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SCHULE/515: Mit außerirdischer Unterstützung - Eine Schule für alle (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 61 - Ausgabe 2016
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Mit außerirdischer Unterstützung

Von Birgit Bruns


Eine Schule für alle: Inklusiver Unterricht ist für Clemens Hillenbrand in Zeiten starker Fluchtbewegungen besonders wichtig. Wie der Unterricht für alle gelingen kann, erforschen und erproben der Sonderpädagoge und sein Team gleich vor Ort


Mit konzentriertem Blick geht Leon(*) von Tisch zu Tisch. Der Achtjährige, der mit dem Down-Syndrom geboren wurde, verteilt bunte Puzzleteile an seine Mitschüler. Die Mädchen und Jungen der 2a haben ihre Tische an diesem Donnerstagmorgen zu Gruppen zusammengestellt. Sie warten gespannt, bis Leon alle Puzzleteile verteilt hat und sich an seinen Platz setzt. Dann gibt Sonderpädagogin Carolin Reinck das Startsignal: Jede Gruppe legt aus ihren Teilen ein Puzzle zusammen. Leon arbeitet mit Klassenkameraden zusammen, denen solche Aufgaben leicht fallen. So lernt er ganz natürlich von seinen Mitschülern. Auch Igor, Kimberley und Niko orientieren sich an den Kindern in ihrer Gruppe, denen die Schule leichter fällt als ihnen: Igor lernt Deutsch als Zweitsprache. Kimberley tut sich schwer damit, Aufgaben Schritt für Schritt zu lösen, und Niko ist häufig unruhig, manchmal sogar aggressiv.

Kinder wie Leon, Igor, Kimberley und Niko gingen bis vor einigen Jahren in eine Förderschule. Heute sind Mädchen und Jungen mit Behinderungen oder herausforderndem Verhalten ganz natürlicher Teil der regulären Schulen - das Stichwort lautet Inklusion. Inklusion heißt wörtlich übersetzt Zugehörigkeit. Jeder Mensch sollte überall dabei sein können, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Freizeit. Dabei sollte sich die jeweilige Einrichtung auf die vielfältigen Bedürfnisse ihrer Nutzer einstellen, nicht umgekehrt. Die Vereinten Nationen haben die Inklusion in ihrer Behindertenrechtskonvention als ein Menschenrecht festgeschrieben, Deutschland hat die Vereinbarung unterzeichnet.


Wissenschaftler im Klassenraum

Der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Beeinträchtigungen ist vielerorts zur Normalität geworden - auch in Leons Schule. Doch etwas ist hier anders: In den Klassenräumen sind regelmäßig Forscher der Universität Oldenburg zu Gast. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie die Herausforderung Inklusion gelingen kann. Sie beobachten allerdings nicht nur, sondern bringen auch ihr Wissen und ihre Erfahrung ein. Jeden Donnerstag gestaltet Sonderpädagogin Carolin Reinck den Unterricht in der 2a. Dabei hat sie die Kinder mit Unterstützungsbedarf besonders im Blick, egal ob dieser diagnostiziert wurde oder nicht. "Die anderen Kinder sind wichtige Vorbilder, an denen sie sich orientieren können", sagt die Sonderpädagogin. Auch die leistungsstarken Schüler profitieren nach Einschätzung der Lehrerin vom gemeinsamen Unterricht: Sie lernen, mit Kindern mit unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenzuarbeiten und in einer Klassengemeinschaft die unterschiedlichen Stärken und Schwächen zu akzeptieren und zu nutzen.

Reinck promovierte an der Universität Oldenburg, sie arbeitet hier eng mit Prof. Dr. Clemens Hillenbrand zusammen. Er forscht am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik zur Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens. Der Sonderpädagoge weiß, dass die neue Vielfalt im Klassenzimmer so manche Herausforderung mit sich bringen kann. "Es kann immer wieder zu Situationen kommen, die die Lehrkräfte nur schwer kontrollieren können", sagt er. Dabei denkt Hillenbrand vor allem an Kinder mit herausforderndem Verhalten, zum Beispiel aggressive Schüler oder solche, die Aufmerksamkeitsstörungen haben. "Das kann den gesamten Unterricht torpedieren, gerade wenn mehrere dieser Kinder in einer Klasse sind. Das zeigen auch internationale Studien", sagt der Forscher.

Damit es erst gar nicht so weit kommt, hat sein Team gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Köln mehrere Projekte ins Leben gerufen, die die emotional-sozialen Kompetenzen der Kinder gezielt schulen, sie quasi fit für ein gutes Miteinander machen. Ein wichtiger "Mitarbeiter" des Präventionsteams ist "Lubo aus dem All" - eine quietschgrüne Handpuppe mit bunten Haaren, schief sitzender Fliegerbrille und kaputtem Raumschiff. "Nach seiner Notlandung auf der Erde braucht Lubo Freunde, die ihm helfen, sein Raumschiff wieder flott zu kriegen", erklärt Hillenbrand. Mit dieser Geschichte gehen die Sonderpädagogen in die Klassen hinein - übrigens nicht nur in Norddeutschland. Lubo ist längst zum "Exportschlager" geworden, mittlerweile ist er in Kindergärten und Schulen in ganz Deutschland und einigen Nachbarländern zu Gast. Die Idee: Die Kinder zeigen Lubo, wie man hier auf der Erde Freundschaften aufbaut. Dabei sind sie die Experten, die ihr Wissen weitergeben. "Das ist der Trick. Die Kinder werden in ihrer Kompetenz abgeholt, so lernen sie besonders gut dazu", erklärt der Pädagoge.

Wie das genau funktioniert, zeigt sich bei Lubos Besuch in der Klasse. Eigentlich sind die Kinder der 2a ein wenig zu alt für Handpuppen, doch Lubo war im vergangenen Jahr schon einmal hier gelandet, und alle wollten ihn wiedersehen. Lina erinnert sich noch gut: "Wir hatten immer eine eigene Stunde mit Lubo. Da haben wir über Mut und so gesprochen." Heute hat Lubo die vielen bunten Puzzleteile mitgebracht, die die Kinder zusammenlegen. Dabei helfen sie sich gegenseitig. Jede Gruppe legt ihr Puzzle in die Mitte des Klassenzimmers, so dass ein Kreis entsteht. Die Lehrerin nennt das "Lubos Problemlösekreis" - eine Art Leitfaden für schwierige Situationen. "Stellt euch mal vor, jemand schubst euch auf dem Flur. Wie fühlt ihr euch da, und was möchtet ihr?" fragt die Sonderpädagogin. Theresa kennt das Gefühl und deutet auf das passende Lubo-Bild: "Ich bin wütend und will, dass sich der andere entschuldigt." Die Lehrerin nickt zufrieden. Der Stoff-Alien hat den Kindern geholfen, sich ihrer Emotionen bewusst zu werden und hat ihnen vor Augen geführt, wie sie eine vermeintlich vertrackte Situation lösen können.


Lernen gezielt fördern

Den Erfolg des Lubo-Programms belegen mehrere Studien, an denen insgesamt etwa 700 Kinder im Vorschulund Grundschulalter teilgenommen haben. "Ein positiver Effekt war insbesondere beim sozialen Problemlösen und dem prosozialen Verhalten zu beobachten", erzählt Hillenbrand. Weiteres Ergebnis: Kinder mit Risikobelastungen profitieren besonders stark. "Offenbar erreichen wir genau die Kinder, die es am dringendsten brauchen. Das freut uns als Sonderpädagogen natürlich besonders."

Lubo ist allerdings nur ein Baustein von vielen. Die Oldenburger Wissenschaftler kümmern sich beispielsweise auch um gezielte Lernförderung, damit niemand im Unterricht zurückbleibt. Dabei setzen sie unter anderem auf den sogenannten "Advance Organizer" - eine Lernmethode, die neue Informationen einer vorhandenen Gedankenstruktur zuordnet und so hilft, Erinnerungen abzurufen. "Das orientiert sich an der kognitiven Psychologie", erklärt Hillenbrand. Carolin Reinck wendet die Methode heute im Religionsunterricht an, um den Kindern die Schöpfungsgeschichte näherzubringen. Während sie eine Passage aus der Bibel erzählt, legen die Schüler passende Gegenstände, Begriffe oder Bilder in die Mitte des Stuhlkreises. Als Gott das Meer erschafft, stellt Leon ein Schälchen mit Wasser hin. Niko darf wenig später kleine Bäume aus Holz aufstellen, Theresa kümmert sich um die Kühe, die stellvertretend für alle "Tiere des Landes" stehen. "Die Gegenstände helfen den Kindern, sich später an die Entstehungsgeschichte der Erde zu erinnern - besonders denen, die noch nicht so sicher beim Lesen sind und mit einem gedruckten Text Probleme hätten", sagt Reinck.

Hinzu kommen weitere Lernförderprojekte aus Oldenburg: Sie bringen Kindergartenkindern mithilfe des Bilderbuchs "Die kleine Raupe Nimmersatt" ein grundlegendes Zahlenverständnis bei oder trainieren bei den "Olympischen Rechenspielen" nach dem Übergang in Klasse fünf gezielt die Grundrechenarten. Die Fortschritte werden anhand von Fragebögen, Einschätzungen der Lehrer und gezielten Elternbefragungen festgehalten. Dabei zeigt sich laut Hillenbrand bei guten Maßnahmen, dass die Kinder, die Schwierigkeiten beim Lernen haben, besonders stark profitierten. Ein weiterer Punkt, der Hillenbrand wichtig ist: Sie lernen in der Gruppe, werden nicht ausgesondert und extra "beschult". "Wie lernt man am besten? Nicht mit einem Arbeitsblatt, sondern in der Interaktion mit anderen Menschen", stellt der Pädagoge klar.

Lernen als Teil einer heterogenen Gruppe - dieser Gedanke ist für Hillenbrand derzeit so aktuell wie selten. Er denkt dabei besonders an die Kinder mit Fluchthintergrund, die zurzeit im deutschen Schulsystem ihren Platz finden sollen. "Die Kinder landen vielfach zunächst einmal in sogenannten Willkommensklassen, wo sie Deutsch lernen sollen. Das halte ich auf Dauer für schwierig", sagt der Experte. Das Problem: Die Schüler sollen sich bemühen, eine fremde Sprache zu lernen. Doch diese bleibe ohne den Kontakt zu deutschsprachigen Kindern völlig abstrakt. Nach Meinung Hillenbrands sollten die geflüchteten Kinder nach einer kurzen, intensiven Übungsphase so schnell wie möglich in die normalen Klassen integriert werden. Er sieht das Deutschlernen im regulären Unterricht sogar als Bereicherung für die gesamte Klasse. "Wenn die Lehrerin gezielt auf Besonderheiten der Sprache hinweist, hier und da eine Grammatik- oder Vokabelübung einbaut, profitieren davon ja alle."


Inklusion auf Geflüchtete ausweiten

Gemeinsames Lernen - der Grundgedanke der Inklusion gelte eben auch für geflüchtete Schüler. "Die generelle Struktur ist ja da", sagt Hillenbrand. In vielen Grundschulen brächten Sonderpädagogen den Kindern mit Förderbedarf in Kleingruppen Schreiben, Lesen und Rechnen bei. Da sei es doch naheliegend, die geflüchteten Schüler in diese Gruppen mit aufzunehmen. In den Willkommensklassen unterrichteten Medienberichten zufolge dagegen nur selten geschulte Pädagogen. Die Mitarbeiter seien zwar sehr engagiert und bekämen auch geeignete Materialien an die Hand - doch das könne keine pädagogisch-didaktische Ausbildung ersetzen, findet der Wissenschaftler. Mehrere Oldenburger Projekte hätten gezeigt, dass es geeignetere Wege gebe, den Inklusionsauftrag erfolgreich zu erfüllen. Diese vermitteln die Wissenschaftler in verschiedenen Fortbildungen. In einem Schwerpunktprojekt für Nordrhein-Westfalen bilden sie beispielsweise Lehrerinnen und Lehrer zu "Inklusions-Experten" aus, die ihr Wissen dann an Kollegen weitergeben. "300 Lehrkräfte sind bereits ausgebildet, 150 haben wir derzeit in der Qualifikation", sagt Hillenbrand. Hinzu kommen spezielle Angebote für Schulleiter in Niedersachsen, die die Inklusion ebenfalls vor Herausforderungen stellt, beispielsweise in rechtlichen Fragen. "Wir haben in den Schulen offene Türen eingerannt. Es scheint dringend nötig zu sein, das Thema zu versachlichen und konkrete Hilfestellungen anzubieten", sagt Hillenbrand.

Ein genereller Lehrermangel in Deutschland setze die Schulen zusätzlich unter Druck. Vielerorts fehle es an Fachkräften - insbesondere Sonderpädagogen seien Mangelware. In Niedersachsen gelte seit dem Schulgesetz zur Inklusion 2012 für die meisten Grundschulen die Sonderpädagogische Grundversorgung. "Doch das sind lediglich zwei bis maximal fünf zusätzliche Stunden mit einer Sonderschullehrkraft - in den Grundschulen. In den weiterführenden Schulen fehlt es oft sogar an dieser Grundausstattung", erklärt Hillenbrand. Erste Schritte gegen den Lehrermangel hat die niedersächsische Landesregierung inzwischen eingeleitet: Die Studienplatzkapazitäten am Oldenburger Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik werden deutlich ausgeweitet. In einigen Jahren sollen hier drei Mal so viele junge Menschen wie bisher zu Sonderpädagogen ausgebildet werden. Dafür werden neun neue Professuren eingerichtet.

Nicht zuletzt deshalb ist Hillenbrand zuversichtlich, dass das deutsche Bildungssystem die Herausforderung der "Schule für alle" meistern wird. Erst kürzlich hat er eine Oldenburger Klasse mit sonderpädagogischer Grundversorgung besucht, in der neben Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf auch geflüchtete Kinder saßen. Die Zusammenarbeit der Schülerinnen und Schüler sei sehr ermutigend gewesen. "Eine unserer Studentinnen arbeitet dort freiwillig mit. Sie ist Kurdin und kann übersetzen. Sie versteht zwar auch nicht alle Kinder, aber diese übersetzen es dann im Zweifelsfall wieder untereinander. Das zeigt mir: Es findet sich immer ein Weg, eine gute Idee umzusetzen."

(*) Namen aller Kinder geändert

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Quelle:
Einblicke Nr. 61, 31. Jahrgang, Seite 28-31
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2017

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