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SCHULE/244: Lernen fürs Leben - Konzepte und Kompetenzen (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 3/2008

Lernen fürs Leben - Konzepte und Kompetenzen
Forscherinen und Forscher am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften bearbeiten das "System Schule"

Von Dr. Isabell Lisberg-Haag


Bildungsbarometer, Lehrerfortbildung, einheitliche Standards - schulische Bildung steht seit der ersten PISA-Studie in Deutschland auf dem Prüfstand. Politiker ringen zäh um Reformen, Eltern und Kinder sind verunsichert. Am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) arbeiten seit 42 Jahren auf diesen Feldern engagierte Forscherinnen und Forscher - jenseits von tagespolitischen Forderungen. Didaktiker, Pädagogen und Psychologen prüfen die Qualität von mathematisch-naturwissenschaftlichem Unterricht, führen bundesweite Modellprojekte durch und haben die beiden letzten PISA-Erhebungen in Deutschland koordiniert.


"In Mathe war ich immer schlecht, und im Fach Chemie habe ich völlig abgeschaltet." Bei solchen Geständnissen stoßen Erwachsene oft auf lächelnde Zustimmung. Das Bekenntnis, in Deutsch nur mangelhaft abgeschnitten zu haben, kommt dagegen niemandem über die Lippen - zu peinlich. Ein solches Kokettieren mit naturwissenschaftlichen Lücken ist fatal, findet Professor Manfred Prenzel, Geschäftsführender Direktor des IPN: "Ohne ein bestimmtes naturwissenschaftliches Grundverständnis, der so genannten 'Scientific Literacy', können junge wie ältere Menschen heute Diskussionen zu den Themen Umwelt, Energie, Verkehr oder Erderwärmung nicht wirklich verfolgen und verstehen."

Im Gegensatz zu dem in Deutschland oft überhöhten Bildungsbegriff ist der "Literacy-Ansatz" pragmatisch. "Die generelle Frage bei der Curricula-Entwicklung lautet: Welche Konzepte sollen die Schülerinnen und Schüler verstanden haben? Keine Details, die im Internet jederzeit nachgeschaut werden können, sondern Reduktion auf Kernbereiche", beschreibt Manfred Prenzel den neuen Ansatz.


Lehrkräfte ernst nehmen

In sieben Arbeitsbereichen des IPN (siehe Kasten) wird interdisziplinär und international geforscht. Dabei geht es nicht um abgehobene Theorie, sondern um heutige Schulrealität. Dazu gehört, vorhandene Schwächen im naturwissenschaftlichen Unterricht aufzudecken, jedoch den Lehrkräften keine vorgefertigten Konzepte vorzusetzen. "Lehrerinnen und Lehrer haben ihre eigenen Routinen entwickelt. Diese wollen wir nicht zerstören, sondern ausbauen", sagt Prenzel. Ein Beispiel dafür ist das SINUS-Programm, ein Modellversuch zur Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts. IPN-Forscher identifizierten insgesamt elf Problembereiche im Schulalltag. Dazu gehören beispielsweise die Organisation von Gruppenarbeit, Experimente, Lernen aus Fehlern oder Qualitätssicherung. Jede Schule konnte sich aus diesem Katalog die für sie drängendsten Probleme heraussuchen und damit eigene Schwerpunkte der Reformarbeit setzen.

Die Ergebnisse sind ermutigend: Die befragten Schülerinnen und Schüler berichteten, dass in ihrem Unterricht häufiger als vorher Alltagsbezüge hergestellt wurden, sie selbstständiger und in verschiedenen Arbeitsformen aktiv waren. Auch in ihren Leistungen zeigten sich deutliche Fortschritte. Die Herausforderung besteht jetzt darin, diese Ansätze weiter zu verbreiten.


Lernen im Kontext

IPN-Forschung bedeutet nicht nur, Bestehendes zu analysieren und zu verbessern, sondern neue Konzepte zu entwerfen und sie gemeinsam mit Schulen umzusetzen. In Kiel arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an drei "Kontext-Projekten" für die Fächer Chemie, Physik und Biologie. In diesen drei Projekten entwickeln Lehrerinnen und Lehrer mit der Unterstützung von Fachdidaktikern aus dem IPN Unterricht, in dem die fachlichen Inhalte in für die Lernenden sinnstiftenden Kontexten aus Technik, Alltag und Gesellschaft vermittelt werden.

In Schleswig-Holstein ist aus den Kontext-Erfahrungen ein Projekt für einen fächerübergreifenden naturwissenschaftlichen Unterricht in den Klassen 5 und 6 sowie in der Oberstufe entstanden. Die Direktorin der Abteilung "Didaktik der Biologie", Professorin Ute Harms, und der Direktor der Abteilung "Didaktik der Chemie", Professor Demuth, leiten gemeinsam diese zwei Projekte. Reinhard Demuth verdeutlicht die Kontext-Orientierung in seinem Fach: "Aktuelle Fragen unserer Zukunftsgestaltung gehören in den modernen Chemieunterricht: Mobilität oder Nahrung für die wachsende Weltbevölkerung interessieren junge Menschen und stärken ihr Interesse an Naturwissenschaften."

Nationale Bildungsstandards beschreiben, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit erwerben sollen. Im Zusammenhang damit steht eine Vielzahl von Forschungsfragen. Wie diagnostiziere ich als Lehrkraft zum Beispiel die Kompetenz eines Schülers oder einer Schülerin? Welche Dimensionen einer Kompetenz lassen sich empirisch nachweisen? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen Kompetenzmodelle entwickelt und validiert werden. Auch hierzu finden Arbeiten in den Kontext-Projekten statt.


Der Charme des Knobelns

Die Mathematiklehrer an Deutschlands Schulen arbeiten zu selten prozessorientiert - davon ist Professor Aiso Heinze überzeugt. Der Mathematikdidaktiker baut eine entsprechende Abteilung am IPN auf. Er wünscht sich, dass Schülerinnen und Schüler in den Mathestunden den Charme des Knobelns entdecken: "Die Lehrkräfte haben häufig einen Lösungsweg im Kopf und erarbeiten diesen Stück für Stück. Bis Mathematiker eine Formel oder einen Beweis gefunden haben, probieren sie sehr viele verschiedene Wege aus. Sie irren sich, gehen einen neuen Weg - das ist Mathematik." Viele Schülerinnen und Schüler hingegen sind überzeugt, dass sie den einzig richtigen Lösungsweg finden müssen. "Klappt das nicht, denken sie, dass sie nicht für Mathematik begabt sind", beobachtet Aiso Heinze.

Um den verschiedenen Stadien und Brüchen von individuellen "Mathekarrieren" auf die Spur zu kommen, untersucht der Wissenschaftler die gesamte Mathe-Bildungskarriere eines Menschen von der Vorschule bis zum Studium - so etwa in der Grundschule, wie Kinder geschickte Rechenstrategien entwickeln. Darüber hinaus erprobt er didaktische Konzepte und analysiert ihre Wirkungen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am IPN fordern Schulreformer, Lehrer und Eltern auf, offener für Neues zu sein. Ein Befund zieht sich durch alle Fächer: Grundschulen sind von allen Schulformen am reformfreudigsten; die jungen Schüler sind besonders lernbereit und aufgeschlossen.


Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften

Das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) betreibt Forschung zur naturwissenschaftlichen und mathematischen Bildung mit überregionalem und gesamtstaatlichem Bezug. In den sieben Arbeitsbereichen wird interdisziplinär zu neuen pädagogischen Konzepten geforscht und es werden Probleme der naturwissenschaftlichen Bildung identifiziert und die pädagogische Praxis weiterentwickelt. Das IPN koordinierte die PISA-Erhebungen 2003 und 2006 in Deutschland. 2006 war das IPN eines von fünf internationalen Testentwicklungszentren. Arbeitsbereiche:

• Ziele und Perspektiven naturwissenschaftlicher Bildung
• Modelle des Lehrens und Lernens in den Naturwissenschaften
• Innovative Konzepte für den naturwissenschaftlichen Unterricht
• Computergestützte Kompetenzdiagnostik und Methodenforschung
• Bildungsmonitoring
• Schulisches und außerschulisches Lernen über die Lebensspanne
• Transfer und Service

Gründung: 1966 von Prof. Dr. Karl Hecht als Reaktion auf den Sputnik-Schock (1957)
Geschäftsführender Direktor: Prof. Dr. Manfred Prenzel
Mitarbeiter: 148
Grundfinanzierung: 6,7 Mio. Euro
Drittmittel: 6,1 Mio. Euro


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2008, Seite 18-19
Herausgeber: Leibniz-Gemeinschaft
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Telefon: 0228/30 81 52-10, Fax: 0228/30 81 52-55
Internet: www.leibniz-gemeinschaft.de

Jahresabonnment (4 Hefte): 16 Euro, Einzelheft: 4 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2008