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BERICHT/080: Umarmung des Schmetterlings - Erdbebenopfer in Haiti werden psychologisch betreut (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2010

Haiti:
Die Umarmung des Schmetterlings - Erdbebenopfer werden psychologisch betreut

Von Judith Scherr


Port-au-Prince, 5. Oktober (IPS) - Michele Garlin hat das verheerende Erdbeben in Haiti überlebt, doch sie brauchte viel Zeit, um die schrecklichen Erlebnisse innerlich zu verarbeiten. Die Frau, die durch die Naturkatastrophe im Januar ihr Haus verlor, litt lange unter starken Kopfschmerzen. Erst eine gezielte psychologische Therapie linderte ihre Beschwerden.

"Ich konnte auch nicht schlafen und hatte immer das Gefühl, dass mein Bett schwankte, auch als die Erde gar nicht mehr bebte", beschreibt Garlin ihre Erfahrungen. Bei dem Erdbeben der Stärke 7,0 kamen in dem Karibikstaat rund 230.000 Menschen ums Leben, weitere 1,3 Millionen wurden obdachlos.

Garlin, die in einem Aufnahmelager für Vertriebene lebt, wird mit ihren Nöten allerdings nicht allein gelassen. Gemeinsam mit 2.000 weiteren Erdbebenopfern aus vier Camps erhält sie intensive psychologische Betreuung.

Das Hilfsprogramm 'Soulaje Lespri Moun' (Erleichterung für den Geist) wird von Psychologen der Universität der Aristide-Stiftung für Demokratie umgesetzt. Unterstützung kommt auch von einem Expertenteam der Universität im US-Bundesstaat Michigan, das von der Psychiaterin Leah James geleitet wird.

Die nach dem ehemaligen haitianischen Staatspräsidenten Jean-Bertrand Aristide benannte Stiftung, die das gesamte Projekt finanziert, hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen am Rande der Gesellschaft unter die Arme zu greifen. Nicht alle Bewohner der Lager hätten allerdings anfangs eingesehen, dass auch ihre Seele Hilfe brauche, meint Laura Flynn, die im Vorstand der Stiftung sitzt. "Sie erwarteten andere Unterstützung wie Wasser und Lebensmittel."


Programm an Erfordernisse in Haiti angepasst

Der haitianische Psychologe Jacques Solon Jean passte das in Michigan entwickelte Programm den speziellen Erfordernissen in seinem Land an. Für jeden Teilnehmer sind zunächst drei Therapiesitzungen vorgesehen. Wer weitere Unterstützung braucht, kann aber wiederkommen.

Die Betreuer erklärten den Patienten, dass das Erdbeben zwar ein abnormes Ereignis gewesen sei, ihre Reaktionen darauf aber völlig normal seien, sagt Pierre Anderson Soulouque, der dem Psychologenteam angehört. "Wir zeigen ihnen dann, wie sie mit ihren Albträumen oder Schreianfällen umgehen können."

Die Überlebenden des Bebens werden dazu ermuntert, die belastenden Erlebnisse in Gesprächsrunden zu beschreiben und mit anderen über ihre Ängste zu sprechen. Gezielte Entspannungs- und Meditationsübungen stehen ebenfalls auf dem Therapieplan.

Übungen wie die 'Umarmung des Schmetterlings' seien den Leuten völlig neu, sagt Soulouque. "Am Anfang fragen sie 'Was ist das?', doch schon nach dem zweiten oder dritten Mal merken sie, dass es ihnen gut tut."

Der Psychologiestudent zeigt, wie die Schmetterlingsübung funktioniert. Alle setzen sich im Kreis zusammen, schließen die Augen, legen die Arme über die Brust zusammen und berühren die Nachbarn ganz leicht mit den Schultern. Die Teilnehmer werden aufgefordert, belastende Gedanken beiseite zu lassen und an etwas Schönes zu denken.

"Als wir unsere Augen wieder öffneten, sahen wir in lächelnde Gesichter. Es war ein starkes Gemeinschaftserlebnis", berichtet Soulouque. Wenn die Psyche krank sei, könnten solche Übungen helfen, da man sich auf eine bestimmte Sache konzentrieren müsse, sagt Garlin, deren Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit im Laufe der Therapie verschwunden sind.


Helfer teilen Schockerfahrungen der Patienten

Anders als von den Wissenschaftlern in Michigan ursprünglich vorgesehen, stehen den Psychologen in Haiti zusätzliche Betreuer zur Seite, die das Erdbeben selbst miterlebt haben. Wie Jean hervorhob, kommen diese Helfer noch näher an die Patienten heran und können sie etwa davon überzeugen, dass eine solche Katastrophe keine Strafe Gottes sei.

In drei Lagern wurde das Projekt inzwischen erfolgreich abgeschlossen, während in dem vierten Camp noch Sitzungen stattfinden. James und die Aristide Stiftung bemühen sich unterdessen darum, weitere Fördergelder einzuwerben und neue Projektpartner ins Boot zu holen. (Ende/IPS/ck/2010)


Links:
http://aristidefoundationfordemocracy.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=53032

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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010