Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PÄDAGOGIK

SCHULE/252: Zensuren - Nicht der Weisheit letzter Schluß (Bi.research - Uni Bielefeld)


BI.research 33.2008
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Nicht der Weisheit letzter Schluss: Zensuren
Auf der Such nach sinnvoller Leistungsbeurteilung

Von Dr. Hans-Martin Kruckis


Schon ein kurzes Brainstorming lässt einen über die Vielzahl und Heterogenität der Dimensionen von Zensuren staunen: Sie sollen Leistungsfähigkeit dokumentieren und intern wie extern Orientierungsmaßstäbe geben, sie sollen motivieren, können aber auch der Disziplinierung dienen, sie stellen Rangfolgen im Klassenverband fest, und sie haben Selektionsfunktion, was Karrierechancen angeht. Das wiederum hat rechtliche Implikationen: Die Vergabe von Zeugnissen im öffentlichen Bildungswesen ist ein Verwaltungsakt und muss daher rechtlichen Kriterien Stand halten. Und dann soll die Vergabe von Zensuren natürlich transparent und intersubjektiv nachvollziehbar erfolgen. "Völlig illusionär, dass Zensuren ihre unterschiedlichen Funktionen gleich gut erfüllen können", sagt dazu der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann. Er ist Wissenschaftlicher Leiter der Bielefelder Laborschule und hat sich auch über darüber hinaus intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Er erinnert daran, dass Zensuren eine relativ neue Errungenschaft sind und ihre Einführung nicht aus pädagogischen Gründen erfolgte. So ist erst seit 1834 das Abitur in Preußen Einstiegsvoraussetzung für das Studium, seitdem haben sich auch Zensuren im Gymnasium etabliert. In der Grundschule gab es erst seit 1920 für alle Zensuren, um den Übergang ins Gymnasium über die gemeinsame "Währung" Schulnote zu regeln. Und wenn es heute um die Diskussion über Zensuren (und über Alternativen dazu) geht, betont Tillmann, "ist die Laborschule immer dabei!"


Lernentwicklungsberichte statt Ziffernzensuren

Inzwischen werden bundesweit in den ersten beiden Klassen keine Zensuren mehr vergeben. An ihre Stelle ist ein verbale Beurteilung getreten. Dass dies die pädagogisch adäquatere Form des Umgangs mit Leistung gerade bei den Jüngeren ist, bestreitet heute kaum noch ein Experte. Der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Eiko Jürgens hat sich ebenfalls eingehend mit Fragen der Leistungsbeurteilung befasst. Von ihm stammen auch mehrere inzwischen weit verbreitete Standardwerke zum Thema. Er sieht folgende Vorteile von Lernentwicklungsberichten: In einem ausformulierten Text ist eine differenziertere Beschreibung und Beurteilung von Lern- und Leistungsentwicklung möglich. Ein Lernentwicklungsbericht macht auch Aussagen zum weiteren Lernen, und das kommt dann gezielten individuellen Stütz- und Differenzierungsmaßnahmen zu Gute. Gar nicht überschätzt werden kann die Abschaffung von Ziffernnoten für das emotionale und soziale Klima in der Klasse: Der offensichtliche Vergleich zwischen den Schülern tritt in den Hintergrund. Das hilft schwächeren Schülern, das Gesicht zu wahren, sich nicht demotivieren zu lassen und sich weiter zu bemühen - denn auch ihnen wird ja bescheinigt, an welchen Stellen sie seit der letzten Beurteilung Fortschritte gemacht haben. Angstfreieres Lernen führt zu größerem Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und ermöglicht zugleich ein größeres Zutrauen zu den Lehrkräften. Ein grundsätzliches Problem der Ziffernnote ist auch, die Tendenz zu fördern, sich weniger für Inhalte als für die Benotung zu interessieren. Die Abfassung von Lernentwicklungsberichten ist zudem eine intellektuell anspruchsvolle Tätigkeit und regt fast zwangsläufig die Reflexion des Lehrers über seine Schüler und seinen Unterricht an. Allerdings sieht die Alltagspraxis manchmal anders aus. Schon Zeitmangel kann dazu verführen, sich der Aufgabe über die Verwendung von Textbausteinen (womöglich noch aus dem Internet) zu entledigen. Trotzdem ändert das grundsätzlich nichts am höheren Informationsgehalt von Lernentwicklungsberichten im Vergleich zu Ziffernzeugnissen.


Neue Wege an der Laborschule

An der Laborschule, so betont Klaus-Jürgen Tillmann, werden diese Berichte sehr ernst genommen: "Das geht bis zu 15 Seiten Text!" Vor der 9. Klasse werden dort überhaupt keine Noten verteilt. In den Jahrgängen davor gibt es am Ende des Schuljahrs einen ausführlichen Bericht, und außerdem am Ende des 1. Halbjahrs ein verbindliches Elterngespräch. Im zweiten Halbjahr der 9. Klasse wird der Bericht dann mit Blick auf den Schulabschluss oder den möglichen späteren Übergang in die gymnasiale Oberstufe mit Ziffernnoten kombiniert. Eine Studie, die Tillmann an Hamburger Schulen durchführte, zeigt, dass Grundschullehrer/innen die größte Distanz zu Ziffernnoten haben. Bei den Eltern sieht das schon anders aus, und am meisten werden Noten ausgerechnet von den Schülern selbst eingefordert: "Schüler wollen Noten, um Ranglisten aufstellen zu können und Konkurrenz untereinander auszuagieren. Das macht sich auch an der Laborschule bemerkbar, besonders deutlich etwa ab der 7. Klasse. Die Kolleginnen und Kollegen dort müssen sich sehr anstrengen klarzumachen, welchen Sinn der Verzicht auf Ziffernnoten hat." Sehr sinnvoll erscheint ihm die Arbeit mit so genannten "Portfolios". Die Laborschüler sammeln hier ihre Arbeiten in den unterschiedlichsten Formen und dokumentieren damit über längere Zeiträume ihre Lernfortschritte. Die Subjektivität von Benotungen führt er Studierenden gern sozusagen am lebenden Objekt vor: Immer wieder lässt er in seinen Seminaren Aufsätze von Viertklässlern durch Studierende bewerten, und regelmäßig kommen für die gleichen Texte Zensuren von "sehr gut" bis "mangelhaft" heraus. Eng verknüpft mit der Leistungsbeurteilung ohne Zensuren ist an der Laborschule die partielle Aufhebung des Jahrgangsklassenprinzips und der Verzicht auf das Sitzenbleiben. "Die Vorstellung, möglichst homogene Lerngruppen zu bilden, ist von Anfang an illusionär", kritisiert Tillmann. International sei man davon mehr und mehr abgegangen - und dies in vielen Ländern (z. B. Finnland, Japan, Kanada) mit guten PISA-Ergebnissen. "Warum das ausgerechnet in Deutschland funktionieren soll, hat mir noch niemand überzeugend erklären können." Und er betont, dass im selektiven deutschen Schulsystem nicht nur die "Schwächeren" (z. B. in der Hauptschule), sondern auch die "Stärkeren" (vor allem im Gymnasium) nur zu vergleichsweise mäßigen Leistungen geführt werden. Heterogenität gibt es in den Lerngruppen an der Laborschule auch auf die Altersstruktur bezogen. Die Klassen 0 (also Vorschüler), 1 und 2 werden gemeinsam unterrichtet und die Klassen 3, 4 und 5. Erst ab dem 6. Schuljahr gibt es das auch von anderen Schulen gewohnte Prinzip der Jahrgangsklassen. Die überwiegend guten Ergebnisse der Laborschule bei der PISA-Studie zeigen, dass in solch heterogenen Gruppen eine fachliche Förderung sehr wohl gelingt.


Ohne Lernzieldefinition keine sinnvolle Beurteilung

Eiko Jürgens betont mit Nachdruck, dass Skepsis gegenüber Ziffernnoten nichts mit Leistungsfeindlichkeit zu tun habe. Selbstverständlich müsse Schule auf gesellschaftliche Leistungsanforderungen vorbereiten, und die Leistungsmessung habe nicht zuletzt aufklärende Wirkung auf die Lernenden. Nur gebe es keine Leistung "per se". Sie sei immer norm- und zweckbezogen. Welche Normen und Zwecke zugrundegelegt wurden, werde bei der Ziffernbenotung aber nicht deutlich: "Die Ziffernbenotung ist innerhalb einer Klasse noch relativ valide. Im Vergleich mit anderen Klassen gilt das dann schon nicht mehr." Er plädiert dafür, statt einfach handhabbarer, aber problematischer Ziffernzensierung vorab Lernziele zu definieren. Kriterium für einen erfolgreichen Lernprozess solle dann sein, dass auf seiner Grundlage erfolgreich weitergelernt werden könne. "Das ist in der Regel der Fall, wenn 70 bis 75 Prozent der Lernziele erreicht sind." Allerdings bedeutet das auch, dass dann zum Beispiel bei Klassenarbeiten nicht im Nachhinein beliebig mit den geforderten Mindestkompetenzen heruntergegangen werden darf bis die gewünschte Zensurenverteilung zustande kommt. Neuerungen wie das Zentralabitur hält Jürgens wegen des höheren Maßes an Objektivierung und Vergleichbarkeit durchaus für sinnvoll.


Das gestufte Studium: Jagd nach Leistungspunkten statt Interesse an Inhalten?

Lässt sich das, was man aus der Forschung zu Schulnoten weiß, auf die Leistungsbeurteilung an Universitäten übertragen? Im Prinzip ja, meinen beide Wissenschaftler, und gleichzeitig wird deutlich, dass sie den status quo für verbesserungsbedürftig halten. Ein grundlegendes Problem am gestuften Studium nach dem augenblicklichen Stand sehen beide in der verstärkten Tendenz, weniger aus dem Interesse an Inhalten heraus zu lernen als wegen guter Zensuren und Leistungspunkten - und das Gelernte möglicherweise sogar schnell wieder zu vergessen. "Man müsste", so Jürgens, "zunächst einmal die Primärmotivation für das Lernen klären. Das wird hier aber gerade nicht getan." Gleichzeitig werde die Studienstruktur amorpher, weil es kaum noch Einführungen und darauf aufbauende Hauptseminare gebe. Klaus-Jürgen Tillmann fühlt sich besonders dann "nach Absurdistan versetzt", wenn er nach einem Seminar über die wissenschaftliche Kritik an Zensierung mit den Studierenden bis in kleinste Nuancen hinein um die Benotung ihrer Leistungsnachweise feilschen muss. Dem wird auch dadurch Vorschub geleistet, dass Hausarbeiten bis auf die 0,3 genau bewertet werden müssen. Das Lernklima habe sich durch die studienbegleitenden Prüfungen, die eigentlich von einem großen Examen am Ende des Studiums entlasten sollen, in keiner Weise verbessert. Das liege auch an der großen Zahl von Pflichtveranstaltungen, die zu absolvieren seien. In großen Seminaren, wie sie längst die Regel sind, lernen die Dozenten die Studierenden kaum persönlich kennen, und es bleiben nur Klausuren und Hausarbeiten als Leistungsnachweis.

Unter Objektivitätsgesichtspunkten hält Eiko Jürgens schriftliche Leistungen für sinnvoller als mündliche Prüfungen. Letztere seien besonders anfällig für subjektive Faktoren wie Tagesform und Nervosität auf Seiten des Prüflings oder auch Sympathie und Antipathie auf der des Prüfers. Klausuren sollten allerdings eher der zwischenzeitlichen Rückmeldung dienen als für Endnoten Relevanz haben. Auch Portfolio-Modelle finden seine Zustimmung. Generell denke die Hochschuldidaktik nicht von Prüfungen her, wobei es Ausnahmen wie Medizin, die Ingenieurwissenschaften und die Rechtswissenschaft gebe. Daher sei es bisher auch völlig unüblich, Lernziele zu definieren. "In Unternehmen ist es gang und gäbe, Ziele zu definieren, deren Erreichung dann die Grundlage für die Definition neuer Ziele ist." Dann könne gut auf die Differenzierung nach Ziffernnoten verzichtet werden: "Beim Führerschein gibt es auch nur 'bestanden' oder 'nicht bestanden' - und bei der Habilitation übrigens auch!"


Entschlackung des Curriculum und weniger Prüfungen?

Aus dem fächerübergreifenden Blickwinkel des Schreiblabors sehen die Mitarbeiterinnen des Bereichs "SL_K5 - Beratung für Studium und Lehre" Stefanie Haacke und Swantje Lahm die auch vom Zwang dauernder Leistungsbeurteilung verursachten Probleme. Sie beraten Studierende beim Verfassen studienrelevanter Texte und sind mit deren Alltagssorgen genau vertraut. Nach ihren Erfahrungen ist es dringend erforderlich, das Curriculum zu entschlacken. Weniger Module bedeuteten dann auch weniger Prüfungen. Kritisch sehen beide zudem die Tatsache, dass durch die für den Bachelor angesetzten drei Jahre ein erheblicher Zeitdruck entsteht: "Die meisten intrinsisch Motivierten studieren sowieso länger als diese sechs Semester", erklärt Stefanie Haacke dazu. Die massive Kritik des Wissenschaftsrats an der laschen Zensierungspraxis an deutschen Hochschulen kann sie gut nachvollziehen: "Gute Zensuren gehören zum Nichtangriffspakt zwischen Studierenden und Professoren - nach dem Motto: 'Lässt Du mich in Ruhe, lass ich Dich in Ruhe'. Das Problem, das bei Lehrenden wie Studierenden dahintersteckt, ist letztlich immer Überlastung und Zeitmangel. Im Moment sind wir in einer tendenziell unhaltbaren Situation. Für eine produktive Lehr-Lern-Beziehung brauchen wir wieder verbindliche Kontakte zwischen Lehrenden und Studierenden!"


*


Quelle:
BI.research 33.2008, Seite
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
Herausgeber: Universität Bielefeld, Referat für Kommunikation
Anschrift der Redaktion:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld
Telefon: 0521/106-41 46, Fax: 0521/106-29 64
E-Mail: bi.research@uni-bielefeld.de
Internet: www.uni-bielefeld.de/Presse/fomag/

BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2009