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FORSCHUNG/087: Gedächtnisbildung (JOGU Uni Mainz)


JOGU Nr. 199, Februar 2007
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gedächtnisbildung

Von Ulrike Brandenburg


Schlaf - ein Leistungsmotor "Der Schlaf - Lebensphänomen und Forschungsfeld" lautete im Wintersemester der Titel einer Ringvorlesung des Studium generale. Insbesondere der Gastvortrag des Lübecker Schlafforschers Jan Born stieß auf waches Interesse. Muschel- Hörsaal N3 platzte aus fast allen Nähten. "Lernen im Schlaf" - dieser Wunsch ist eben genau so alt wie der Traum vom Fliegen - und nicht minder realisierbar.

Dass Traumbilder die Zukunft zeigen, galt von der Antike bis zum Beginn der Aufklärung als Faktum. Vor einem Jahrhundert reduzierte Sigmund Freud das allnächtliche Kopfkino auf den erotischen Wunsch. Doch heute überzeugt auch die psychoanalytische Deutung nur noch bedingt. Wir Gegenwärtigen halten es eben lieber mit dem Volksmund, der da sagt, dass Träume Schäume sind. Dennoch besitzt ja gerade das Virtuelle seinen Reiz. Wer lange nach Mitternacht ins Bett geht, hat am meisten von den selbst generierten Fantasy-Filmen, die während der so genannten REM-Phasen des Schlafes laufen.

Spät-zu-Bett-Geher sind also in doppelter Weise erlebnisorientiert. "Schlafen kannst du, wenn du tot bist" lautet ja auch das Motto der Jungen und Fitten, und ist das so falsch?

"Ja", antwortet Prof. Dr. Jan Born, Direktor des Lübecker Universitäts- Instituts für Neuroendokrinologie. Mit dem Hinweis darauf, dass der ideale Schlaf um 11 Uhr abends beginne und um sieben Uhr morgens ende, sorgte Born gleich zu Anfang seines Vortrags für allgemeines Gelächter. Aber warum nur ist er so wichtig, der Schlaf vor Mitternacht, den unsere Eltern und Großeltern uns hartnäckig verordnen wollten und gegen den wir uns wehrten, sobald wir sprechen und laufen konnten? Weil wir im Schlaf, genauer, während der ersten Einheit des Nachtschlafes, der so genannten Delta-Phase, das Wissen verfestigen, das wir uns tagsüber aneignen, lautet die schlichte wissenschaftliche Antwort. Ohne ausreichenden Schlaf würden wir das Sprechen und das Laufen also gar nicht erst erlernen. Der Schlaf ist eben nicht in erster Linie Bildfabrik, sondern Lernlabor. "Die Gedächtnisbildung ist keineswegs die einzige, aber die wichtigste Funktion des Schlafes, der vor allem dazu dient, Informationen zielgerichtet zu verarbeiten", so Born.

Für seine Testreihen schickt der Lübecker Professor regelmäßig Studenten ins Schlaflabor. Denn Traumberichte, so der Forscher, seien prinzipiell ungeeignet, um relevante Ergebnisse zu erzielen. Hormonspiegel-Messungen liefern hingegen einen präzisen Beweis dafür, dass unser Gehirn im Schlaf hochgradig aktiv ist. Bei jedem Menschen treten in der Aufwachphase vermehrt die Stresshormone ACTH und Cortisol im Blut auf - der Körper mimmt so den erwarteten Wachstress vorweg.

Ist den Personen vor dem Einschlafen der Zeitpunkt des Weckens mitgeteilt worden, liegt die entsprechende Hormonmenge deutlich höher als im Falle einer Überraschungsweckung. Das Gehirn hat die Informationen aus der Wachphase während des Schlafes verarbeitet. Und nicht nur das - es hat Erlebtes und Erlerntes dauerhaft abgespeichert, es hat neu erworbene Kenntnisse verfestigt, indem es sie den Langzeitgedächtnisstrukturen eingefügt hat - oder warum wachen wir auch sonntags zu unserer üblichen Weckzeit auf?

Zu den evolutionär ältesten Strukturen des Gehirns zählt der hufförmige Hippocampus - der seinen Namen übrigens nicht dem gebräuchlichen lateinischen Begriff ("Seepferdchen"), sondern dem griechischen Wort für "Meerungeheuer" ("Hipposkampos") verdankt.

Die Tiefen des Hippocampus sind für die Verarbeitung und Speicherung aller so genannten prozeduralen Abläufe zuständig. So fallen die Reproduktion von motorischen Sequenzen und das Erkennen von visuellen Texturen in den Zuständigkeitsbereich eben des Hippocampus. Dieser ist aber auch an der Vertiefung des so genannten deklamatorischen Wissens, des Vokabelerwerbes etwa, beteiligt.

Während wir lernen, wird das zu speichernde Material enkodiert, also etikettiert und abgelegt, und zwar im Neocortex, dem stammesgeschichtlich jüngsten Teil der Großhirnrinde. Eine Kopie des Materials wird an den Hippocampus gesendet. Dieser reaktiviert während des Schlafes die abgespeicherten Inhalte. Die Reaktivierungen stimulieren den Rücktransfer der Informationen in den Neocortex. Dabei werden durch so genannte regelmäßige Spindelpulse Calciumströme ausgelöst, die mittelbar diejenigen Synapsen aktivieren, die für die Encodierung zuständig waren. Die synaptischen Verbindungsstellen werden gekräftigt, das Material ist dem Gedächtnis eingeschrieben.

Vergleichende Leistungstests, die nach einer Lernphase und nach einer Kombination von Lern- und Schlafphase durchgeführt wurden, zeigten eine Leistungssteigerung im Kombi-Fall. Bei Studenten, die vor dem Schlaf Vokabeln gepaukt hatten, konnte außerdem eine Zunahme der Spindelaktivitäten festgestellt werden.

Schlaf ist also ein Leistungsmotor. Während des Schlafes wird das Gehirn trainiert, die frisch erworbenen Informationen werden nach Relevanz sortiert und Fähigkeiten werden automatisiert. So ist die Zunahme etwa von explizitem Vokabelwissen auch im vom Hippocampus abhängigen deklarativen Gedächtnissystem noch nach einem Jahr nachweisbar. "Die Gedächtnisbildung im Schlaf ist ein aktiver Prozess, bei dem es zu einer Reorganisation der frisch enkodierten Gedächtnisrepräsentanzen kommt", schlussfolgert Born.

Es lohnt sich also, den Ermahnungen der Eltern und Großeltern zu folgen, will sagen, bis 22 Uhr zu lernen und um 23 Uhr zu Bett zu gehen. Wenigstens vor dem Examen.


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Quelle:
JOGU - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 199, Februar 2007, Seite 11
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Jörg Michaelis
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: Annette.Spohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2007