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FORSCHUNG/015: Jungen als schwaches Geschlecht? (Agora/Uni Eichstätt-Ingolst.)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2006

Jungen als schwaches Geschlecht?

Von Klaudia Schultheis


"Kleine Kerle in Not", "Böse Buben, kranke Knaben" - viele Medien sehen Jungen in einer kollektiven Krise. Doch wie sehen das die "Betroffenen" selbst? Eine Forschergruppe analysierte Gruppendiskussionen von Grundschülern.


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Jungen haben in den letzten Jahren häufig die Aufmerksamkeit der Medien gefunden. Angeregt wurde die öffentliche Diskussion über Probleme und Defizite von Jungen vor allem durch die internationale Schulleistungsstudie PISA, die zeigte, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen eklatante Defizite in den so genannten Basiskompetenzen wie der Lesefähigkeit haben. Der Kanon der Jungenprobleme, der der Öffentlichkeit präsentiert wird, bezieht sich aber nicht nur auf schulische Probleme, sondern umfasst auch physische und soziale Aspekte. Gründe für die Defizite der Jungen werden vor allem im Fehlen männlicher Vorbilder, der Vernachlässigung der Jungen durch die Schule oder einer generellen Krise der Männlichkeit gesehen.

Diese aktuelle Diskussion war ein wichtiger Anstoß für die Gruppe aus Eichstätter, Ludwigsburger und Freiburger Forscherinnen und Forscher unter der Leitung von Prof. Dr. Klaudia Schultheis (KU) Prof. Dr. Gabriele Strobel-Eisele (PH Ludwigsburg) und Prof. Dr. Thomas Fuhr (PH Freiburg), Jungen zum Forschungsgegenstand zu machen. Dazu kommt, dass sich Aussagen über Jungen bisher überwiegend auf Daten quantitativ-empirischer Bildungsforschung stützen oder gar keine empirische Grundlage haben. Letzteres gilt vor allem für Annahmen über die Sozialisation und Identitätsentwicklung von Jungen von Seiten der kritischen Männerforschung, aber auch für sozial- und schulpädagogische Konzepte der Jungenarbeit, die aus der Praxis heraus entstanden sind. Der Bedarf an empirischem Wissen ist jedoch besonders für die Entwicklung pädagogischer Ansätze der Jungenförderung gegeben.

Doch welche Einschätzung haben Jungen in Bezug auf sich selbst? Wie sehen sie ihre Welt, wo haben sie nach ihrem eigenen Urteil Schwierigkeiten, aber auch Stärken? Was erwarten sie von ihren Eltern und von der Zukunft, wie erleben sie Freundschaften und die Schule mit ihren Anforderungen und welche Bedürfnisse haben sie? Die Erwartung war dabei, sich verstetigende Muster bezüglich der Selbstpräsentation der Jungen, der interaktiven Formen und der bevorzugten Wahl und Gestaltung von Themen beobachten zu können, die für Jungen von Interesse sind.

Mit diesem Ansatz einer pädagogischen Kinderforschung hat die Forschergruppe relatives Neuland betreten, insbesondere weil es zur im Projekt zum Einsatz kommenden Methode der Gruppendiskussion noch kaum Erfahrungen mit Kindern gibt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Interviewer im Hintergrund bleibt und allenfalls Impulse bereithält, um das Gespräch der Gruppe anzustoßen oder in Gang zu halten. Das Gruppendiskussionsverfahren bietet den Kindern die Möglichkeit, ihr gemeinsames Erleben in ihrer Sprache und in ihrem eigenen Diskursstil zu thematisieren. Die Gespräche lassen sich als Dokumente der kollektiven Erfahrung der Kinder verstehen, weil die beteiligten Kinder dem gleichen institutionellen Rahmen "Schule" angehören und zumindest diesbezüglich einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund aufweisen. Welche Lebensbereiche jeweils zum Thema gemacht werden, entscheiden im Verlauf einer Gruppendiskussion die Kinder einer Gruppe selbst. Im Kommunikationsprozess der Gruppendiskussion bilden sich kindliche Orientierungsmuster ab, die sich den Erwachsenen nicht ohne weiteres erschließen, sondern der Interpretation und Rekonstruktion im qualitativen Forschungsprozess bedürfen.

Insgesamt hat die Forschergruppe zwölf Gruppendiskussionen mit Jungen aus dritten Grundschulklassen im Raum Eichstätt, in Ludwigsburg und in Freiburg durchgeführt. Die Gruppendiskussionen wurden mit Video aufgezeichnet, transkribiert und mit MaxQDA codiert. Zur Anwendung kamen unterschiedliche Auswertungsmethoden, insbesondere die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring und die Grounded Theory.

Untersucht wurde beispielsweise das Verhältnis der Jungen zu Regeln und sozialen Erwartungen unter dem Gesichtspunkt der "Anomie". Mit Anomie ist dabei ein verbal bekundetes, nicht den Regeln entsprechendes Verhalten gemeint, das sich überwiegend auf leichtere Formen der Nichtangepasstheit bezieht und sich zudem als Geschlechter differenzierendes Merkmal ausweisen lässt. Dabei wurde deutlich, dass Jungen gern Grenzen testen, imponieren wollen, ärgern und necken, herumtoben, raufen und Ärger in Kauf nehmen, weil diese Erfahrung für sie mit Lust und Spaß besetzt ist. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass draufgängerisches Verhalten, Imponiergehabe und Angebertum bei Jungen nicht so sehr auf Geschlechtsrollenstereotype zurückzuführen sind und auch nicht auf soziale Anerkennung zielen, wie dies in der Geschlechterdiskussion häufig gesehen wird. Vielmehr scheinen darin hohe Anteile an spontanen, primären Neigungen zu liegen, die die Entwicklung von Eigenschaften, die mit Mut, Selbstbewusstsein und emotionaler Unabhängigkeit zu tun haben, begünstigen.

Die Ergebnisse widerlegen die in der Jungenforschung verbreitete These, dass sich Jungen in einer emotional belasteten Spannungssituation befänden und dass Jungen vor allem den Umgang mit Angst und Schwäche lernen müssten, woraus dann die Notwendigkeit einer sozialpädagogischen "Jungenarbeit" auch in der Schule abgeleitet wird. Aus der Sicht pädagogischer Kinderforschung darf der Hang der Jungen zur Abweichung nicht unter moralischen Generalverdacht gestellt oder als Gewaltneigung verstanden werden, sondern erfordert, ihm mit entsprechenden Angeboten zum kontrollierten Ausleben zu begegnen und ihm andererseits aber auch durch Grenz- und Regelsetzung konsequent pädagogisch entgegenzutreten. Auch die Untersuchung der Interaktionsformen von Jungen gibt keinen Hinweis darauf, dass Jungen in ihrer Identität verunsichert seien, wie dies in der Jungenliteratur häufig behauptet wird. Deutlich wurde vielmehr, dass Jungen meisterhaft die Kommunikationsform der scherzhaften Geselligkeit beherrschen, mit der sie in der Gruppe ihr Jungensein gemeinsam inszenieren. Dies ermöglicht allen Jungen, die Jungenkonzepte der Gruppe zu übernehmen. So setzen sich die Jungen in ihren Interaktionen mit dem Konzept der hegemonialen Maskulinität auseinander und entwickeln auch eine Vorstellung über das Verhalten eines "richtigen Jungen". Das Erlernen eines Konzepts von Junge-Sein kann dabei in verschiedenen Formen erfolgen. Bei der inkludierenden scherzhaften Geselligkeit zeigen sich Jungen gegenseitig situierte Konzepte ihrer Identität als Jungen, wobei offensichtlich durch Wiederholung bestimmte Figuren erlernt werden. Es findet sich aber auch der exkludierende Kampf, in dem einzelne Kinder ausgegrenzt werden. In beiden Fällen lernen die Jungen mitgängig jungentypische Verhaltens- und Handlungsformen. Die Untersuchung macht außerdem deutlich, dass Geld für die Jungen als Ausdruck für Wünsche, Sehnsüchte und sozialen Erfolg steht und im Denken und Erleben der Jungen eine bedeutende Rolle spielt. Der Satz eines Jungen "Ich werd Fußballer und Millionär" repräsentiert, wie für die Jungen Fragen der Berufswahl, des sozialen Ansehens und der Lebensqualität im Erwachsenenalter mit dem Thema Geld verbunden sind.

Weitere Erkenntnisse der Forschungen betreffen die Beziehung der Jungen zu ihren Vätern. Hier zeigte sich, dass der Vater für die Jungen ein Rollenvorbild und Identifikationsobjekt par excellence ist. Väter sind Beziehungspartner, mit ihnen wollen die Jungen zusammen sein, mit ihnen können sie fühlen und sich mit ihnen messen. Den Jungen ist dabei bewusst, dass ihre Väter selbst einmal Jungen wie sie waren und dass sie selbst einmal Vater sein können und damit auch Verantwortung zu übernehmen haben.

Mit den bisher vorliegenden Ergebnissen ist das vorhandene Datenmaterial noch lange nicht ausgeschöpft. Vorgezeichnet werden aber erste Konturen einer sich neu konstituierenden pädagogischen Kinderforschung, die ermöglicht, Lern- und Erfahrungsprozesse von Jungen zu beschreiben und zu analysieren, um zu einer realistischen Einschätzung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen zu gelangen.

Die bisherigen Forschungsergebnisse machen auf jeden Fall deutlich, dass sich das in der jüngsten Diskussion in den öffentlichen Medien oder in den populären Erziehungsratgebern verbreitete Bild der "armen" und benachteiligten Jungen nicht halten lässt. Jungen haben sich der Forschungsgruppe mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattet gezeigt. Am interessantesten erscheint dabei ihre Fähigkeit, unproblematisch zwischen dem traditionellen und dem modernen Männerbild und den jeweiligen Rollenerwartungen hin- und her zu "switchen", wobei für sie dabei kein Widerspruch und schon gar kein Identitätsproblem entsteht. Jungen fällt es leicht, zwischen den entsprechenden Diskursen zu wechseln und sie scheinen eine genaue Vorstellung davon zu haben, wie Jungen sind und wie man sich von den Mädchen abzugrenzen hat. Das "Mädchen-sind-doof"- Thema, die von uns häufig beobachtete Form des gegenseitigen Übertrumpfenwollens oder die oft kommunizierten Berufswünsche von Pilot, Astronaut oder Fußballer zeugen davon. Das hindert die Jungen nicht daran, über Zukunftsängste, Tod und Sterben und überhaupt über Emotionen zu sprechen, oder auch "unmännliche" Themen wie "Kinderkriegen" aufzugreifen. Jungen können sehr wohl differenziert über Gefühle sprechen; sie können gut Gespräche führen, aufeinander eingehen und können auch dafür sorgen, dass alle zu Wort kommen. Die bisherigen Ergebnisse geben genügend Hinweise auf entsprechende Kompetenzen der Jungen.


Literatur:
Schultheis, Klaudia / Strobel-Eisele, Gabriele /Fuhr, Thomas (Hrsg.): 'Kinder: Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung'. Kohlhammer Verlag: Stuttgart 2006.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2006, Seite 14+15
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick am 6. Dezember 2006