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FORSCHUNG/138: Stressige Lektionen (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 1-2/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Stressige Lektionen

Von Mathias V. Schmidt und Lars Schwabe


Psychischer Druck kann Menschen vergesslich machen. Manchmal beflügelt er aber auch unser Erinnerungsvermögen. Der Biologe Mathias V. Schmidt und der Psychologe Lars Schwabe ergründen, wie Stress Lernvorgänge beeinflusst.



Auf einen Blick

Stress, Lernen und Gedächtnis

1. Stress kann unsere Lern- und Gedächtnisleistung herabsetzen. Das trifft besonders dann zu, wenn die Stressoren nichts mit der konkreten Lern situation zu tun haben.

2. Erlebnisse, die den Körper unmittelbar in Aufruhr versetzen, brennen sich hingegen tief ins Gedächtnis ein. In diesem Fall fördert Stress die Lernleistung.

3. Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol fördern strukturelle Veränderungen an den Hirnzellen und beeinflussen so die Gedächtnisleistung.


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Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zugs. Das Taxi bleibt an der roten Ampel stehen. Jetzt bloß keine weitere Verzögerung - ich darf nicht schon wieder zu spät kommen! Da vorn ist der Bahnhof. Warum muss das hier vor den Feiertagen auch immer so voll sein? Schnell zum Bahnsteig gerannt. Der Schaffner gibt bereits das Signal zur Abfahrt. Mein Herz rast. Schweißtropfen stehen mir auf der Stirn. Ich sinke in den Sitz. Gerade noch geschafft!

Kennen Sie solche Situationen? Ob in Form von Zeitnot, Konkurrenzdruck oder kritischen Bewertungen durch Mitmenschen - Stress gehört für die meisten von uns zum Alltag. Er aktiviert biologische Systeme, die sich in ähnlicher Form bei allen Wirbeltieren finden. Als Hauptdarsteller agieren dabei die Hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol (siehe Kasten S. 27). Sie entfalten im Körper verschiedene Wirkungen, die allesamt darauf ausgerichtet sind, eine akute, schwierige Situation zu meistern. Hierzu zählen beispielsweise die Aktivierung des Herz-Kreislauf-Systems oder die Beschleunigung der Atmung. Stress vermag jedoch noch mehr: Er beeinflusst auch Lernen und Gedächtnis.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an manche Prüfung in der Schule oder während des Studiums. Obwohl Sie sich lange darauf vorbereitet hatten, lief das Examen alles andere als berauschend. Sie konnten sich an viele Dinge einfach nicht erinnern, die Ihnen Stunden später scheinbar mühelos wieder einfielen. Ein möglicher Grund hierfür könnte die Erwartungsangst gewesen sein, denn Studien belegen: Stress kann den Gedächtnisabruf beeinträchtigen.

In einem Experiment von 2005 setzten Sabrina Kuhlmann, Marcel Piel und Oliver Wolf an der Universität Düsseldorf Versuchspersonen in einer fiktiven Bewerbungssituation unter Druck. Wenig später sollten sich die Probanden an Wörter mit neutralem und emotionalem Inhalt erinnern, die sie tags zuvor gelernt hatten. Wie sich zeigte, führte der Stress vor dem Gedächtnistest zu einer deutlichen Abnahme der Erinnerungsleistung für emotionale Wörter. Neutrale Begriffe behielten die Probanden dagegen ebenso gut, wie es Personen ohne Belastungstest vermochten. Möglicher Grund: Stress wirkt sich dann negativ auf das Gedächtnis aus, wenn zugleich die Amygdala - eine für die Verarbeitung von Emotionen wichtige Hirnstruktur - aktiviert wird.

Doch macht Stress grundsätzlich vergesslich? Nein. Studien zeigen, dass psychischer Druck den Gedächtnisabruf unter bestimmten Umständen sogar verbessern kann. Erfahrungen, die uns - im positiven wie im negativen Sinn - emotional aufwühlen, bleiben später außergewöhnlich gut im Gedächtnis haften. An welche Ereignisse aus dem letzten Jahr können Sie sich erinnern? Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden es besonders freudige, peinliche oder belastende Erlebnisse sein.

Larry Cahill und seine Kollegen von der University of California in Irvine untersuchten 2003, ob sich die Erinnerungsleistung steigern lässt, wenn Menschen unmittelbar nach einer Lernaufgabe unter Stress geraten. Die Probanden sahen zunächst eine Reihe neutraler und emotionaler Bilder und mussten anschließend ihre Hand mehrere Minuten lang in Eiswasser halten - Stress für den Körper. Eine Woche später folgte der Gedächtnistest. Tatsächlich erinnerten sich jene Versuchspersonen, die nach dem Lernen getriezt wurden, an mehr Bilder als Probanden, denen die unangenehme Erfahrung erspart geblieben war. Wiederum zeigte der Stress jedoch ausschließlich bei emotional erregenden Stimuli Wirkung.

Besonders dramatische Folgen für das Gedächtnis haben Erlebnisse, die zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung führen. Charakteristisch für dieses Krankheitsbild sind sich immer wieder aufdrängende Erinnerungen an schlimme Erfahrungen wie einen Unfall oder eine Vergewaltigung. Forscher vermuten, dass sich diese besonders stark ins Gedächtnis einbrennen, da die hierbei ausgeschütteten Stresshormone die Konsolidierung fördern - also die Verankerung einer Erfahrung im Langzeitgedächtnis.

Wie lassen sich die scheinbar entgegengesetzten Effekte von Stress auf den Gedächtnisabruf beziehungsweise bei der Konsolidierung erklären? Die Forschergruppe um Marian Joëls von der Universität Amsterdam schlug 2006 ein Modell vor, dem zufolge wir zwei Phasen zu unterscheiden haben: Anfänglich fördern die als Reaktion auf psychischen Druck ausgeschütteten Hormone und Neurotransmitter die Aufmerksamkeit, was Lernprozesse unterstützt. Nach einer gewissen Zeit erschwert jedoch das Hormon Cortisol die Verarbeitung von Informationen, die nicht mit dem Stress auslösenden Ereignis zusammenhängen. Diese »Abschirmung« könnte die ungestörte Konsolidierung relevanter Erinnerungen stärken, indem sie Ablenkung ausschaltet.


Examen im Abschirmmodus

Nach diesem Modell sollten wir uns an Situationen wie die eingangs beschriebene Eile am Bahnhof später noch sehr gut erinnern können. Auch die lernfördernden Effekte von Stress ließen sich damit erklären, dass die Lernepisode und die unmittelbar folgende Belastung als zusammengehörig wahrgenommen werden. Während einer Prüfung dagegen wird die Erinnerungsleistung erschwert, da unser Stresssystem schon mehrere Stunden vor dem Examen durch die Erwartungsangst aktiviert wurde und nun im »Abschirmmodus« läuft.

Stress beeinflusst jedoch nicht nur, wie viel wir im Kopf behalten, sondern auch was. Unser Gedächtnis gliedert sich in verschiedene Subsysteme, die sich sowohl in ihrer Funktion als auch hinsichtlich der dafür jeweils relevanten Hirnstrukturen unterscheiden. Vereinfacht gesagt: Unser Gedächtnis gleicht nicht einem großen Kleiderschrank, in dem alles landet, was wir erleben und lernen. Vielmehr gibt es mehrere Schränkchen, die an verschiedenen Stellen im Zimmer stehen und für bestimmte Inhalte zuständig sind.


Radfahren ist stressresistent

Einige dieser Unterabteilungen - wie das episodische Gedächtnis, das Erinnerungen aus unserem Leben bereitstellt (siehe G&G 5/2008, S. 54) - reagieren sehr empfindlich auf Stress. Hingegen wird der Speicher für praktische Fähigkeiten wie Radfahren oder Schreibmaschine tippen kaum davon beeinflusst. Diese verschiedenen Gedächtnissysteme arbeiten parallel und können sogar in Konkurrenz zueinander stehen. Stress beeinflusst wiederum, welches System beim Lernen den Takt vorgibt.

Um die Wirkung von Stress auf unterschiedliche Lernstrategien zu testen, haben wir 2007 an der Universität Trier Probanden nach dem standardisierten »Trier Social Stress Test« (TSST) unter Druck gesetzt. Dabei mussten sie unvorbereitet eine Rede vor einem Publikum halten und danach kopfrechnen. Anschließend folgte die eigentliche Lernaufgabe: Wir präsentierten den Teilnehmern zwölfmal hintereinander einen Tisch, auf dem vier verdeckte Karten lagen (siehe Bild S. 26). Nun sollte eine spezielle Karte, die »Gewinnkarte«, gezogen werden - die Chance lag also bei eins zu vier. Für jede richtige Wahl erhielten die Probanden 50 Cent. Was sie nicht wussten: Die Gewinnkarte befand sich immer an derselben Stelle - direkt neben einer auf dem Tisch stehenden Pflanze.

Die Testpersonen, die zunächst nur zufällige Treffer landeten, suchten nach jedem Durchgang nach Hinweisen, wo die richtige Karte jeweils liegen könnte. Dabei konnten sie zwei unterschiedliche Strategien einsetzen: Entweder orientierten sie sich an der Beziehung zwischen verschiedenen Gegenständen im Raum - wie der Tür, dem Fenster, einem Bild an der Wand oder einem in der Ecke stehenden Stuhl. Oder sie lernten, dass die Gewinnkarte neben der Pflanze lag - sie bauten eine Reiz-Reaktions-Verbindung auf.

Welche Strategie zum Tragen kam, ließ sich leicht testen, indem wir die Pflanze umsetzten. Wählten die Testpersonen das Kärtchen in der Position, wo zuvor stets die Gewinnkarte lag, konnten wir daraus schließen, dass sie sich an räumlichen Merkmalen orientiert hatten. Tippten sie aber auf die Karte neben der neuen Position der Pflanze, zeigte dies die Nutzung der Reiz-Reaktions-Strategie. Ergebnis: Etliche der nicht gestressten Probanden setzten auf die anspruchsvollere, aber zielsichere räumliche Strategie. Unter Stress verließen sich jedoch fast alle Teilnehmer auf die relativ einfache Reiz-Reaktions-Verbindung.


Verringerte Flexibilität

Dieses Ergebnis und die Daten anderer Forscher zeigen, dass der stressbedingte Wechsel des Gedächtnissystems die Flexibilität des erworbenen Wissens herabsetzt. Ein Transfer auf neue Situationen wird erschwert. Prägen wir uns beispielsweise unter Stress lediglich ein, dass im Bahnhof der zweite Aufgang rechts zum Gleis führt, hilft uns dieses Wissen kaum weiter, wenn der Haupteingang durch Bauarbeiten gesperrt ist und wir das Gebäude von einer anderen Seite betreten müssen.

Die Annahme, dass Stress unser Lernverhalten auf Kosten der Flexibilität vereinfacht, konnten wir 2009 in Bochum bestätigen. Die Hälfte unserer Probanden bekam abermals eiskaltes Wasser zu spüren, während die Kontrollgruppe ihre Hand lediglich in lauwarmes Wasser tauchte. Anschließend konnten die Versuchspersonen zwischen Kakao und Orangensaft wählen, wobei sie bestimmte Symbole auf einen Bildschirm anklicken mussten. Schnell hatten die Probanden begriffen, welches Symbol mit welchem Getränk belohnt wurde.

Doch dann verdarben wir unseren Freiwilligen den Appetit, indem wir sie Schokoladenpudding oder Orangen essen ließen. Erwartungsgemäß mieden die Versuchsteilnehmer aus der Kontrollgruppe im zweiten Testdurchgang den dadurch »entwerteten« Kakao beziehungsweise Orangensaft. Anders die gestressten Personen. Obwohl auch sie angaben, auf die besagten Getränke keine Lust mehr zu haben, klickten sie weiterhin das damit verbundene Symbol an. Sie wurden Opfer ihrer Gewohnheit; der Stress hatte offenbar den »Autopiloten« angeschaltet. Der evolutionäre Vorteil dieses Phänomens liegt auf der Hand: Das Gehirn kann sich in einer Stresssituation auf wichtigere Dinge konzentrieren.

Welche Vorgänge liegen solchen Lernstrategien zu Grunde? Bildgebende Verfahren, wie etwa die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), ermöglichen eine Zuordnung bestimmter Hirnareale zu kognitiven Prozessen, können aber die Frage nach den molekularen Prozessen im Gehirn nicht beantworten. Für die Erforschung von Stresseffekten auf das Gedächtnis sind Wissenschaftler daher nach wie vor auf Versuchstiere angewiesen.

Doch lassen sich komplexe Gedächtnissituationen bei Tieren überhaupt testen? Die Antwort lautet Ja. Tiere sind ebenso wie Menschen darauf angewiesen, sich Orte und Ereignisse zu merken: Wo habe ich gestern Futter gefunden? Wo ist mein Nest? Welche Orte sind gefährlich und folglich zu meiden? Eine zuverlässige Erinnerung an emotionale, stressvolle Momente erweist sich für Organismen in freier Wildbahn als überlebensnotwendig. Auch ist es durchaus möglich, Gedächtnisleistungen bei Versuchstieren zu messen - etwa im »Wasserlabyrinth« (englisch: water-maze), bei dem sich Nager die Position einer im Wasser versteckten Plattform merken müssen (siehe "Tiere als Modell - wie lernt die Maus?" unten).

Tatsächlich haben derartige Studien gezeigt, dass Mäuse und Ratten genauso auf Stress reagieren wie Menschen. So wies Melly Oitzl zusammen mit ihren Kollegen von der Universität Leiden schon 1992 nach, dass Tiere ohne funktionierendes Stresssystem schlechter lernen: Ratten, die das dem menschlichen Cortisol entsprechende Stresshormon Corticosteron nicht mehr herstellten, da ihre Nebennieren entfernt worden waren, benötigten viel mehr Zeit, um die Plattform im Wasserlabyrinth zu orten. Den gleichen Effekt hatte eine pharmakologische Blockade der Hormonrezeptoren, an die Corticosteron im Gehirn bindet. Die Gedächtnisleistung von Tieren verbessert sich also ebenfalls unter dem Einfluss von Stresshormonen.


Ratten im Labyrinth

Auf der anderen Seite vermindert ein von der Lernsituation unabhängiger und zeitlich nicht gekoppelter Stress die Gedächtnisleistung, wie David Diamond von der University of South Florida in Tampa und seine Kollegen 1996 belegen konnten. Die Forscher hatten Ratten beigebracht, dass in sieben Gängen eines 14-armigen Labyrinths Futter versteckt war.

Dann begann der eigentliche Versuch: Sobald die Tiere vier der sieben Leckerbissen vertilgt hatten, wurden sie für vier Stunden aus der Apparatur entfernt. Konnten sich die Nager so lange merken, welche Gänge sie schon aufgesucht hatten und in welchen noch eine Belohnung lockte? Ergebnis: Nur nicht gestresste Tiere behielten die verbleibenden drei Futterplätze im Gedächtnis. Waren die Tiere vor dem Test gestresst, indem sie in eine für sie unbekannte Umgebung gesetzt worden waren, machten sie viel mehr Fehler bei der Suche.

Unkontrollierbarer Stress, der nicht von der Lernsituation selbst ausgeht, kann also die Gedächtnisleistung negativ beeinflussen. Dies führt oft so weit, dass andauernde oder sehr starke Stresserfahrungen die kognitiven Fähigkeiten langfristig verschlechtern. So konnte unsere Forschungsgruppe am Münchner MaxPlanck-Institut für Psychiatrie 2009 zeigen: Mäuse, die in ihrer Jugend chronischem Stress ausgesetzt waren, erbringen auch im Alter eine schlechtere Gedächtnisleistung als ihre Geschwister.


Wo ist mein Bahnsteig?

Dies hat tiefere Ursachen im Gehirn: Das Gedächtnis basiert auf strukturellen Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen, den Synapsen. Ein bestimmter Reiz, etwa der Anblick eines Bahnhofs, löst eine Signalkaskade aus, die zur Aktivierung des Erlernten (»Wo ist mein Bahnsteig?«) führt. Stresshormone greifen in den Umbau der Synapsen ein und können somit die Gedächtnisleistung beeinflussen.

Allgemein gilt: Wenn wir etwas lernen, werden bestimmte Schaltkreise von Neuronen gestärkt. Dies führt dazu, dass die elektrischen Signale einer Nervenzelle in diesem Schaltkreis einfacher auf die Nachbarzelle übertragen werden - ein Vorgang, der als Langzeitpotenzierung (englisch: long-term potentiation, LTP) bezeichnet wird. Er bildet die Grundlage der synaptischen Plastizität, also der Möglichkeit des Gehirns, aktivitätsabhängig Nervenschaltkreise zu stärken oder zu schwächen. Wirken Stresshormone im richtigen Zeitfenster auf die Nervenzelle ein, fördert dies die LTP und damit die Erinnerung an ein Ereignis oder einen Ort. Wenn die Hormone aber nicht im zeitlichen Einklang mit dem Erlernten auftreten, werden die Verbindungen zwischen den Nervenzellen geschwächt - das Erinnerungsvermögen lässt nach.

Diesen Effekt der Stresshormone konnten Forscher um Jeansok Kim von der University of Southern California in Los Angeles bereits 1996 im Hippocampus von Ratten nachweisen. Jenes Hirnareal gilt als Zentralstelle für die Ausbildung und Konsolidierung von räumlichen Gedächtnisinhalten. Stresshormonrezeptoren, welche die Gedächtnisleistung modulieren, liegen hier in hoher Konzentration vor.

Für zelluläre Lernprozesse könnten so genannte Zelladhäsionsmoleküle ein Schlüssel sein (siehe Bild rechts oben). Diese Proteine stabilisieren die Synapsen, so dass die Signalübertragung zwischen Neuronen ermöglicht wird. Adhäsionsmoleküle dienen jedoch nicht nur als statische Bauelemente. Vielmehr tragen sie zur Neubildung von Nervenzellkontakten bei und unterstützen die Plastizität der Synapsen.

Stress wiederum kann das Ablesen der Gene für solche Moleküle steuern und damit direkt den Lernprozess beeinflussen. Wie die Gruppe um Carmen Sandi von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne herausfand, aktiviert Stress das Zelladhäsionsmolekül NCAM (neural cell adhesion molecule) im Hippocampus und fördert damit die Ausbildung des Langzeitgedächtnisses. Mäuse hingegen, bei denen die Aktivierung von NCAM durch genetische Manipulation unterbunden wurde, weisen ein deutlich schlechteres Lernverhalten als Kontrolltiere auf.


Stress hat zwei Gesichter

Stress zeigt hinsichtlich seines Einflusses auf Lernen und Gedächtnis also zwei Gesichter: Er erhöht einerseits das Erinnerungsvermögen an wichtige, emotionale Ereignisse, während Unwichtiges ausgeblendet wird. Tritt Stress aber chronisch oder zu stark auf, können sich andererseits diese adaptiven Mechanismen auch schädlich auswirken. Wenn wir wissen, welche Mechanismen hinter den jeweils positiven oder schädlichen Effekten stecken, können wir möglicherweise neue Medikamente gegen stressbedingte kognitive Erkrankungen, vielleicht sogar gegen Alzheimerdemenz entwickeln.

Ein Beispiel hierfür ist das seit 2008 von der Europäischen Union geförderte Forschungsprogramm »MemStick«, das sich mit dem Einfluss von Zelladhäsionsmolekülen auf Gedächtnisprozesse beschäftigt. Ein internationales Forscherteam versucht, den Wirkmechanismen kognitiver Erkrankungen auf den Grund zu gehen und neue Therapieansätze zu testen. Die Hypothese klingt einfach: Wenn Zelladhäsionsmoleküle für Gedächtnisprozesse verantwortlich sind, sollte es möglich sein, analoge Substanzen zu entwickeln, welche die Funktion dieser Moleküle simulieren. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler bereits ein »mimetisches Peptid« für NCAM entwickeln, also ein kleines Protein, das einem Teil von NCAM sehr ähnelt. Ratten, die während chronischen Stresses mit diesem Peptid behandelt wurden, zeigten eine geringere Einbuße ihrer kognitiven Leistung.

Dieser Erfolg lässt hoffen, dass negative Auswirkungen von Stress auf Gedächtnisprozesse sich verhindern lassen - und vielleicht sogar rückgängig gemacht werden können. Andererseits eröffnet sich die spannende Möglichkeit, die positiven Effekte von Stress auf Erinnerungsleistungen gezielt zu nutzen. Hierfür gilt es, die Mechanismen von Stress, Lernen und Gedächtnis noch weiter zu entschlüsseln.


Mathias V. Schmidt ist promovierter Biologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München.
Lars Schwabe ist Psychologe, wurde an der Universität Trier promoviert und forscht seither als Postdoc an der Ruhr-Universität Bochum.


QUELLEN

Schwabe, L. et al.: Stress Modulates the Use of Spatial and Stimulus-Response Learning Strategies in Humans. In: Learning & Memory, 14(12), S. 109-116, 2007.

Schwabe, L., Wolf, O.T.,: Stress Prompts Habit Behavior in Humans. In: The Journal of Neuroscience 29(22), S. 7191-7198, 2009.

Sterlemann, V. et al.: Chronic Social Stress during Adolescence Induces Cognitive Impairment in Aged Mice. In: Hippocampus 10.1002/hipo. 20655, 2009.

Weitere Originalquellen finden Sie unter: www.gehirn-und-geist.de/artikel/1012999


ZUSATZINFORMATIONEN

Glossar

Adrenalin
vom Nebennierenmark produziertes Hormon, das den Körper in einen Alarmzustand versetzt

Cortisol
von der Nebennierenrinde produziertes Hormon; vermittelt Proteinabbau und erhöht den Blutzucker spiegel

fMRT
funktionelle Magnetresonanztomografie; bildgebendes Verfahren, das Durchblutungsänderungen im Gehirn misst, welche mit neuronaler Aktivität einhergehen

LTP
Langzeitpotenzierung; Stunden bis Tage anhaltende Verstärkung der synaptischen Übertragung zwischen Nervenzellen, die eine wichtige Grund lage des Gedächtnisses darstellt

NCAM
neuronales Zelladhäsionsmolekül; spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Nervensystems sowie bei Veränderungen der Synapsenaktivität

Zelladhäsionsmolekül
Membranprotein, das Zellen untereinander oder mit extrazellulären Substanzen verknüpft


Doppelt hält besser - zwei Systeme zur Stressbewältigung

Geraten wir in eine bedrohlich erscheinende Situation, sendet der Hypothalamus - eine tief im Gehirn liegende Struktur - ein Alarmsignal aus. Der Notruf gelangt über Fasern des sympathischen Nervensystems zum Nebennierenmark. Dieses schüttet die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin aus, welche unseren Körper blitzschnell auf Kampf oder Flucht vorbereiten: Energiereserven werden mobilisiert; Blutdruck und Herzrate steigen, um die Muskulatur besser mit Nährstoffen zu versorgen; die Atmung wird schneller, so dass mehr Sauerstoff in das Gehirn gelangt; vorbeugend werden Stoffe freigesetzt, die unsere Schmerzempfindung herabsetzen, und solche, die den Blutverlust im Fall einer Verletzung möglichst gering halten.

Neben dieser schnellen Eingreiftruppe um Adrenalin und Noradrenalin ruft die Aktivierung des Hypothalamus ein zweites, verzögert einsetzendes hormonelles Verteidigungsteam auf den Plan: die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Das im Hypothalamus gebildete Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) wandert über ein spezielles Blutkapillarnetz zur Hypophyse, einer mandelgroßen Hormon drüse, die in der Schädelbasis auf Höhe der Nase sitzt. Dort bewirkt das Hormon die Freisetzung eines weiteren Botenstoffs, des Adrenocorticotrophen Hormons (ACTH). Dieses gelangt im Blutstrom bis zur Nebennierenrinde und führt hier zur Ausschüttung von Cortisol, dem wichtigsten Stresshormon des Menschen.

Cortisol unterstützt die Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin, leitet aber auch die Rückkehr zum Normalzustand ein: Das Hormon dämpft die primären Stress-, Entzündungsund Immunreaktionen, wandelt aufgenommene Nährstoffe in Fette sowie Glykogen um und füllt so die geleerten Energiespeicher wieder auf.

Beide »Verteidigungslinien« sorgen gemeinsam für eine Anpassung an akute Stresssituationen. Darüber hinaus bereiten sie uns auch auf vergleichbare zukünftige Situationen vor - nicht zuletzt, indem sie unsere Erinnerung an das zurückliegende Erlebnis formen.


Tiere als Modell - wie lernt die Maus?

Die meisten Experimente zum Einfluss von Stress auf Lernen und Gedächtnis werden mit Ratten oder Mäusen durchgeführt. Als klassisch gelten die Versuche des amerikanischen Experimentalpsychologen Burrhus Frederic Skinner (19040), der seinen Versuchstieren beibrachte, bei einem bestimmten Signal wie dem Aufleuchten einer Lampe eine Taste zu drücken, um eine Belohnung im Form von zusätzlichem Futter zu bekommen. Mit dieser »Skinner-Box« lässt sich auch die Wirkung von äußeren Faktoren wie Stress auf Gedächtnisprozesse messen.

Andere Versuche setzen eher auf abschreckende Stimuli. Sehr häufig wird das 1984 von Richard Morris von der schottischen University of St Andrews entwickelte »Wasserlabyrinth« (water-maze) eingesetzt, mit dem sich räumliches Lernen messen lässt. Es handelt sich um ein großes, rundes Becken, das mit weiß gefärbtem Wasser gefüllt ist. Knapp unterhalb der Wasser oberfläche ist eine kleine Plattform versteckt, welche die Versuchstiere nicht sehen können. Sobald ein Tier auf diese Plattform klettert, ist es vor dem unangenehm kalten Nass gefeit.

Die Motivation des Nagers ist klar: Je schneller er die rettende Insel findet, desto schneller ist er aus dem Wasser. Orientieren können sich die Tiere mit Hilfe von Markierungen am Wasserbecken und in dessen unmittelbarer Umgebung. Während die Plattform zunächst nur zufällig gefunden wird, lernen die Nager nach wiederholten Tests rasch, wo die Plattform liegt, und schwimmen direkt dorthin. Durch die Variation der Intervalllänge zwischen den Experimenten können mit dem Morris-Wasserlabyrinth sowohl das räumliche Kurzzeit- als auch das Langzeitgedächtnis getestet werden.

(Morris, R.: Developments of a Water-Maze Procedure for Studying Spatial Learning in the Rat. In: Journal of Neuroscience Methods 11(1), S. 47 1984)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1
Rauchende Köpfe
Prüfungen sind klassische Stresssituationen. Diese können das Gedächtnis beeinflussen - bis hin zum totalen "Blackout".

Bildunterschrift 2
Lernstrategie-Test
Probanden sollen eine der vier Karten auf dem Tisch auswählen und im Lauf mehrerer Durchgänge lernen, wo sich die »Gewinnkarte« befindet. Gestresste Versuchspersonen merken sich das anhand einzelner Positionsmarker wie etwa der Topfpflanze. Entspannte orientieren sich eher an der allgemeinen Lage im Raum.
aus: Schwabe, L. et al., »Stress Modulates the Use of Spatial and Stimulus-Response Learning Strategies in Humans«, In: Learning & Memory, 14(1-2), S. 109-116, 2007; mit frdl. Gen. von Learning & Memory, Cold Spring Harbour Laboratory Press, 2009

Bildunterschrift 3
Enge Bindung
An einer Synapse springen Nervenimpulse von einer Zelle zur nächsten über. Hierzu setzt das vorgeschaltete Neuron Botenstoffe (Neurotransmitter) frei, welche über den synaptischen Spalt zur nachgeschalteten Zelle gelangen und dort an Rezeptoren binden. Spezielle Zelladhäsionsmoleküle verknüpfen die beiden Zellen über den synaptischen Spalt hinweg - sie stabilisieren die Synapse. Neuen Erkenntnissen zufolge beeinflusst Stress die Produktion der Zelladhäsionsmoleküle und darüber auch das Langzeitgedächtnis.


© 2010 Mathias V. Schmidt und Lars Schwabe, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 1-2/2010, Seite 24 - 31
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2010