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SCHULE/307: Mythos oder innovative Pädagogik? (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2010

Mythos oder innovative Pädagogik?

Von Franz-Michael Konrad


Ist die auch heute noch international hoch angesehene Laboratory School des amerikanischen Reformpädagogen John Dewey (1859-1952) tatsächlich ein Ort innovativer pädagogischer Praxis gewesen oder eher das Produkt einer gezielten Mythenbildung?


Schon immer ist es ein probates Mittel der Schulreform und der Schulentwicklung gewesen, einzelne besonders innovative Schulen zu Modellschulen zu erklären, um sie andern als nachahmenswerte Vorbilder zu empfehlen. Das beginnt schon im Zeitalter der Aufklärung mit Basedows Dessauer Philanthropin und Rochows Landschule im brandenburgischen Rekahn. Zu beiden sind wahre Heerscharen von Schulleuten gepilgert, um sich deren Praxis aus der Nähe zu besehen. Zugleich haben es die Gründer nicht versäumt, in zahllosen Publikationen ihre Schöpfungen anzupreisen und für sie zu werben. An der Wende zum 19. Jahrhundert war es dann Pestalozzi, der die Aufmerksamkeit der Fachwelt erfolgreich auf seine Einrichtungen in der Schweiz gelenkt hat. Heutzutage macht sich der alljährlich unter großer medialer Anteilnahme vergebene Deutsche Schulpreis diesen Gedanken zunutze. Die dort prämierten Beispiele gelungenen Schulehaltens sollen ansteckend wirken.

Kaum eine andere Ära der jüngeren Bildungsgeschichte jedoch hat so viele Modellschulen hervorgebracht wie die so genannte Reformpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In keiner anderen Epoche sind von Modellschulen so zahlreiche Impulse ausgegangen wie von jenen im Geiste der Reformpädagogik. Denken wir nur an die Landerziehungsheime, an Peter Petersens Jenaplanschule oder an die ersten Montessori-Kinderhäuser. Die Liste der Beispiele ließe sich unschwer verlängern.

Zu den international stark beachteten reformpädagogischen Modellschulen gehörte auch die so genannte Laboratory School, die der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey im Jahre 1896 an der Universität Chicago eingerichtet hat, um dort die aus seinem erziehungsphilosophischen Ansatz heraus entwickelten pädagogischen Ideen in der Praxis zu erproben und sie zugleich der Öffentlichkeit als nachahmenswert zu präsentieren. Besucher von überall her - darunter auch solche aus Deutschland - sind nach Chicago gekommen, um die "Progressive education" sensu Dewey zu erleben. In Deutschland wird die Laboratory School bis heute gerne zitiert, weil sie sich als Gegenentwurf einer demokratischen Schule gegen die in problematische Diskurse um "Gemeinschaft" und Führertum ("der Lehrer als Führer") verstrickte kultur- und zivilisationskritische deutsche Reformpädagogik ins Feld führen lässt. Aktuell dürfte John Dewey der weltweit am meisten zitierte Pädagoge sein, ein wahrer Klassiker der Zunft. Darüber hinaus ist er eine Schlüsselfigur der philosophischen Schule des Pragmatismus. Auch in Deutschland ist sein literarisches Werk höchst präsent. Neuere Übersetzungen seiner ästhetischen und wissenschaftstheoretischen Schriften belegen dies, ebenso ein jüngst abgeschlossener vierbändiger Reprint seiner wichtigsten pädagogischen Werke. Die Reihe der Monographien und Dissertationen, die zu Dewey verfasst werden, reißt nicht ab. Lehramtstudierende lernen Dewey als maßgeblichen Mitschöpfer der "Projektmethode" kennen. Die Laboratory School lebt - nicht nur dem Namen nach - in der Bielefelder "Labor-Schule" (!) weiter (Ihr Gründer Hartmut von Hentig hat in den frühen 1950er Jahren in Chicago studiert).

Schon in ihrer Zeit verfügt die Laboratory School, bis 1904 inklusive eines Kindergartens auf rd. 150 Schülerinnen und Schüler der Unter- und Mittelstufe angewachsen, über den Ruf, ein Musterbeispiel "kindzentrierten" ("child centered"), handlungsorientierten und die Schülerinnen und Schüler als Lern-Subjekte ernst nehmenden Unterrichtens zu sein. Als Pragmatist will Dewey das Lernen der Schülerinnen und Schüler so weit es irgend geht von lebensweltlichen Problemen seinen Ausgang nehmen lassen. Der Lernprozess als Problemlöseprozess. Ein gelungenes "Projekt" ist von der Themenfindung über die Hypothesenbildung bis hin zur Ergebnissicherung wie ein quasi-experimenteller Problemlösevorgang konstruiert. Forschendes Lernen könnte man dazu auch sagen. Gelernt werden nicht nur Inhalte, sondern ebenso sehr die Methode; Metalernen gewissermaßen. Die Werkstatt, das Labor, der Garten, die Stadt Chicago werden so zu den bevorzugten Lernorten der Laboratory School. Die Gegenstände des Lernens sollen die Lernenden frei wählen, weil sie sich nur so mit ihrem Lernen identifizieren. Dazu hat Dewey auch formal-demokratische Prozeduren der Schülermitbestimmung geschaffen. Die Lehrerinnen und Lehrer dagegen müssen ihre Rolle ganz neu interpretieren, sie müssen zu Beratern und Begleitern des Lernens ihrer Schülerinnen und Schüler werden. Keine allwissenden Instruktoren, wie in der "alten" Schule. So weit die Theorie. 1904 hat Dewey seine Schöpfung recht plötzlich verlassen und ist an die Columbia University (New York) gegangen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1930 gelehrt hat.

Kurze Stippvisiten, wie sie die Besucher der Laboratory School unternahmen, konnten freilich immer nur ein unvollkommenes Bild vermitteln. Wie frei sind die Schülerinnen und Schüler tatsächlich in der Wahl der Themen gewesen? Haben sich die Lehrer(innen) tatsächlich nur auf ihre Moderatorenrolle beschränkt? Haben die Schülerinnen und Schüler wirklich so interessiert und motiviert an den gestellten Aufgaben gearbeitet? Und so weiter. Die Beiträge, die in der Zeit selbst über die Praxis an der Laboratory School geschrieben worden sind, haben, so steht zu vermuten, nur das vermittelt, was die Autor(inn)en vermitteln wollten, und das war vermutlich alles andere als ein ungeschöntes Bild. Es ist nämlich bekannt, dass Dewey diesen Vermittlungsprozess sehr genau beobachtet und gesteuert, eine wissenschaftliche Evaluation seines Schulversuchs dagegen nie zugelassen hat. So gilt eine auf Anregung Deweys Jahrzehnte nach dem Ende der Laboratory School als Reformschule von zwei ehemaligen Lehrerinnen der Anstalt 1936 publizierte Untersuchung zur Laboratory School bis heute als Standardwerk. Die Vermutung scheint jedoch nicht ganz abwegig, dass Dewey mit dieser Schrift weniger einen ehrlichen Rechenschaftsbericht als vielmehr gezielt Geschichtspolitik betreiben und der Laboratory School und sich selbst ein Denkmal setzen wollte. Eine Absicht, die bekanntlich aufgegangen ist, denn in der internationalen Bildungsgeschichtsschreibung wird die Laboratory School als ein Modell präsentiert, das die Forderungen Deweys idealiter verwirklicht habe und auch heute noch als Vorbild für die Reform von Schule und Unterricht dienen könne. Ob das so erzeugte Bild von der Laboratory School aber nicht viel mehr ein Mythos ist, die Realität an der Schule der reformpädagogischen Programmatik weit weniger entsprochen hat, d. h. konventioneller gewesen ist als behauptet, müsste erst noch geprüft werden.

Hier setzt ein an der Professur für Historische und Vergleichende Pädagogik durchgeführtes und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt an. Das Projekt fügt sich in einen seit geraumer Zeit in der Erziehungswissenschaft dominant gewordenen Trend ein. Es soll weniger Erziehungs- und Bildungstheorie produziert, dagegen mehr gesichertes Wissen über die tatsächliche Bildungspraxis verfügbar gemacht werden. Das betrifft auch die Geschichte von Erziehung und Bildung. Für das Projekt sind drei Thesen leitend: (1) Der Unterricht an der Laboratory School ist von Deweys Erziehungsphilosophie abgewichen und hat sich auch stark von den in der erwähnten Auftragsarbeit von 1936 geschilderten Verhältnissen unterschieden. Die Schulwirklichkeit war weniger progressiv und experimentell als dies die Protagonisten dargestellt und Bildungshistoriker immer wieder gutgläubig bestätigt haben. (2) Das weltweite Ansehen der Laboratory School als einer Weihestätte der Reformpädagogik beruht auf einem Akt bewusster Geschichtspolitik. (3) Deweys Schulkonzept ist in der Realität gescheitert, weil es mit den Postulaten des situativen und selbstorganisierten Lernens zentrale Aspekte der Schülermotivation und der Lehrerkoordination aus dem Blick verlor, den Aufbau systematischen Wissens und Könnens hemmte und Schüler wie Lehrer emotional, kognitiv und zeitökonomisch überforderte.

Diese Thesen bestimmen auch die Doppelstruktur des Projekts, in dem es zum einen um die Rekonstruktion einer Schule durch die Aufdeckung der Wechselwirkungen von Schultheorie und Unterrichtspraxis geht. Zum andern soll beschrieben werden, wie der Mythos der Laboratory School entstand und wie Erziehungshistoriker und Schulpädagogen von früher und von heute die Laborschulpraxis rezipiert und als reformpolitisches Argument instrumentalisiert haben.

Im Falle der Laboratory School existieren, wenn auch weit verstreut - u. a. an der University of Chicago, der Cornell University, der Southern Illinois University, der Columbia University -, so doch in großer Zahl neben den gedruckten auch archivalische Quellen, die die Realisierung des Projektzieles als möglich erscheinen lassen: Berichte aus der Tagespresse; Lehrerberichte; Klassenbücher; Besuchsprotokolle; Nachlässe von Lehrkräften, Eltern und Schülern; Photos u. ä. m. Diese Quellen sollen im Rahmen ausgedehnter Archivstudien in amerikanischen Archiven gesichert und ausgewertet werden. Dabei wird mit amerikanischen Bildungshistorikern insbesondere der Universitäten in Carbondale (Illinois), Chicago, Madison (Wisconsin) und Houston zusammengearbeitet. Beitragen möchte das Projekt zur Dewey-Forschung, zur kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Reformpädagogik sowie - im Sinne praktisch nützlicher Geschichtsschreibung - nicht zuletzt zur aktuellen pädagogischen Diskussion, in dem die Ergebnisse mit den aktuellen Auseinandersetzungen um die Schul- und Unterrichtsreform in Deutschland (und den USA) in Zusammenhang gebracht werden.

Übrigens: Der Charakter der Laboratory School hat sich mit dem Weggang Deweys recht schnell verändert. Aus einer Schule mit Reformanspruch ist eine von ihrem Selbstverständnis her relativ konventionelle ("curriculum centered"), wenn auch sehr leistungsfähige Schule geworden. Als solche besteht sie bis heute.


Prof. Dr. Franz-Michael Konrad ist seit 1998 an der KU Professor für Historische und Vergleichende Pädagogik. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Bildungsgeschichte und Bildungstheorie sowie internationale Reformpädagogik.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2010, Seite 24-25
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2010