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BERICHT/032: Neurodidaktik - Bedeutung für Religionsunterricht und Theologiestudium (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2011

Wirklich neu?
Was die Neurodidaktik für Religionsunterricht und Theologiestudium bedeutet

Von Patrick Becker


Auch in der Pädagogik werden die Erkenntnisse der Hirnforschung rezipiert. Ist die so genannte Neurodidaktik nur eine Modeerscheinung? Oder gibt sie neue Anregungen für die Organisation von Lernprozessen an Schulen und Hochschulen - und damit auch für den Religionsunterricht und das Theologiestudium?


"Was der Magen für die Verdauung, die Beine für die Bewegung oder die Augen für das Sehen sind, ist das Gehirn für das Lernen", erklärt Manfred Spitzer (Lernen, Heidelberg, 7. Aufl., 2009, XIII). Entsprechend liegt für ihn auf der Hand, dass neurobiologische Erkenntnisse bei der Entwicklung didaktischer Konzepte berücksichtigt werden müssen. Mit dieser Forderung steht Spitzer für ein in den letzten Jahren stark gewordenes Programm, das sich inzwischen unter der Bezeichnung "Neurodidaktik" etabliert hat.

Ihren Durchbruch verdankt die Neurodidaktik dem rasanten Erkenntniszuwachs der Hirnforschung insbesondere im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der von Wissenschaftlern wie Gerhard Roth, Antonio Damasio oder Wolf Singer in die breite Öffentlichkeit getragen wurde. Dass daran anschließend in den letzten Jahren - nicht nur in der Neurodidaktik - praktische Umsetzungen diskutiert wurden, kann nicht überraschen. Damit einher geht jedoch der Vorwurf, dass es sich bei alledem nur um eine überbewertete Modeerscheinung ("neuromodisch") handle.


Grenzen der empirischen Hirnforschung

Die Neurowissenschaften arbeiten nicht direkt an mentalen Vorgängen, sondern beobachten Zellstoffwechselprozesse, die die biologische Basis für die Informationsverarbeitung im Gehirn darstellen. Das gibt der empirischen Hirnforschung und den darauf aufbauenden Disziplinen eine klare Grenze, da lediglich eine Grundstruktur des Lernens erfasst wird (vgl. Ulrich Herrmann, Neurodidaktik, 2. Aufl., Weinheim 2009, 9). Mit dieser vorsichtigen Programmansage bleibt die Hoheit der konventionellen Pädagogik und Lernforschung unangetastet, es wird jedoch ein neues Instrument für das Verständnis von Lernprozessen und ihren Voraussetzungen geschaffen.

Die Tübinger Pädagogin Nicole Becker widerspricht selbst diesem - relativ bescheidenen - Anspruch, da sie die Erkenntnisse der Hirnforschung für nicht aussagekräftig hält. Die Berechtigung ihres Einwandes liegt im aktuellen Forschungsstand: Wer die Erkenntnisse der Hirnforschung nüchtern sortiert, wird feststellen, dass wir zwar auf der Mikroebene des einzelnen Neurons weitgehendes Wissen erworben haben, dass dieses auf der Makroebene der Gehirnareale aber deutlich ausgedünnt und auf der Mesoebene der Vernetzung sogar kaum noch nennenswert ist. Wir können auf der Mikroebene den Aufbau eines Neurons, die elektrische und die chemische Signalweitergabe präzise nachvollziehen und darstellen. Wir können auf der Makroebene einige wesentliche Funktionen der Gehirnorgane angeben, auch wissen wir manches über die Plastizität des Gehirns. Aber wir können nicht auf der Mesoebene erklären - oder gar prognostizieren -, wie welche Informationen wo abgespeichert werden, warum welche Informationsverarbeitung wo stattfindet und schon gar nicht, warum welche Areale wie Bewusstsein erzeugen. Damit bleiben die zentralen Vorgänge im Gehirn nach wie vor unerklärt.


Die Schwächen der Hirnforschung auf der Mesoebene sind der zur Verfügung stehenden Messtechnik geschuldet. Die bildgebenden Verfahren, die den Durchbruch in den neunziger Jahren ermöglichten, - insbesondere die Positronenemissionstomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) - machen lediglich den Stoffwechsel (Blutfluss) sichtbar, der in den jeweiligen Gehirnregionen vorliegt. Sicherlich ist eine Korrelation von neuronaler Aktivität mit dem Stoffwechsel nicht zu bestreiten, sodass die bunten Hirnkarten, die mit den bildgebenden Verfahren erzeugt werden, durchaus Informationen zur Verfügung stellen. Allerdings wäre zum weiteren Verständnis auf der Mesoebene die direkte Beobachtung der Signalweitergabe im Gehirn nötig.


Das heißt aber nicht, dass wir nicht aus den bereits gewonnenen Erkenntnissen Gewinn ziehen könnten. Der Vorwurf von Nicole Becker wird von manchen Befürwortern der Neurodidaktik durchaus geteilt. Auch Gerhard Roth gibt freimütig zu: "Nichts von dem, was ich vortragen werde, ist einem guten Pädagogen inhaltlich neu", ergänzt aber: "Der Fortschritt besteht vielmehr darin zu zeigen, warum das funktioniert, was ein guter Pädagoge tut, und das nicht, was ein schlechter tut" (Warum sind Lehren und Lernen so schwierig?, in: Zeitschrift für Pädagogik, 50 [2004] 496-506, 496). Roth spricht der Neurodidaktik demnach eine Dienstleisterrolle zu, nach der sie die Pädagogik zu fundieren vermag.

In der Tat ist nicht einzusehen, warum es eine Schwäche sein soll, wenn die Schlüsse der Hirnforschung mit dem Stand der Pädagogik in Einklang stehen. Es verblüfft umgekehrt, welche Rückendeckung ausgerechnet die Neurobiologie für die bisher doch eher in der Wissenschafts-Schmuddelecke stehende Reformpädagogik bietet. Demnach könnte dem Vorwurf der "Kuschelpädagogik" gerade durch den Verweis auf die Neurobiologie begegnet werden, die erwiesen hat, dass unser Gehirn durch reformorientierte Pädagogik leistungsfähiger wird.


Lernen beruht auf neuronaler Vernetzung und verändert diese. Das Gehirn ist ein Netzwerk, dessen Mikrostruktur die persönliche Lernbiographie repräsentiert. Lernprozesse konstituieren das Gehirn, wie ohne Gehirn keine Lernprozesse stattfinden können.

Die gesamte Informationsverarbeitung auf der Ebene des Gehirnes entsteht dadurch, dass eine minimalistische Ja-Nein-Grundfunktion (das "Feuern" der Neuronen) in ein Netzwerk ungeheurer Größe eingebunden ist. Es gibt etwa 100 Milliarden Neuronen im Gehirn (vielleicht sogar eine Billion - die Schätzungen divergieren weit), die jeweils mit bis zu 10 000 Synapsen miteinander verbunden sind. Der Vorgang des Lernens findet dadurch statt, dass dieses Netzwerk umgestaltet wird. Die Anzahl der Neuronen selbst verändert sich dabei verblüffenderweise im Laufe des gesamten Lebens kaum. Wenn sich daher das Volumen des Großhirns im ersten Lebensjahr verdreifacht, liegt dies allem voran daran, dass die Vernetzung der Neuronen massiv zunimmt. Das Gehirn lernt also, indem es sich vernetzt. Dazu werden am Anfang auch Verbindungen geschaffen, die sich nicht bewähren und daher wieder stillgelegt werden. Das Gehirn befindet sich so in einem ständigen, lebenslangen Umbauprozess. Wenn wir uns in einer reizarmen Umgebung aufhalten, wird unser Gehirn ebenso umgebaut, aber tendenziell leistungsschwächer.

Den verschiedenen Veränderungsprozessen liegt eine Selbstorganisation des neuronalen Netzwerkes zugrunde, sie benötigen daher keinen von außen justierenden Geist. Wie sie funktionieren, kann zumindest auf der Ebene des einzelnen Neurons inzwischen einigermaßen nachvollzogen werden. Die Grunderkenntnis lautet, dass die Signale, die im Netzwerk übertragen werden, gleichzeitig eine Information über das Netzwerk selbst darstellen. Wolf Singer hat etwa gezeigt, wie kohärente und damit korrelierende Signale zu einer Stärkung der sie transportierenden Synapsen führt.


Lernprozesse unterscheiden sich je nach Alter

Wenn Lernen nur im Prozess des Umbaus der bestehenden Strukturen geschieht, heißt das für die Pädagogik, dass das Gehirn assoziativ lernt, indem es Neues mit Bekanntem verbindet. So erklärt die Neurobiologie zum einen, warum aller Anfang schwer ist: Es ist mühsam und langwierig, neue Strukturen im Gehirn aufzubauen; ungleich leichter fällt es uns, in unserem Fachgebiet weiteres Wissen zu ergänzen. "Lernen ist ein sich selbst stabilisierender und verstärkender Prozess: Je präziser man über etwas bereits weiß, desto leichter fällt das Hinzulernen passender Inhalte", fasst der Pionier der Neurodidaktik Gerhard Friedrich zusammen ("Neurodidaktik" - eine neue Didaktik?, in: Herrmann [Hg.]: Neurodidaktik, 272-285, 274).

Zum anderen wird aus dem assoziativen Lernprozess heraus verständlich, dass Lernen immer Konstruktion bedeutet. Unser Gedächtnis stellt keinen Speicher dar, der mittels eines Trichters beliebig gefüllt werden kann. Lernen ist ein aktiver Prozess, der bestehende Strukturen umbaut. Jeder Umbau geschieht innerhalb eines bestehenden Settings, deshalb kann eine neue Information nicht unbeeinflusst vom Bisherigen aufgenommen werden. Umgekehrt heißt das, dass die Strukturierung der Gehirnfunktionen in Abhängigkeit von ihrer Nutzung geschieht - unser Gehirn entwickelt sich so, wie wir es benutzen.

Noch ein dritter wichtiger Aspekt ist mit dem assoziativen Lernvorgang verknüpft: Im Gehirn werden emotionale und kognitive Seiten nur beschränkt getrennt. Jede von außen kommende Information wird automatisch mit Gefühl und Bedeutung versehen, noch bevor sie unser Bewusstsein erreicht. Dies beeinflusst nicht nur unsere Gefühlslage, sondern steuert auch, welche Informationen unsere Aufmerksamkeit erhalten und ins Bewusstsein vordringen. Denken und Emotionen sind untrennbar miteinander verknüpft, da jede Information einen "somatischen Marker" (Antonio Damasio) erhält. Gefühlsneutrales Lernen kann daher prinzipbedingt nicht stattfinden.

Die umfassende Vernetzung des Gehirns führt dazu, dass auch das Lernen umfassend in dem Sinne geschieht, dass wir nicht unvermittelte Einzelfakten speichern, sondern komplette Konstellationen. Das Gehirn ist zum Lösen von konkreten Problemen und zum Lernen von Problemlösungen optimiert, es soll einen Überlebensvorteil in komplexen Situationen bieten und damit insbesondere soziale Interaktion ermöglichen. Das Auswendiglernen von Datenblättern ist evolutiv nicht vorhergesehen.

Die Schwerfälligkeit des Gehirns bei einzelnen Fakten wird dadurch verstärkt, dass es daraufhin ausgerichtet ist, Allgemeines zu erfassen. Dem liegt ein überlebenswichtiges Prinzip zugrunde: Wir können dank dieser Verallgemeinerung mit der Flut von Daten, die auf uns in jedem Moment einströmt, umgehen. Im Allgemeinen begegnen wir der Welt mittels (im Neuronennetzwerk abgebildeten und daher neuronal nachvollziehbaren) Denkkategorien; nur deshalb können wir unsere Eindrücke schnell und praxisgerecht verarbeiten.


Im positiven Fall drückt sich das prinzipbedingte unablässige Lernen des Gehirns in einer Neugierde aus, wie sie bei einem Kind noch uneingeschränkt beobachtet und im weiteren Entwicklungsprozess positiv verstärkt oder gedämpft werden kann. Das "Neugierverhalten als die Suche nach bedeutungsvollen Erfahrungen ist angeboren und erlahmt bei bedeutungslosen oder nicht erklärungsbedürftigen Sachverhalten", so Herrmann (Neurodidaktik, 13). Wissbegierde wird also dadurch erzeugt, dass der Mensch auf für ihn interessante Aspekte stößt.

Allerdings kann der Mensch nicht in allen Lebensabschnitten auf alles gleich neugierig sein, es gibt in einem gewissen Rahmen eine Reihenfolge des Lernens vom Einfachen zum Komplexen. In der Kindheit und Jugend des Menschen benutzt das Gehirn einen raffinierten Trick, um diese Reihenfolge sicherzustellen. Das neuronale Netzwerk ist in diesen Lebensphasen so gestaltet, dass es nur dem Stadium entsprechende Lernprozesse verarbeiten kann. Dazu werden die verschiedenen Gehirnbereiche erst nach und nach "myelinisiert", das heißt mit einer Isolierung versehen, die eine schnellere Datenverarbeitung ermöglicht.


Die Rolle von Emotionen und Beziehungen

Bei der Geburt sind dies erst die primären sensorischen und motorischen Areale, die Areale für die höchsten reflexiven Prozesse werden erst ab der Zeit der Pubertät entsprechend versehen. Das Gehirn reift so und sorgt gleichzeitig dafür, dass es in der richtigen Reihenfolge und damit überhaupt lernt. Dieser Reifungsprozess bildet eine neurobiologische Erklärung für unterschiedliche Entwicklungsschritte in Kindheit und Jugend, die in der Psychologie beobachtet werden. Wenn alle Gehirnareale voll zur Verfügung stehen, heißt das allerdings umgekehrt, dass dieser Mechanismus nicht mehr vorliegt und daher die Lernprozesse von außen so gestaltet werden müssen, dass ein sinnvoller Fortschritt von den Grundlagen zu den komplexen Zusammenhängen stattfindet. Während Kinder einen "eingebauten Lehrer" (Spitzer, Lernen, 241) besitzen, muss dessen Funktion später durch Dozierende übernommen werden.


Die klassischen Konzepte von Schule und Universität werden hinterfragt

Für den Lernprozess ergeben sich aus dem Geschriebenen einige wesentliche Erkenntnisse: Lernen findet statt, wenn etwas unsere Aufmerksamkeit erregt, also einerseits eine gewisse Neuartigkeit und damit Herausforderung und andererseits für uns Bedeutung besitzt. Gegen das Bombardement mit Eindrücken und Informationen kann sich unser Gehirn bestens wehren, da es (überlebenswichtige) Selektionsmechanismen besitzt, die bestimmen, was zu unserem Bewusstsein vordringt.

Lernen ist prinzipbedingt mit Emotionen verbunden. Unsere Aufmerksamkeit wird durch bestimmte Emotionen gesteigert oder erst hervorgerufen. An dramatische Erlebnisse erinnern wir uns auch Jahre später genau; Sachverhalte mit emotionalem Bezug behalten wir deutlich besser. "Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen" (Spitzer, Lernen, 160). Gleichzeitig gibt es emotionale Zustände, die langfristiges Lernen erschweren. Dazu zählen vor allem chronischer Stress sowie Angst - was neurobiologisch etwa dadurch erklärt werden kann, dass Stresshormone die Glukoseaufnahme in das Gehirn und damit die Energiezufuhr vermindern. Extreme Angst führt zum Rückfall in evolutiv früh erlernte Muster ("fight or flight"), entsprechend können keine komplexen Problemlösungsstrategien angewandt werden.

Dagegen ist Vertrauen "das Fundament, auf dem alle unsere Entwicklungs-, Bildungs- und Sozialisierungsprozesse aufgebaut werden", hält Gerhard Hüther fest (Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die Strukturierung des menschlichen Gehirns, in: Zeitschrift für Pädagogik 50 [2004], 487- 495, 492). Ein einfacher Versuch bei einem Affenkind bestärkt diese Feststellung: Es geht beherzter auf ein neues Objekt in seinem Umfeld zu, wenn die Mutter anwesend ist.

Positive Emotionen werden zu einem starken Teil durch entsprechende soziale Resonanz (Beachtung, Zuwendung, Anerkennung) hervorgerufen, die das körpereigene "Belohnungssystem" (Joachim Bauer) durch das Zusammenspiel von motivationswirksamen Neuromodulatoren aktivieren. Dieser neurobiologische Befund wird ebenso in der Beobachtung von Affen gestützt, wie Norbert Sachser ausführt: "Im Gegensatz zu Affen, die im Sozialverbund aufwachsen, verhalten sich einzeln groß gewordene Tiere in neuen Situationen furchtsam und depressiv, gegenüber fremden Artgenossen jedoch hyperaggressiv" (Neugier, Spiel und Lernen. Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit, in: Zeitschrift für Pädagogik 50 [2004], 475-486, 478).


Lernen muss also aktiv geschehen, da Wissen nicht übertragen werden kann, sondern im Gehirn eines Lernenden neu geschaffen werden muss. Wenn Lernen immer im Kontext einer Herausforderung für uns steht, muss eine wichtige Aufgabe von Lehrenden sein, Schülern und Schülerinnen oder Studierenden auf ihre Fähigkeiten angemessene Herausforderungen anzubieten und auf dem Weg der eigenen Lösungsfindung zu begleiten. Einzelheiten werden dann vom Menschen gut aufgenommen, wenn ihr Sinn im Gesamthorizont einer Herausforderung gesehen wird. Daher ist es wichtig, in Lernsituationen das Wozu deutlich zu machen. Damit wird es auch leichter gemacht, das Neue mit bereits vorhandenen Erfahrungen in Verbindung zu bringen.

Diese Erkenntnisse hinterfragen die klassischen Konzepte von Schule und Universität und verlangen einen Mentalitätswechsel weg von der Wissensvermittlung hin zur Begleitung von Lernprozessen, bei denen anhand einer konkreten Herausforderung eine bestimmte verallgemeinerbare Problemlösestrategie entwickelt wird. Die Art dieser Problemlösestrategie divergiert mit dem (Hoch-)Schultyp. Während in den ersten Schuljahren das Bilden von Sätzen eine Herausforderung darstellt, dürfte es in der Theologie zum einen um übergreifende Denk- und Sprachfähigkeiten, zum anderen um theologietypische Themen gehen. Eine Theologin, ein Theologe sollte am Ende des Studiums etwa mit der Bibel umgehen, Konzepte für die Gemeindearbeit umsetzen und ethische Aussagen beurteilen können. Entscheidend ist dabei nicht, dass die Wissensvermittlung vermindert oder gar abgeschafft wird, sondern dass das Wissen in einen Kontext gestellt und damit in einen Lernprozess eingebettet wird und dieser dann auch über die Ebene des Wissens hinausgeht. Wenn ich etwa die Fähigkeit zum ethischen Urteil erwarte, muss exakt das - also das eigenständige Urteilen - in den Lehrveranstaltungen stattfinden. Eine Prüfung sollte entsprechend nicht das dargebotene Wissen abfragen, sondern die ethische Urteilsbildung verfolgen, etwa indem den Prüflingen konkrete Situationen zur Bewertung vorgelegt werden.


Der Mentalitätswechsel, den die Neurodidaktik fordert, findet eine weitere wesentliche Komponente in einer dritten zentralen Erkenntnis der Hirnforschung. Sie besteht darin, dass Lernen immer mit einer emotionalen Seite gekoppelt ist. Damit gerät der Lernkontext in den Blick. Eine entspannte Atmosphäre, ein geschützter Raum und Vertrauen sind zentrale Voraussetzungen, damit sich Neugierde und Kreativität entfalten können. Leistungsstress und Versagensängste sind natürliche Gegner des nachhaltigen Lernens. Damit stellt die Neurobiologie der Pädagogik die Aufgabe, eine gelungene Mischung aus Anforderung und Entspannung zu entwickeln.

Nicht nur die Atmosphäre im Zimmer und in der Klasse, sondern insbesondere auch das Auftreten des Lehrers oder der Lehrerin kommen so in das Blickfeld. Alle Umstände werden vorbewusst mit den Lerninhalten gekoppelt und sollten positiv konnotiert sein. Eine zentrale Aufgabe der Lehrenden besteht darin, Erfolgserwartung zu signalisieren, die Neugierde zu fördern und das Selbstbewusstsein der Lernenden zu stärken.

Die soziale Komponente muss auch über die Lehrenden-Lernenden-Beziehung hinaus Beachtung finden. Das gemeinsame Lernen und die Arbeit in Gruppen fördern Lernprozesse. "Wer also Kindern nicht einfach nur mehr Wissen vermitteln, sondern sie zu kompetenten, starken und selbstbewussten Persönlichkeiten erziehen will, muss in Beziehungen denken und in Beziehungsfähigkeit investieren", schlussfolgert Hüther (Die Ausbildung von Metakompetenzen und Ich-Funktionen während der Kindheit, in: Herrmann [Hg.], Neurodidaktik, 99-108, 108).


Problemlösungsstrategien lernen

Für den Lernprozess bedeutet das, dass er als Beziehungsgeschehen stattfindet. Dazu wären kleine Klassenstärken und überschaubare Seminargrößen wünschenswert. Allerdings finden sich auch Wege, Vorlesungen lernprozessorientiert anzulegen. Selbst in Vorlesungen können die Studierenden Eigenarbeiten durchführen, auch wenn es dort nicht möglich sein sollte, alle Ergebnisse im Plenum vorzustellen. Lernprozesse können auch in großen Gruppen etwa über Lerntagebücher oder Portfolios dokumentiert werden; zumindest wird so das Bewusstsein für die eigenen Fragen, die eigene Positionierung zum Thema und das Nachdenken über Lösungsstrategien gestärkt.

Der Korrekturaufwand muss damit nicht zwangsläufig in die Höhe schnellen. Lernende können sich gegenseitig und unabhängig von den Lehrenden eine Rückmeldung geben. Der Lernprozess kann auch in Kleingruppen besprochen werden, etwa indem die Lerntagebücher oder Portfolios als Basis genommen werden. Damit würde zugleich eine zweite wesentliche Fähigkeit - vielleicht die wichtigste überhaupt - trainiert: die zur (Selbst-)Kritik. Lernende können ihre eigene Leistung und die anderer durchaus realistisch einordnen, wenn sie dazu angeleitet werden und konkrete Kriterien an die Hand bekommen. Leider ist es zumindest im universitären Konzept bisher geradezu unüblich, vor Prüfungen Kriterienkataloge zu erstellen und diese vorab zu kommunizieren.


Wer Lernende in diesem Sinne ernst nimmt, als Forderer und Förderer ihres eigenen Lernprozesses auftritt, wird die eigenen Interessen, Fragen und Antworten zumindest ein Stück in den Hintergrund rücken. Eine wesentliche akademische Befähigung besteht im eigenständigen Fragen, so dass in Unterricht und Lehre die Fragen der Lernenden aufzugreifen sind. Warum sollten Studenten eines Masterstudiengangs nicht das Großthema eines Seminars bei der ersten Sitzung anhand der eigenen Interessen gliedern dürfen? Der oder die Dozierende wird dann beratend tätig sein, bei der Themeneingrenzung helfen, Literaturhinweise machen und Rückmeldungen auf die Vorschläge und Beiträge der Studierenden geben.

Diese Einsichten sind nicht wirklich neu, wie die eingangs erwähnte Kritikerin der Neurodidaktik, Nicole Becker, zu Recht feststellt. Seit Beginn der (Reform-)Pädagogik werden die genannten zentralen Elemente gefordert. Sie lassen sich etwa bei Johann Amos Comenius (1592-1670) finden, bei Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) oder bei Peter Villaume (1746-1806). Aber das sollte nicht zu einer Ablehnung der Neurodidaktik führen, sondern zu einer Verstärkung der Anliegen der Reformpädagogik.


Die Studienreform und der sowohl im Schul- als auch Hochschulkontext diskutierte Kompetenzbegriff (vgl. HK, September 2010, 460 ff.; November 2010, 588 ff.; Patrick Becker [Hg.]: Studienreform in der Theologie, Münster 2011) ergeben nur dann Sinn, wenn sie mit den dargestellten inhaltlichen Grundlagen unterfüttert werden. Das grundsätzliche Ansinnen der Studienreform besteht darin, dass die studentischen Lern-prozesse in den Blick genommen werden, von einer Inputorientierung zu einer lernbegleitenden Forderung und Förderung gewechselt wird und nicht Faktenwissen sondern Problemlösestrategien im Vordergrund stehen. Dass dieses Ansinnen von der Neurobiologie gedeckt ist, sollte die Studienreform wie auch die Reformpädagogik stärken - und damit der Neurodidaktik ihre Berechtigung geben.


Patrick Becker (geb. 1976), Dr. theol., arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der RWTH Aachen am Dialog zwischen Naturwissenschaften und der Theologie. Als Geschäftsführer der Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung kanonischer Studiengänge in Deutschland (AKAST) war er 2009 bis 2010 mit der Studienreform befasst.


LITERATUR:

Nicole Becker:
Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik, Bad Heilbrunn 2006

Patrick Becker (Hg.):
Die Studienreform in der Theologie. Eine Bestandsaufnahme, Münster 2011

Sarah-Jayne Blakemore und Uta Frith:
Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß, München 2006

Ralf Caspary (Hg.):
Lernen und Gehirn. Der Weg zu einer neuen Pädagogik, 6. Aufl., Freiburg 2009

Peter Gasser:
Gehirngerecht lernen. Eine Lernanleitung auf neuropsychologischer Grundlage, Göttingen 2010

Ulrich Herrmann (Hg.):
Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen, 2. Aufl., Weinheim 2009

Manfred Spitzer:
Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, 7. Aufl., Berlin 2009


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 3, März 2011, S. 144-149
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2011