel Spracherwerb zeigt. Phonetik, Grammatik und Semantik besitzen unterschiedliche sensible Entwicklungsphasen.


© 2008 Nikolas Westerhoff, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 12/2008, Seite 36 - 43
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009