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BERICHT/027: Interview mit Uta Frith - "Lernen ist ein kommunikativer Akt" (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 9/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

»Lernen ist ein kommunikativer Akt«


Wie begreifen Kinder die Welt? Unter welchen Bedingungen erwerben sie Wissen besonders gut? Welche Rolle spielt dabei die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen? Diese Fragen beschäftigen die renommierte Entwicklungspsychologin Uta Frith seit Jahrzehnten. Ihr Kredo: Der natürliche Wissenserwerb liefert das beste Vorbild für die Schule.


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UTA FRITH

geboren 1941 in Rockenhausen bei Kaiserslautern
studierte experimentelle und klinische Psychologie in Saarbrücken und London
Promotion und langjährige Forschungstätigkeit am University College sowie dem Medical Research Council in London
Mitbegründerin des Institute of Cognitive Neuroscience in London, wo sie die Abteilung für kognitive Entwicklungspsychologie leitete
Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien, darunter die Royal Society und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina
seit 2007 Research Foundation Professor an der Universität in Aarhus (Dänemark)
verheiratet mit dem Psychologen Chris Frith (siehe G&G 4/2008, S. 42), zwei Söhne

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Frau Frith, was versteht man unter »natürlicher Pädagogik«?

Kinder kommen mit der Erwartung zur Welt, dass ihnen etwas beigebracht wird. Sie reagieren von Anfang an höchst sensibel auf Signale, die ihnen die Bedeutung einer Information anzeigen und an denen sie erkennen: Achtung, jetzt kommt etwas, was ich mir merken sollte! Das lässt sich schon früh beobachten, etwa bei wenigen Monate alten Säuglingen: Wenn man sie durch Blickkontakt und Heben der Stimme auf die Wichtigkeit eines Objekts hinweist, sehen sie es länger an. Die Psychologen György Gergely und Gergely Csibra haben das in bahnbrechenden Experimenten gezeigt (siehe Zusatzinformation). Es gibt eine ganze Reihe metakognitiver Prozesse, die dem Lernen den Weg ebnen.

Was bedeutet »metakognitiv« in diesem Zusammenhang?

Wörtlich meint der Begriff so viel wie »denken über das Denken«. Darin liegt eine ganz große Stärke des Menschen: Er reflektiert sein eigenes geistiges Vermögen und das von anderen. Psychologen sprechen hier auch von »Theory of Mind«. Laufend bilden wir Hypothesen darüber, was unsere Mitmenschen im Schilde führen, wie sie uns sehen und welches Wissen und Können wir bei ihnen voraussetzen können. Das muss allerdings nicht bewusst ablaufen. Die Mechanismen, die das kindliche Lernen leiten, sind meist so subtil, dass sie uns im Alltag kaum auffallen. Vielleicht haben Forscher deshalb so lange gebraucht, sich ihrer anzunehmen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wenn ich in der Bahn sitze und Mitreisende beobachte, bin ich ständig dabei, im Geist die Perspektive zu wechseln. Der Mann da sieht müde aus, hatte bestimmt einen harten Tag. Die in dem dünnen Kleid dachte wohl, es sei wärmer draußen. Das passiert automatisch, ich merke es kaum. Eine wesentliche Erkenntnis der »natürlichen Pädagogik« ist nun, dass die Fähigkeit zu solchen mentalen Rollenwechseln das Lernverhalten von Kindern formt.

Funktioniert Lernen nicht ganz unterschiedlich, je nachdem ob es um Geschichtsdaten, Radfahren oder um ein verträgliches Sozialverhalten geht?

Das ist richtig. Ich beziehe mich hier aber auf eine tief verankerte Grundausstattung, die überall zum Tragen kommt. Bei der Suche nach dem Erfolgsrezept für effektives Lernen haben Forscher oft allein die Inhalte betrachtet, den zu lernenden Gegenstand. Dabei machen vielleicht gerade die sozialen und emotionalen Umstände den Unterschied. Natürlich muss sich ein Mathematiklehrer überlegen, wie er Formeln und Rechenwege didaktisch geschickt aufbereitet. Vermeintlich nebensächliche Faktoren sind aber ebenso wichtig, angefangen bei der Atmosphäre im Klassenzimmer bis zur Erlaubnis, Fehler zu machen oder selbst etwas austüfteln zu dürfen. Diese Faktoren entscheiden oft darüber, ob ein Lernstoff hängen bleibt oder nicht.

Sie meinen also, statt sich nur auf das Was zu konzentrieren, sollte man auch das Wie des Lernens betrachten?

Genau. Worauf es letztlich ankommt, ist dies: Lernende und Lehrende, Kinder und Eltern, Schüler und Pädagogen müssen sich aufeinander einstimmen. Wenn das Kind dafür nicht zugänglich ist, kann ich noch so oft die Augenbrauen heben oder meine Stimme modulieren. Ich muss es im richtigen Moment tun. Besonders offensichtlich wird das bei Autisten. Viele ihrer kognitiven Defizite gründen darin, dass sie die Bedeutung metakognitiver Signale nicht einschätzen können oder sie gar nicht wahrnehmen. Weil sie die Absichten und Gedanken anderer Menschen spontan nicht entschlüsseln können, ist es sehr schwierig, den Betroffenen gezielt bestimmtes Wissen zu vermitteln. Irrelevante Informationen haben für sie den gleichen Stellenwert wie das eigentlich Wichtige. Das zeigt: Lernen ist in hohem Maß ein kommunikativer Akt.

Wie hängt das mit dem Talent zusammen, sich in den Kopf anderer hineinzuversetzen?

Ich glaube, dass vieles von dem, was wir unter dem Begriff Metakognition zusammenfassen, letztlich im Selbstkonzept von Kindern wurzelt. Im Englischen gibt es dafür den Begriff self awareness, der nicht so leicht ins Deutsche zu übersetzen ist. Self awareness bezieht sich auf die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Das kann wie gesagt vollkommen implizit bleiben, also ohne, dass wir es recht mitbekämen oder steuern würden. Ein Sechsjähriger denkt ja nicht bewusst »Oh aufgepasst, der Lehrer räuspert sich, jetzt sagt er gleich etwas Wichtiges«. Dennoch verfehlt das Signal nicht seine Wirkung.

Fördert es auch das Lernen?

Erfolgreicher Wissenserwerb basiert auf mehr als nur auf Lehrdidaktik. Hier spielen geistige Prozesse hinein, die auf höherer Ebene angesiedelt sind. Kinder sind keine passiven Speicher oder Schwämme, aber sie nehmen andauernd für sie interessante Informationen auf. Heute begreifen wir, wie differenziert bereits die Kleinsten auf besonders wertvolles Wissen achten. Sie nehmen nicht unbesehen alles in sich auf, sondern selektieren aktiv. In Gesprächen mit Eltern oder Lehrern höre ich immer wieder diesen Satz: »Wenn sie (die Kinder) doch nur lernen würden, was wir ihnen sagen.« Ich denke dann oft, aber sie lernen doch - immerzu! Nur nicht immer genau das, was man ihnen vorgibt.

Halten Sie es für eine Illusion zu glauben, man könne Lernprozesse exakt steuern?

Man sollte sich jedenfalls von der Idee des »Eintrichterns« verabschieden. Das fördert nicht den Lernerfolg. Dafür braucht es ein funktionierendes Wechselspiel von Lehrenden und Lernenden.

Wie lassen sich metakognitive Fähigkeiten besser in der Schule berücksichtigen?

Indem man sie übt! In einer originellen Untersuchung haben Angela Davis-Unger und Stephanie Carlson von der University of Washington in Seattle Kinder gebeten, die Rolle von Lehrern einzunehmen. Ich denke, man sollte die Rollen von Lehrern und Schülern nicht immer strikt trennen. Viele Kinder profitieren davon, wenn sie einmal die Seiten wechseln und selbst erklären sollen. Das fördert die Fähigkeit zur Selbstreflexion unbewusst. Kinder sind außerdem oft viel eher bereit, von Altersgenossen zu lernen - es ist ganz natürlich für sie, sich mit Gleichaltrigen zu vergleichen und sich Dinge abzugucken.

Und das wiederum verbessert den Wissenserwerb?

Vielleicht nicht unmittelbar, aber Interesse, Motivation, Wichtiges von Unwichtigem trennen zu können - das sind Grundvoraussetzungen für nachhaltiges Lernen. Das meiste, das Kinder lernen sollen, ist mit keiner direkten Belohnung verbunden. Aus diesem Grund ist auch die Übertragbarkeit von Tierexperimenten begrenzt: Ratten lernen Assoziationen zwischen einfachen Reizen und damit gekoppelten Veränderungen in der Umwelt - Futtergabe oder Stromschläge zum Beispiel. In der Schule fallen ganz andere Faktoren ins Gewicht, etwa die Signale anderer richtig zu deuten.

Haben Sie Zweifel, dass sich Erkenntnisse aus der Lernforschung an Tieren auf den Schulunterricht übertragen lassen?

Menschen lernen viel mehr von anderen Menschen als aus eigener Erfahrung. Das hat riesige Vorteile: Wir müssen nicht alle die gleichen Fehler machen! Die soziale Weitergabe von Wissen mag ansatzweise bei einigen Affenarten zu beobachten sein, aber sie ist weit gehend ein Privileg des Menschen. Die Fähigkeit, Traditionen und Wissensbestände weiterzugeben und immer weiter auszubauen, bildet die Grundlage unserer Kultur. Und Kultur ist für mich gleichbedeutend mit Bildung.

Es heißt oft, schulisches Lernen solle Spaß machen. Dennoch muss man immer auch Durststrecken und Widerstände dabei überwinden. Ist das Ideal vom selbstbestimmten, fröhlichen Lernen nicht eine Illusion?

Ganz bestimmt. Lernen erfordert viel Selbstkontrolle, also das Vermögen, spontane Impulse zu unterdrücken, Belohnungen aufzuschieben. Fragen Sie ein Kind, ob es jetzt sofort einen Lolli haben will oder zwei in einer Stunde, dann wird es bei hoher Selbstkontrolle eher bereit sein zu warten. Und diese hängt statistisch gesehen enger mit dem schulischen Erfolg zusammen als der IQ.


Die Fragen stellte G&G-Redakteur Steve Ayan.


Quellen:

Davis-Unger, A., Carlson, S. M.: Development of Teaching Skills and Relations to Theory of Mind in Preschoolers. In: Journal of Cognition and Development 2009 (im Druck).

Duckworth, A., Seligman, M. E. P.: Self-Discipline Outdoes IQ in Predicting Academic Performance of Adolescents. In: Psychological Science 16, S. 939 - 944, 2005.


ZUSATZINFORMATION:

»Natural Paedagogy« - ein neues Forschungsprogramm

Heute richten Psychologen und Lernforscher ihr Augenmerk vermehrt auf jene metakognitiven Einflüsse, die das natürliche Lernen vom jüngsten Kindesalter an vorbereiten, prägen und begleiten. Dazu zählen etwa die Modulation der Stimme oder der Mimik. So etablierte sich in den letzten Jahren ein neues Arbeitsgebiet - die »Natural Paedagogy«.

Die Forschergruppe um György Gergely und Gergely Csibra an der Central European University in Budapest zeigte, wie stark der Blickkontakt zu Erwachsenen die Aufmerksamkeit von Babys lenkt. In einem Experiment sah eine Frau den Testsäugling zunächst direkt an und wandte sich dann einem von zwei vor ihr befindlichen Gegenständen zu. Der zuvor hergestellte Kontakt ließ den Blick des Kindes sehr viel länger beim jeweiligen Objekt verweilen.

Laut den Forschern strukturieren mimische und sprachliche Signale seitens der Eltern das kindliche Lernen, da sie zwischen wichtiger und unwichtiger Information unterscheiden helfen. Kinder lernen so, effektiver zu lernen.

(Csibra, G., Gergely, G.: Natural Paedagogy. In: Trends in Cognitive Sciences 13(4), S. 148 - 153, 2009.)


© 2009 Steve Ayan, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 9/2009, Seite 20 - 22
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2009