attempto! 28 - Mai 2010 - Forum der Universität Tübingen
Lehrerausbildung auf neuen Wegen?
Von Thorsten Bohl und Britta Kohler
Was müssen Lehrer können, und auf welchem Weg sollen sie die notwendigen Fähigkeiten erlernen? Während praktisch jedermann die richtige Antwort darauf weiß, sieht die Fachdisziplin Erziehungswissenschaft hier ihren »blinden Fleck«. Dennoch kommen die Bereiche Lehrerausbildung und Lehrerbildungsforschung allmählich in Bewegung.
Es gibt vermutlich keinen Beruf, über den in der Öffentlichkeit so viel geredet und geschrieben wird wie über den Lehrerberuf. Einerseits wird das berufliche Handeln von Lehrkräften immer wieder als defizitär beschrieben, andererseits wurden und werden Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit schwierigen Schülern auseinandersetzen müssen, auch wenig um ihre Tätigkeit beneidet. Schon vor ziemlich genau 500 Jahren schrieb Erasmus von Rotterdam in seinem Buch »Lob der Torheit«: Obenan stehen die Schulmeister (Grammatici). Das wäre, weiß der Himmel, eine Klasse von Menschen, wie sie unglücklicher, geplagter, gottverlassener nicht zu denken ist ... Nicht fünffacher Fluch nur, wie der Grieche sagt, nein hundertfacher lastet auf ihnen: mit ewig knurrendem Magen, in schäbigem Rock sitzen sie in der Schulstube - Schulstube sage ich? Sorgenhaus sollte ich sagen, besser noch Tretmühle oder Folterkammer - inmitten einer Herde von Knaben und werden früh alt vom Ärger, taub vom Geschrei, schwindsüchtig von Stickluft und Gestank.
Auf der anderen Seite finden sich auch positive Berichte - sowohl in der Literatur als auch im Alltagsgespräch. Praktisch jeder traut sich zu, kompetent über »gute« Lehrerinnen und Lehrer, über »guten« Unterricht und auch über die Frage zu sprechen, wie denn das eine oder andere zu erreichen sei.
Interessanterweise zeigt die Erziehungswissenschaft hier eine deutliche Zurückhaltung, insbesondere bei der Lehrerausbildung (und ihrer organisatorischen Ausgestaltung), für die ein Mangel an empirischer Evidenz oder eine »Krise der fehlenden Daten« festgestellt und die als »blinder Fleck« bezeichnet wird. In der Tat liegen viele Einzelbefunde vor, doch basieren diese auf teilweise sehr heterogenen theoretischen Zugangsweisen und sind an manchen Stellen sogar widersprüchlich.
Konsens ist, dass angehende Lehrer sowohl fachwissenschaftliche als auch fachdidaktische sowie allgemeindidaktische und erziehungswissenschaftliche Kompetenzen benötigen. Der Kompetenzbegriff weist darauf hin, dass es in der Lehrerausbildung nicht nur um die Frage der zu vermittelnden Inhalte gehen kann, sondern dass eine Verbindung von Wissen, Handeln und Reflexion angestrebt werden muss. Laut Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.10.2008 gilt: »Die inhaltlichen Anforderungen an das fachwissenschaftliche und fachdidaktische Studium für ein Lehramt leiten sich aus den Anforderungen im Berufsfeld von Lehrkräften ab; sie beziehen sich auf die Kompetenzen und somit auf Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, über die eine Lehrkraft zur Bewältigung ihrer Aufgaben im Hinblick auf das jeweilige Lehramt verfügen muss«.
Forderung nach reflektierter Praxis
Immer wieder diskutiert wird auch die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis, wobei sich hier ein weiteres Mal die Diskussionen in Öffentlichkeit und Fachwelt deutlich unterscheiden. Während in der Öffentlichkeit und häufig auch von Studierenden der Wunsch nach »mehr« Praxis in der Lehrerausbildung geäußert wird, fordern Erziehungswissenschaftler mehr reflektierte Praxis. Sie halten eine bloße Verlängerung praktischer Ausbildungsabschnitte für wenig zielführend. Praktische schulische Erfahrungen beinhalten ein großes Potenzial, das sich aber nicht per se entfalten muss. Im Gegenteil: Ein berufliches Hineinwachsen ohne das Aufzeigen von Alternativen in ein Schulsystem, in dem man selbst groß geworden ist und das von daher vertraut und irgendwie richtig erscheint, ist gänzlich ungeeignet für eine spätere wissenschaftlich fundierte und begründete Berufspraxis. So wie schon Johann Friedrich Herbart in seiner »Ersten Vorlesung über Pädagogik« im Jahre 1802 darauf hinwies, bloße Praxis sei eigentlich nur »Schlendrian« und ermögliche lediglich eine sehr beschränkte Erfahrung, so gibt 200 Jahre später Tina Hascher einem ihrer Aufsätze zu diesem Thema den Titel »Die Erfahrungsfalle«. Die Tendenz, selbst gemachten - und von daher unausweichlich begrenzten - Erfahrungen Bedeutung über den Einzelfall hinaus zu geben, ist scheinbar schwer zu verändern.
Deutschland hat für den Gymnasialbereich eine im internationalen Vergleich (zeit-)aufwendige Lehrerausbildung. In Baden-Württemberg folgt einem universitären Studium mit einer Regelstudienzeit von zehn Semestern (mit einem Schulpraxissemester in der Mitte des Studiums) ein eineinhalbjähriger Vorbereitungsdienst. Somit ist ein Übergang in den Beruf erst nach sechseinhalb Jahren Ausbildung möglich.
Derzeit studieren Lehramtsanwärter für das Gymnasium in Baden-Württemberg nach der Prüfungsordnung aus dem Jahr 2001. Vom Wintersemester 2010/11 an gilt die neue Prüfungsordnung aus dem Jahr 2009, die ein modularisiertes Studium mit dem Abschluss Staatsexamen vorsieht. Wie bisher schon dürfen zwei oder drei Fächer studiert werden. Zusätzlich zum Fachstudium absolvieren alle Lehramtsstudierenden unter anderem derzeit pädagogische Studien und künftig ein bildungswissenschaftliches Begleitstudium am Institut für Erziehungswissenschaft.
An der Universität Tübingen bilden die mehr als 4000 Lehramtskandidaten die größte Teilgruppe unter den Studierenden. In vielen Fächern ist über die Hälfte der Studierenden in einem Lehramtsstudiengang eingeschrieben. Es gibt sogar Fächer, in denen ihr Anteil bei rund 80 bis 90 Prozent liegt. Seit dem Wintersemester 2009/10 gibt es neben dem Studium für das Lehramt an allgemeinbildenden Gymnasien auch das Studium für das höhere Lehramt an beruflichen Schulen mit 30 Plätzen pro Studienjahr.
Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Jahren Bewegung in den Bereich der Lehrerbildung kommen wird. Einige Universitäten in anderen Bundesländern gehen derzeit neue Wege. Besonders interessant erscheint hier die Neugründung der »School of Education« an der Technischen Universität München. Hier gibt es erstmals eine eigene Fakultät für Lehrerbildung, in der alle Studiengänge für zukünftige Gymnasial- und Berufschullehrkräfte zusammengefasst sind. Für die Lehramtsstudierenden ergibt sich dadurch der große Vorteil eines inhaltlich und organisatorisch abgestimmten Studiums. Außerdem wurden bei der Neugründung Mittel für eine - nach hiesigen Maßstäben - große Zahl von Fachdidaktikprofessuren freigemacht, von denen sowohl in der Forschung als auch in der Lehre wertvolle Impulse ausgehen dürften.
Interessant erscheinen auch die Entwicklungen in der Lehrerbildungsforschung. Mit Spannung erwartet werden die Ergebnisse der internationalen Studie »Teacher Education and Development: Learning to Teach Mathematics« (TED-M) mit ihrer nationalen Erweiterung (TEDS-LT). Gleiches gilt für den internationalen Vergleich der Lehrerbildung, der im Rahmen des EU-Forschungsprojektes »Governance of Educational Trajectories in Europe« (GOETE) am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen durchgeführt wird (www.goete.de). Allerdings steht die Erforschung der Lehrerbildung erst am Anfang - während 4000 Lehramtsstudierende in Tübingen schon mitten im Studium stecken.
Britta Kohler ist Akademische Rätin und Privatdozentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen.
Thorsten Bohl ist seit 2007 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Tübingen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die empirische Unterrichts- und Schulforschung.
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Quelle:
attempto! 28 - Mai 2010, Seite 20-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2010