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SCHULE/399: Eine Schule für alle? (Gehirn und Geist)


Gehirn und Geist 12/2013
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Eine Schule für alle?

Von Claudia Christine Wolf



Sonderschule war gestern. Mittlerweile haben alle Kinder das Recht, am ganz normalen Unterricht teilzunehmen - egal ob behindert, verhaltensgestört oder hochintelligent. An der Frage, ob Inklusion gelingt, scheiden sich allerdings die Geister.



AUF EINEN BLICK

Schöne neue Schule?

1. Inklusion bedeutet, dass alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden, egal ob sie geistig oder körperlich behindert sind oder eine Lernschwäche aufweisen.
2. Der »Hamburger Schulversuch« sollte klären, ob das Unterrichtskonzept allen Schülern gerecht werden kann. Forscher diskutieren seine Ergebnisse jedoch kontrovers.
3. Damit Inklusion dauerhaft gelingen kann, müssen auch Schulen und Lehrer ihre Vorstellung vom Unterricht anpassen.


»Komm, das schaffst du schon!«, ermutigt David seinen Mitschüler. Der soll ein Gedicht vortragen, traut sich aber nicht. Das Lesen und Lernen bereitet Lucas Probleme. Seine Interessen liegen woanders: Er will später Rennfahrer oder Skater werden, dafür braucht man kein Studium. David hingegen mag knifflige Rechenaufgaben und hat schon ein Klavierstück komponiert. Wenn er groß ist, möchte er Astronom werden.

Davids Bruder Jakob geht mit ihm in die gleiche, altersgemischte Klasse. Er hat das Down-Syndrom, doch auf dem Schulhof kommt er dank seiner Freunde ganz gut ohne seinen Bruder zurecht. Ihren Platz gefunden hat auch Anita, die ursprünglich aus dem Kosovo stammt und in ständiger Angst vor der Abschiebung lebt.

David, Jakob, Lucas und Anita sind die Protagonisten des Films »Berg Fidel - eine Schule für alle« von Hella Wenders. Die Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie begleitete die Schüler drei Jahre lang an der Grundschule Berg Fidel, die alle Kinder des gleichnamigen Stadtteils von Münster aufnimmt. Keiner muss hier auf eine Sonderschule, und das gemeinsame Lernen soll bis zur 13. Klasse weitergeführt werden. Eine schöne Vision. Zu schön, um zu funktionieren?

Das pädagogische Konzept der Grundschule Berg Fidel heißt Inklusion (von lateinisch includere = einschließen). Anders als im gegliederten Schulsystem lernen alle Kinder gemeinsam: Schüler mit Lernschwächen, hyperaktive, geistig und körperlich behinderte. Frei nach dem Motto: »Es ist normal, verschieden zu sein.«

Das Prinzip Inklusion könnte das Schulsystem revolutionieren. Bislang kamen Kinder auf Sonderschulen, wenn sie pädagogische Förderung benötigten. Ein spezieller Unterricht sollte eine bestmögliche Entwicklung gewährleisten. Doch seit 2009 ist Inklusion in Deutschland Menschenrecht. So steht es in Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (siehe Randspalte), der nun nach und nach in Landesgesetze übertragen wird. Die »schöne neue Schule« hat allerdings viele Kritiker.

Wer profitiert vom gemeinsamen Unterricht - und wer nicht?

»Ich begrüße die UN-Konvention ausdrücklich in dem Sinn, dass sie die Frage nach der gemeinsamen Beschulung neu stellt«, sagt Bernd Ahrbeck, Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. »Doch alle Kinder umstandslos in eine Klasse zu schicken, halte ich für keine gute Idee.« Schließlich müsse bereits jetzt kein behindertes Kind auf hochwertige Bildung verzichten, da die bundesdeutsche Verfassung ein Diskriminierungsverbot festschreibt. Das sei in vielen anderen Ländern anders. Inklusion habe aber ihre Grenzen, insbesondere bei schwer verhaltensgestörten und psychisch kranken Kindern.

»Wir sollten uns fragen, wer von einem gemeinsamen Unterricht profitiert und wer nicht«, sagt Ahrbeck. Für Kinder mit schweren Sprachstörungen etwa könne es sinnvoll sein, zunächst separat gefördert zu werden. »Nach einer gezielten Therapie können sie unbeschwerter auf eine allgemeine Schule gehen.« Doch was ist mit den lernbehinderten Kindern, die beinahe die Hälfte aller gehandikapten Kinder ausmachen? »Bei ihnen kann man sich am ehesten vorstellen, dass sie auf eine allgemeine Schule gehen.« Auf Sonderschulen erreicht derzeit nur ein Viertel dieser Schüler den Hauptschulabschluss. Inklusion könnte diese Quote erhöhen, etwa weil sie von den besseren Schülern »mitgezogen« werden. Ob das jedoch funktioniert, ist alles andere als sicher: Die Forschung hierzu ist dürftig und widersprüchlich.

Als bislang bedeutendste Studie auf diesem Gebiet gilt der »Hamburger Schulversuch«, den ein Team um Andreas Hinz, der heute an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg lehrt, in den 1990er Jahren durchführte. Die Studie war breit angelegt, innerhalb von sieben Jahren stieg die Zahl der teilnehmenden Schulen von 13 auf 36 an. Bewerben konnten sich alle Schulen aus sozialen Brennpunkten Hamburgs. Die Teilnahme hatte Vorteile: Wer sich verpflichtete, auch Kinder aufzunehmen, bei denen sich Schwierigkeiten im Lernen, in der Sprachentwicklung oder im Verhalten andeuteten, der erhielt zusätzliches Personal in Form von Sonderpädagogen und Erziehern. Die Forscher dokumentierten die Leistung sowie die emotionale und soziale Entwicklung der Kinder in diesen zusätzlich betreuten, »inklusiven« Schulen. Schon damals interpretierten Experten die Ergebnisse äußerst kontrovers - und das ist heute noch so. Manche sehen in der Studie einen Beleg dafür, dass Inklusion funktioniert, andere lesen genau das Gegenteil daraus.

Hinz selbst erklärt, die Ergebnisse seien sehr vielschichtig: »Insgesamt stürzte die Leistung der Schüler nicht ab. Das halte ich für ein wichtiges Resultat.« Allerdings habe es große Unterschiede zwischen den Klassen gegeben: Die einen hätten sich sehr gut entwickelt, die anderen miserabel. »Woran das gelegen hat, kann ich nur vermuten. Vielleicht hat das Einzugsgebiet eine Rolle gespielt oder die jeweilige Schulkultur.«

Das Inklusionsmodell gibt es nicht

Das damalige Forscherteam verglich den Lernerfolg der Schüler aus den inklusiven Klassen mit dem von Kindern an Regelschulen. Da die Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen größer waren als die zwischen den Gruppen, zieht Hinz die Konsequenz, dass es das Modell für Inklusion nicht gibt. Wichtiger als der Schultyp sei das jeweilige Lernmilieu. »Jeder Lehrer muss sehen, wo seine Klasse steht und was er für den einzelnen Schüler tun kann«, sagt er.

Nicht bewahrheitet habe sich die von einigen Eltern gehegte Befürchtung, bessere Kinder seien unterfordert, wenn sie mit »Problemfällen« unterrichtet würden, und bekämen dadurch schlechtere Noten. Im Vergleich zeigte sich, dass das jeweilige Schulsystem nichts mit der Leistungsentwicklung der »unproblematischen Fälle« zu tun hatte. »Gern wird vergessen, dass neben der Leistung auch die emotionale und soziale Befindlichkeit ein wesentlicher Teil unserer Untersuchung war«, sagt Hinz. Dabei seien die Ergebnisse hier eindeutig: »Es kam weder zur sozialen Spaltung noch zu allgemeinem Unwohlsein.«

Bernd Ahrbeck beurteilt die Ergebnisse des Hamburger Schulversuchs kritischer. Zwar bestätigt er, dass die emotionale und soziale Inklusion gelang - unter Leistungsgesichtspunkten hält er die Studienergebnisse allerdings für problematisch. »Der durchschnittliche Leistungsstand in den inklusiven Regelklassen ist auffällig gering gewesen. Die Kinder haben dort zu wenig gelernt«, erklärt Ahrbeck. »Und die Kinder mit den schlechten Bildungsvoraussetzungen sind auch die schlechten geblieben. Sie haben von dieser Beschulungsform leistungsmäßig nicht profitiert. Das ist jedoch der Anspruch der Inklusion.«

Seit dem Hamburger Schulversuch hat es keine vergleichbar umfangreichen Untersuchungen zur Inklusion gegeben. Warum ist es so schwer, den Einfluss des gemeinsamen Unterrichts auf den Lernerfolg zu bestimmen? Um der Vielfalt der Schüler gerecht zu werden, muss man diese systematisch in den Blick nehmen. Es gilt also, den Einfluss zahlreicher Variablen zu beurteilen: Geschlecht, Alter und soziale Herkunft sind nur einige davon. Doch je umfangreicher die Vielfalt berücksichtigt wird, desto schwieriger sind die Ergebnisse zu interpretieren. Letztlich wird auch der Hamburger Schulversuch der Unterschiedlichkeit der Schüler nur annährend gerecht.

Frustrierende Erfahrungen

Daher möchte sich Stefanie Mertens [Name von der Redaktion geändert], die an einer Förderschule lehrt, nicht auf die Ergebnisse empirischer Forschung verlassen. »Von einem Modell für alle halte ich nichts«, sagt die Sonderpädagogin. Schließlich bringe jeder Schüler andere Voraussetzungen mit. »Trotzdem denke ich, dass viele Kinder von einem gemeinsamen Unterricht profitieren könnten. Das klappt aber nur unter den richtigen Bedingungen.« Mehrere Stunden pro Woche unterstützt sie einen Grundschullehrer beim Unterricht in einer Klasse, in die auch Kinder mit Förderbedarf gehen. Dort macht Mertens frustrierende Erfahrungen.

»Wirklich inklusiv ist der Unterricht nicht, da das nötige Material fehlt und sich die Räume nicht für das gemeinsame Lernen eignen«, sagt Mertens. »Um den Bedürfnissen der Kinder mit Förderbedarf gerecht zu werden, nehme ich sie also aus der Klasse. Ich muss separieren.« Zudem zeige sich der Grundschulkollege nicht gerade kooperativ, was Änderungen der Unterrichtsform betrifft. »Ich habe gar keine Chance, meine Ideen einzubringen.«

Demnächst soll es für jedes inklusiv beschulte Kind zwar Geld geben, um die Klassen mit zusätzlichem Material auszustatten - doch die Summe ist gering. »Was wir brauchen, sind kleine Klassen, Differenzierungsräume und eine dauerhafte Zweitbesetzung.« Damit ließe sich »individualisierter Unterricht« tatsächlich realisieren, eine Schlüsselmethode der Inklusion. Dabei wird jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten gefördert, ein Konzept, das auch die Grundschule Berg Fidel verfolgt: Lucas muss noch lesen üben, während David bereits Gedichte schreibt. Spezielle Angebote wie Psychomotorik oder Verhaltenstraining unterstützen die Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, von denen es pro Klasse etwa vier gibt.

Die Maßnahmen in Berg Fidel werden von einem »Fachteam« erarbeitet, bestehend aus einem Grund- und einem Sonderschullehrer sowie einem Heil- und einem Sozialpädagogen. Lerngruppen sind meist doppelt besetzt, Sonderpädagogen und Lehrer gemeinsam für die Klassen verantwortlich. Neben speziellen baulichen Maßnahmen erfordert solch eine differenzierte Förderung ein eingespieltes, engagiertes Team - Voraussetzungen, die nur in den seltensten Fällen gegeben sind. Was also tun?

»Inklusion ist ein Prozess«, sagt Andreas Hinz. »Viele glauben, die Schulen müssten bei null anfangen, aber das stimmt nicht. Inklusion ist schon überall im Gang.« Statt Frontalunterricht gebe es heute immer mehr offenere Unterrichtsformen, kooperatives Lernen und Klassenräte, die den Kindern ein Mitspracherecht einräumen. »Es geht nicht um Beeinträchtigungen. Es geht um die Akzeptanz aller Menschen, unabhängig von ethnischer Herkunft, sexueller Orientierung oder sozialem Milieu.« Jeder ist also gefragt, und jeder kann etwas tun. Einer vollständigen Inklusion kann man sich immer nur annähern. Doch es spricht nichts dagegen, sich auf den Weg zu machen.



Informationen für Eltern

Sonderschule oder Regelschule? Diese Frage stellt sich allen Eltern, deren Kinder bei der Bewältigung der schulischen Anforderungen auf besondere Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Ein solcher »sonderpädagogischer Förderbedarf« wird häufig im Rahmen des Einschulungsverfahrens festgestellt.

Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung ist seit Ende März 2009 für Deutschland bindend. Sie sieht für alle Kinder das Recht auf einen gemeinsamen Unterricht vor. Da hier zu Lande Bildung Ländersache ist, muss diese Vorgabe allerdings erst in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer umgesetzt werden. Die Inklusion ist daher aktuell je nach Region unterschiedlich weit fortgeschritten; die Schulbehörden können den Wunsch nach dem Besuch einer »normalen« Schule ablehnen, wenn diese dem individuellen Förderbedarf des Kindes voraussichtlich nicht gerecht wird.

Zeichnet sich auf Grund einer Behinderung bereits vor der Einschulung ein sonderpädagogischer Förderbedarf ab, sollten Eltern sich frühzeitig Gedanken über die schulische Laufbahn ihres Kindes machen. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und die Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben - gemeinsam lernen e. V.« empfehlen in ihrem Wegweiser, Eltern sollten schon früh Ausschau nach einem integrativen Kindergartenplatz halten. Dieser könnte je nach Situation die Chancen des Kindes erhöhen, später eine normale Grundschule zu besuchen. Zudem sollten sich Eltern bereits eineinhalb Jahre vor der Einschulung über das Schulangebot in ihrer Umgebung informieren und bei Bedarf die Möglichkeit wahrnehmen, Unterricht und spezielle Förderprogramme genauer unter die Lupe zu nehmen.

Da in den einzelnen Bundesländern mitunter verschiedene Verfahren und Regelungen existieren, sind regionale Schulbehörden, Elternverbände und Selbsthilfegruppen wichtige Ansprechpartner für Eltern.


Claudia Christine Wolf ist Biologin und Wissenschaftsjournalistin. Während ihrer Recherchen wunderte sie sich über die hitzigen Debatten, die das Thema Inklusion auslöst. Dabei wollen doch eigentlich alle dasselbe - das Beste für den Nachwuchs.



Randspalten

LESERMEINUNG
Wie sinnvoll ist es, alle Kinder gemeinsam zu unterrichten? Diskutieren Sie mit auf
www.gehirn-und-geist.de/inklusion
oder schreiben Sie an:
leserbriefe@gehirn-und-geist.de

Kanadisches Vorbild
Das Schulsystem der kanadischen Provinz New Brunswick gilt als Vorreiter in Sachen Inklusion. Es gibt dort keine Sonderschulen, auch getrennte Klassen sind weit gehend unbekannt. Hoch qualifizierte »Methods and resource«-Pädagogen unterstützen die Lehrer beim Unterricht, etwa indem sie ihnen bei der Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte helfen; bei Bedarf werden so genannte »teacher assistants« eingeschaltet. Anders als in Deutschland hat es in New Brunswick nie ein ausdifferenziertes sonderpädagogisches Fördersystem gegeben.

Gleiches Recht für alle
Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet, dass Menschen mit Behinderung eine Beteiligung am sozialen, politischen, kulturellen und bürgerlichen Leben möglich ist.


DVD-Tipp
Berg Fidel - eine Schule für alle. Deutschland, 2011
Dokumentarfilmerin Hella Wenders begleitet drei Jahre lang die Schüler der Grundschule Berg Fidel, die alle Kinder des gleichnamigen Stadtteils von Münster aufnimmt.



Webtipp
Mehr Informationen rund um Inklusion und Integration:
www.einfach-teilhaben.de


Quelle
Hinz, A. et al.: Die integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt. Ergebnisse eines Hamburger Schulversuchs. Feldhaus, Hamburg 1998

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Gemeinsam lernen
Seit 2009 ist Inklusion ein Menschenrecht. So sieht es die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vor.

Alle vereint
Das Konzept der Inklusion stellt eine weiterentwickelte Form der Integration dar. Während im Rahmen des integrativen Unterrichts ein behindertes Kind in den auf nichtbehinderte Kinder zugeschnittenen Schulalltag integriert wird, schafft ein inklusives System eine Schulform, die offen für die Bedürfnisse aller Schüler ist.

Erfolgsgeschichte
Der Film »Berg Fidel - eine Schule für alle« zeigt am Beispiel von David, Anita, Lucas und Jakob (von links oben im Uhrzeigersinn), wie Inklusion gelingen kann.


© 2013 Claudia Christine Wolf, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Gehirn und Geist 12/2013, Seite 14 - 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2014