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BERICHT/082: Mit anderen Augen sehen - Clownspiel als Zugang zum Fremden im Selbst (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Mit anderen Augen sehen
Clownspiel als Zugang zum Fremden im Selbst

Von Anne Buntemann


Kann das Clownspiel als ressourcenorientierte Intervention auf das subjektive Wohlbefinden psychisch erkrankter Menschen Einfluss nehmen? Die Autorin bietet einen kleinen Einblick in den Einsatz dieser sinnlich-spielerischen Methode in einem Leipziger psychosozialen Gemeindezentrum.


Leise und zaghaft betritt der Clown die Bühne. Sein Blick fällt auf ein weißes Taschentuch, welches sich in seiner Einsamkeit verliert. Die Nase tastet sich langsam heran, spürt und zuckt zurück. Mit nur einem Blick übermittelt der Clown dem Publikum seine Entdeckung. Er berührt langsam das weiße Tuch, hebt es an und im nächsten Moment strahlt er über das ganze Gesicht. Das Tuch fängt an, sich zu regen, und kleine Stimmen erleuchten die fantastische Welt unter dem Taschentuch. Doch was vermag sich darunter so eifrig zu bewegen? Die Imagination des Betrachters erschafft sich ihre eigenen Bilder, die Welt des Unsichtbaren setzt keine Grenzen. Der Clown mustert liebevoll das Treiben unter dem Tuch. Doch schon im nächsten Augenblick fährt seine Zunge aus dem Mund, und der Bauch erstreckt sich in seinem ganzen Fassungsvermögen. Die Fingerspitzen wandern langsam unter das Tuch und ziehen einen winzigen Taschentuch-Bewohner hervor. Der Mund öffnet sich in voller Breite, die Hand fliegt über dem Kopf und lässt das Wesen in die Tiefe purzeln. Mit einem Schmatzen und Schmecken vernascht der Clown den eben noch so zärtlich Betrachteten. Er verliert sich im Genuss und in der Leidenschaft, bis ihm plötzlich wieder die Anwesenheit des Publikums bewusst wird. Sein Blick wendet sich zögerlich den Augenpaaren seiner Zeugen entgegen. In Erwiderung der Erwartungshaltungen zieht er das verspeiste Wesen aus dem Mund heraus und setzt es vorsichtig wieder unter das behütende Tuch.


Begegnungen im Dazwischen

Diese clowneske Szene entstand während eines Projektes im Psychosozialen Gemeindezentrum Leipzig-Nordost, das im Rahmen einer universitären Abschlussarbeit initiiert wurde. Die empirische Studie folgte dem Anliegen, anhand qualitativer Methoden die Verbindung zwischen Spiel und gesundheitsfördernden Prozessen zu ergründen. Die medizin-psychologische Intervention wurde von sieben Teilnehmern mit viel Interesse und Vergnügen angenommen, um die Welt des fantastischen Spiels zu ergründen. Unter Anleitung entwickelten sie eine eigene Clownsfigur, die sich in theatralen Übungen und der szenischen Improvisation entfalten konnte. Doch was verbirgt sich hinter dem Spiel des Clowns, einer Figur, die jeder kennt und doch so vielfältige Zuschreibungen erfährt?

In dieser Methode ist die Clownsfigur den Masken zuzuordnen, deren Wurzeln auf eine weitestgehend vergessene, traditionelle Spielweise zurückgehen. Die Eigenheit traditioneller Masken liegt in ihrem leiblichen, überindividuellen und ambivalenten Spiel. Die Eindeutigkeit wird aufgehoben, in der Doppeldeutigkeit liegt die kommunikative Kraft. Die ambivalenten Figuren vereinen vermeintliche Gegensätze komplementär, sowohl strahlend-schön als auch tierisch-wild, weise und einfältig, zerstörerisch und erfinderisch.(1) Bestehende Verhältnisse werden durch das Spiel mit der Mehrdeutigkeit und Verkehrung hinterfragt. Die Freude am Wechsel und der Verwandlung relativieren scheinbar konstante Grenzen. Eine Sichtweise, die im Lachen vermittelt wird. Entgegen der Vorstellung, die Maske verberge als Täuschungsobjekt die wahre Identität, enthüllt sie das Andere im Individuum, »etwas, das seinen Träger in eine Relation zu sich selbst setzt, über das er nicht vollständig verfügen kann«.(2) Die Verwendung der Clownsmaske im Spiel ist eine Möglichkeit, die engen Identitätsgrenzen zu verlassen. Sie ermöglicht den Zugang zu einem Teil des Selbst, der durch gesellschaftliche Norm- und Wertevorstellungen häufig unterdrückt wird. In der Entgrenzung zur eigenen Person als fremder Teil des Eigenen beginnt das Spiel in einer unumgrenzten Welt, im Bereich der Fantasie.


Clownspiel als sinnliche Erfahrung

Durch die Maske betritt der Spieler diese 'andere' Welt, in der die Grenzen menschlichen Denkens aufgehoben werden. Die Vernunft als innere Zensur wird zurückgestellt, und es erscheint eine Figur, die nach dem Lustprinzip handelt und durch Intuition geleitet wird. Die Maske bietet dem Spieler einen Schutzraum. Unter Vorherrschaft der Spielfreude ist eine freie Entfaltung im Imaginären möglich. Hier kann der Spieler seinen Bedürfnissen und Wünschen nachgehen. Denn dem Clown bleibt erlaubt, was dem alternden Kind längst verboten wird. Jeder Impuls ist Anlass für ein neues Spiel, das in der Begegnung mit anderen Clownsfiguren und dem Publikum improvisiert wird. Ein Wechselspiel zwischen Aktion und Reaktion.

Im unmittelbaren »Dasein« treten Körper und affektive Erregungszustände als primäre Emotionen in den Vordergrund des Erlebens. Die Emotionen finden ein Ventil, als Reaktion auf jeden Impuls werden sie in variierender Intensität ausgespielt. Die Verbindung zu eigenen Gefühlen stellt ebenfalls die Verbindung zum Körper her. Im sinnlich-leiblichen Spiel wird ihm eine besondere Präsenz zuteil - er wird zum genussvollen Erlebnisfeld des Spielers. In einem Grundzustand der Leichtigkeit findet sich der Spieler im Hier und Jetzt, ohne Zwang zur Produktivität, schöpferisch in der spontanen Handlung. Bewertungssysteme sind verschoben: Was für den Mensch klein und schmächtig erscheint, ist für die Clownsfigur groß und prächtig - oder umgekehrt. Aufgrund des verdrehten Sichtfeldes eröffnen sich neue Perspektiven und ungewöhnliche Lösungsvorschläge. Begegnungen im Spiel bekommen eine eigene Qualität. Die Sinneswahrnehmung richtet sich auf den momentanen Ist-Zustand. Zug um Zug gestalten die Spielpartner ihre eigene Welt.


Die Schönheit des Scheiterns

Die grotesk anmutende Figur folgt frei nach dem Lustprinzip ihren Impulsen, trifft dabei fortwährend auf Hindernisse jeder Art. Sie scheitert, und das mit Lust. So versucht sie unter dem Scheinwerfer der Irrungen, die Konflikte zu lösen, verfängt sich jedoch erneut im Netz der Missgeschicke. Mit Vergnügen setzt sich die Clownsfigur der Unkontrollierbarkeit und Haltlosigkeit aus. Die Lust am Scheitern verkehrt alltägliche Probleme, hervorgehend als Quelle kreativen Potenzials. Das Clownspiel verwandelt vermeintliche Unzulänglichkeiten in eine theatrale Kraft. Im absichtslosen Zustand zwischen Reaktion und Überraschung finden sich immer neue Probleme, doch statt die Schwächen zu kaschieren, werden die Gefühle beim Fiasko ausgestellt. Scheitern ist nicht das Ende eines Spieles, sondern der Beginn eines neuen. Daher gilt es, die Spielfreude zu entdecken, eigene Schwächen und verleugnete Anteile auf die Spitze zu treiben und auszukosten. Die Clownsfigur ist Gegner des Perfekten, sie führt den Spieler zur Offenheit und zur Lebendigkeit, denn sie kann auch dem Scheitern Lust abgewinnen. Die Schwäche wird zur Stärke des Spieles. Die Angst vor dem Scheitern und den Hindernissen des Alltags wird verkehrt. Das Clownspiel relativiert die Weltsicht. Oder in den Worten der Teilnehmer gesprochen: »Man darf nicht alles so ernst sehen und nehmen.« Und: »Hilfreich für mich ist da auch, wenn ich über mich selbst lachen kann.«


Interventionsziel Wohlbefinden

Die Methode »Clownspiel« verbindet in ihrer Vielfältigkeit mehrere Aspekte in einem ressourcenorientierten Ansatz. Sie schafft auf direktem Weg angenehme sensorische Reize und regt die Fantasie an. Sehr bedeutend ist das humorvolle Spiel, das erlaubt, Abstand zu gewinnen und über die Missgeschicke des Alltags lachen zu können. Katrin Faber, Mitarbeiterin des Psychosozialen Gemeindezentrums und Projektbetreuerin, spricht allen Teilnehmern eine positive Veränderung durch den Kurs zu. Diese zeige sich vor allem in einer neuen Lebendigkeit und einem gesteigerten Selbstwertgefühl. Durch die Entdeckung einer solchen Clownsfigur bekämen die Teilnehmer die Möglichkeit, etwas von sich zu zeigen, Gefühle und Verhaltensweisen auszuleben, die im gesellschaftlichen Alltag zumeist sanktioniert werden. Diese kreative Methode birgt vielfältige gesundheitsfördernde Komponenten, ganz nach den Worten von Paul Watzlawick: »weniger vernünftig und dafür gesund-emotionaler, instinktsicherer«.


Anne Buntemann ist M.A. Theaterwissenschaft/Erziehungswissenschaft, leitet die Clownswerkstatt und ist als Gesundheitsclownin im Leipziger Clowns & Clowns e.V. tätig. Ihre Magisterarbeit »Clown - Spielfigur und Heiler. Clownspiel als medizin-psychologische Intervention - eine Fallstudie« kann auf Anfrage eingesehen werden: anne_buntemann@yahoo.de

Die Untersuchung wurde unter der Betreuung von Prof. Dr. rer. nat. habil. Konrad Reschke, Universität Leipzig, Institut für Psychologie II, Abteilung für Klinische Psychologie, realisiert.


Anmerkungen:

(1) Vgl. Baumbach, Gerda: Seid gegrüßt, Maske! Zur Maskenproblematik in der Neuzeit. In: Corps du Théâtre / Il Corpo del Teatro. organicité, contemporanéité, interculturalité / organicità, contempoaneità, interculturalità. Hrsg. von Ulf Birbaumer, Michael Hüttler und Guido Di Palma. Wien: Hollitzer Wissenschaftsverlag, 2010, S. 149 f. und S. 168.

(2) Schwab, Gabriele: Die Subjektgenese, das Imaginäre und die poetische Sprache. In: Dialogizität. Hrsg. von Renate Lachmann. München: Fink-Verlag, 1982, S. 82.


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Auswicklungen

verspannt
kurzatmig
schüchtern

Blick zur Tür
Blick nach der Uhr
Zweifelblick Ideenwüste Angstschwere

deine pointierte Aufforderung
deine unbezwingbare Zuversicht
dein sprühender Kern entfachend meinen sprühenden Kern

mein Nachahmen
welch Staunen
ein kleines Freispiel

ein zaghaftes Zusammenspiel
ein tänzelndes Wagen
ein unbekanntes Betragen
und hernach keine Fragen

ein Immerneuesbegrüßen
ein Entdecken von Füßen
ein tiefes Loslachen
und Michvollliebesmutmachen

Daniela Delphine Döring
Kursteilnehmerin


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011, Seite 36 - 37
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp

Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011