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FORSCHUNG/143: Intelligenz 2.0 (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 4/2010
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Intelligenz 2.0

Von Christian Wolf


Computer, Internet und Handys fordern das Gehirn - verändern sie auch unser Denken? Aktuelle Studien zeigen: Im World Wide Web zu surfen und am PC zu spielen, steigert die visuell-räumliche Vorstellungskraft und die Aufmerksamkeit. Doch möglicherweise geraten dabei andere kognitive Fähigkeiten ins Hintertreffen.


AUF EINEN BLICK

Schlaue neue Welt?

1. Der durchschnittliche Intelligenzquotient steigt seit Jahrzehnten. Manche Forscher glauben, dass die elektronischen Medien einen Anteil an dieser Entwicklung haben.

2. Studien zeigen, dass die Beschäftigung mit Bildschirmmedien vor allem die visuell-räumlichen Komponenten des Denkens fördert und die Fähigkeit stärkt, rasch zwischen mehreren Aufgaben zu wechseln.

3. Anderen Erkenntnissen zufolge geht intensive Mediennutzung jedoch mit impulsivem Verhalten und geringerem Konzentrationsvermögen einher.


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Früher lasen die Deutschen Bücher. In einer repräsentativen Studie der Stiftung Lesen gab 2008 ein Viertel der Befragten an, überhaupt kein Buch mehr zur Hand zu nehmen. Auch die durchschnittliche Anzahl der Bände pro Haushalt hat in den letzten 20 Jahren abgenommen. Im Gegensatz dazu sind elektronische Medien wie das Fernsehen, DVDs und das Internet aus dem Alltag der meisten Menschen nicht mehr wegzudenken.

Kritiker betonen die angeblich schädlichen Folgen dieser Entwicklung: Wer viel Zeit online verbringe, sei auch im »echten« Leben nur noch auf der Jagd nach schnellen, leicht verdaulichen Informationshäppchen. Hektische Computerspiele würden die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen verkürzen, weshalb sie sich in der Schule immer schlechter konzentrieren könnten. So weit, so schlüssig. Doch sind diese Befürchtungen berechtigt?

Allen Unkenrufen zum Trotz ist der durchschnittliche Intelligenzquotient (IQ) in den vergangenen 60 Jahren weltweit gestiegen, ein Phänomen, das als »Flynn-Effekt« bekannt ist (siehe Kasten S. 46). Doch was genau das Denkvermögen beflügelt hat, ist umstritten. Längere Ausbildung und eine bessere Ernährung können ebenso dazu beigetragen haben wie die zunehmende Technisierung des Alltags: Sie zwingt uns mehr denn je, immer wieder Neues zu lernen - was die grauen Zellen auf Trab hält.


Intelligenz boomt

1948 beschrieb der Psychologe Read Tuddenham von der University of California in Berkeley erstmals, dass der Intelligenzquotient im Lauf der Zeit steigt. Er verglich den IQ von amerikanischen Rekruten im Ersten und Zweiten Weltkrieg - die jüngere Generation schnitt im Eignungstest deutlich besser ab.

Anfang der 1980er Jahre begann der neuseeländische Politologe James Flynn, systematisch die Ergebnisse von Intelligenztests aus verschiedenen Ländern zu sammeln. Er stellte fest, dass der Trend offenbar weltweit nach oben geht: Je nach Test und Land legt der IQ von Generation zu Generation um 5 bis 15 Punkte zu - ein Phänomen, das als Flynn-Effekt bekannt wurde.

Der Entdecker selbst ist skeptisch, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Offenbar, so Flynn, würden Intelligenztests vor allem solche kognitiven Fähigkeiten messen, die sich im letzten Jahrhundert besonders verbessert hätten, etwa abstraktes und wissenschaftliches Denken. Diese würden aber nur einen Teil der Intelligenz ausmachen. Zudem zeigen sich die größten IQ-Anstiege bei Verfahren, die Bildaufgaben nutzen. Offenbar wächst insbesondere die figurale Intelligenz (siehe Kasten S. 44).

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik der Originalpublikation:

IQ-Zuwachs im US-amerikanischen Durchschnitt im Wechsler-Intelligenztest für Kinder (WISC, Wechsler Intelligence Scale for Children), der unter anderem verbale, logische und mathematische Fähigkeiten erfasst. Die (geschätzte) Entwicklung des Durchschnitts-IQs im Raven-Matrizen-Test, der nur aus Bildaufgaben besteht, zeigt einen noch steileren Anstieg.

(Flynn, J. What Is Intelligence? Cambridge University Press, Cambridge 2009)


Was ist Intelligenz?

Psychologen tun sich bis heute schwer damit, diese wichtige Eigenschaft genau zu definieren. Seit William Stern an der Universität Breslau 1912 den Intelligenzquotienten (IQ) einführte, wurden etliche Testverfahren entwickelt, um die kognitiven Fähigkeiten von Menschen zu quantifizieren. Dies veranlasste Edwin Boring (1886-1968) von der Harvard University zu der lapidaren Feststellung: »Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen.«

Die meisten Forscher können sich inzwischen mit der Idee anfreunden, dass die Intelligenz aus zwei großen Faktoren zusammengesetzt ist: der allgemeinen Denkfähigkeit (auch »fluide Intelligenz« genannt) und dem erlernten Wissen (»kristalline Intelligenz«). Der häufig eingesetzte Intel igenzl Struktur-Test zum Beispiel unterteilt den ersten Bereich, das schlussfolgernde Denken, in die folgenden Komponenten:

• figurale Intelligenz (zum Beispiel räumliche Figuren in der Vorstellung drehen, Muster logisch ergänzen)
• numerische Intelligenz (zum Beispiel rechnen, Zahlenreihen fortsetzen)
• verbale Intelligenz (zum Beispiel Sätze ergänzen, Analogien bilden)

Wissen und Merkfähigkeit der Testkandidaten werden in gesonderten Aufgaben erfasst.


Doch nicht alle Formen der Intelligenz haben gleich stark zugelegt. Laut einer im Jahr 2009 erschienenen Überblicksstudie der Entwicklungspsychologin Patricia Greenfield von der University of California in Los Angeles macht sich der IQ-Zuwachs vor allem bei nichtsprachlichen Aufgaben bemerkbar, deren Lösung ein hohes Maß an »figuraler Intelligenz« erfordert (siehe Kasten S. 44). Dabei müssen die Probanden etwa komplexe Muster miteinander vergleichen oder geometrische Figuren im Geist drehen. Bei verbalen Tests sei der Trend dagegen weniger eindeutig, so Greenfield. Zwar habe sich der durchschnittliche Grundwortschatz der Amerikaner in den letzten Jahrzehnten vergrößert, dafür würden aber beispielsweise Studenten im College-Eignungstest SAT immer weniger abstrakte Begriffe verstehen. Beides könnte damit zusammenhängen, dass das Fernsehen allgegenwärtig geworden ist, während die Leselust in der Freizeit abgenommen hat.

Umgekehrt könnten die elektronischen Medien Greenfield zufolge aber auch für den Anstieg der figuralen Intelligenz verantwortlich sein. Studien, die diese Annahme stützen, gibt es bereits zuhauf. Schon 1994 demonstrierte der Berliner Psychologe Peter Frensch, damals noch an der University of Missouri in Columbia tätig, dass Computerspielen das räumliche Denken schult. Gemeinsam mit der Entwicklungspsychologin Lynn Okagaki von der Purdue University in West Lafayette (US-Bundesstaat Indiana) unterzog Frensch mehr als 100 Probanden verschiedenen Tests der visuellen Vorstellungskraft. Ein Teil der Probanden spielte zwischendurch sechs Stunden lang den Puzzle-Klassiker »Tetris«. Dabei fallen auf dem Monitor verschieden geformte, eckige Steine von oben nach unten, die unter Zeitdruck passend zusammen gesetzt werden müssen. Ergebnis: Vor allem männliche Spieler konnten anschließend figural-räumliche Aufgaben besser lösen als Probanden, die nicht »gedaddelt« hatten.

Die Bildschirmwelten, mit denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, sind also nicht partout schädlich für das Gehirn. Im Gegenteil: Das mediale Dauerfeuer könnte den Nachwuchs sogar gut auf die Anforderungen des modernen Alltags vorbereiten. So wird beispielsweise von Arbeitnehmern zunehmend die Fähigkeit zum »Multitasking« erwartet, also an mehreren Aufgaben gleichzeitig zu arbeiten. 2005 fand Paul Kearney vom Unitec Institute of Technology in Auckland (Neuseeland) heraus, dass manche Computerspiele genau diese Fähigkeit trainieren.

Kearney ließ seine Probanden einen virtuellen Test absolvieren, der ursprünglich für Rekruten der United States Navy entwickelt wurde. Darin sollen die Probanden parallel mehrere Aufgaben meistern, die auch im Büro anfallen können - darunter Kopfrechnen, sich kurzzeitig Buchstabenfolgen merken und zugleich auf visuelle oder akustische Reize achten. Vor einem erneuten Test verbrachte ein Teil der Versuchspersonen zwei Stunden mit dem Actionspiel »Counter-Strike«. Diese Teilnehmer schnitten beim zweiten Multitasking-Test besser ab als zuvor und waren außerdem jenen Probanden deutlich überlegen, die nicht gespielt hatten.

Wie ist das zu erklären? Bei so genannten Egoshootern wie Counter-Strike muss der Spieler permanent mit mehreren Aufgaben gleichzeitig fertigwerden: Er bewegt seine Spielfigur, greift Gegner an, reagiert auf unvorhergesehene Ereignisse, muss seinen Gesundheitszustand sowie seine Munitionsvorräte im Blick behalten und im Hinterkopf noch eine Strategie ausklügeln, um das nächste Level zu erreichen. Diese komplexe kognitive Herausforderung habe seine Probanden wohl für das anschließende Multitasking fit gemacht, so Kearney.


Gamer haben alles im Blick

Auch bestimmte Aspekte der visuellen Aufmerksamkeit können Computerspiele positiv beeinflussen. 2003 verglichen die Kognitionswissenschaftler Shawn Green und Daphne Bavelier von der University of Rochester (US-Bundesstaat New York) Probanden, die in den vergangenen sechs Monaten viel Zeit mit Action-Videospielen verbracht hatten, mit Personen, die in ihrer Freizeit nie zum Gamepad griffen. Die Versuchspersonen sollten in einem Test erfassen, wie viele Quadrate auf einem Bildschirm aufblitzten. Wer seine Blicke am heimischen Bildschirm geschult hatte, konnte mehr Objekte gleichzeitig erfassen. Zudem schnitten die Spieler auch besser ab, wenn wenige Zielreize an weit auseinanderliegenden Positionen auf dem Monitor erschienen.

Auch bei der zeitlichen Verarbeitung trumpften die Vielspieler auf. Dabei untersuchten die Wissenschaftler ein bekanntes psychologisches Phänomen, das »Aufmerksamkeitsblinzeln«: Taucht nur wenige hundert Millisekunden nach einem ersten Reiz ein zweites Objekt auf, entgeht dieses leicht unserer Wahrnehmung. Im konkreten Fall sahen die Probanden wiederholt eine schnelle Abfolge von schwarzen Buchstaben auf einem Monitor - zehn pro Sekunde. An einer zufällig bestimmten Stelle war jedoch ein weißer Buchstabe eingefügt. In der Hälfte der Fälle folgte zudem im späteren Verlauf der Reihe ein schwarzes X.

Am Ende jeder Reihe sollten die Probanden zunächst angeben, welcher Buchstabe in weiß erschienen war. Noch mehr interessierte die Forscher aber, ob die Versuchspersonen sogar korrekt angeben konnten, ob das schwarze X dahinter aufgetaucht war oder nicht. Die Vielspieler waren hier den PC-Abstinenzlern deutlich überlegen - insbesondere, wenn das X kurz nach dem weißen Buchstaben folgte. Erst wenn sich der zeitliche Abstand zwischen den beiden Reizen vergrößerte, konnten die Nichtspieler annähernd gleichziehen. Wer viel Zeit am Bildschirm verbringt, so die Psychologen, könne also offenbar Informationen schneller verarbeiten.

Doch handelt es sich dabei tatsächlich um Trainingseffekte? Denkbar wäre auch, dass sich die Vielspieler gerade deshalb zu Actiongames hingezogen fühlen, weil sie von vornherein über eine größere visuelle Aufmerksamkeit verfügen und deshalb mehr Erfolg im Spiel haben. Also schickten Green und Bavelier einen Teil der Spielverweigerer zum Training. Die Hälfte von ihnen sollte sich zehn Tage lang je eine Stunde dem Egoshooter »Medal of Honor« widmen. Die andere Hälfte sammelte Punkte im bereits erwähnten Puzzle-Klassiker Tetris, der sich im Vergleich zu dem modernen Ballerspiel eher beschaulich ausnimmt. Tests vor und nach der Übungsphase zeigten: Im Gegensatz zum Klötzchenschieben steigerte das Actionspiel tatsächlich umfassend die visuelle Aufmerksamkeit. Green und Bavelier erklären den Effekt damit, dass man bei diesen Spielen stärker gezwungen sei, auf viele Objekte gleichzeitig zu achten.

In einer Überblicksstudie von 2008 erläutern die beiden Forscher zudem einen möglichen Mechanismus, wie die deutlichen Lerneffekte zu Stande kommen. Reize, die mit Belohnungen verknüpft sind, führen leichter zu neuen Verschaltungen im Gehirn. Studien hatten gezeigt, dass beim Spielen an PC oder Konsole in Hirnarealen wie dem Striatum verstärkt Dopamin ausgeschüttet werde, ein Botenstoff, der im neuronalen Belohnungssystem eine wichtige Rolle spielt. Dieser »Dopamin-Kick« könnte dazu beitragen, dass die im Spiel beanspruchten Fähigkeiten schon nach kurzer Zeit gestärkt werden.

»Für Fähigkeiten wie die visuelle Aufmerksamkeit können Computerspiele durchaus förderlich sein«, bestätigt der Pädagoge Jürgen Fritz von der Fachhochschule Köln. »Es fehlen allerdings Nachweise über die Langzeitwirkungen, da die bisherigen Laborstudien nur kurzfristige Effekte untersucht haben.« Außerdem sei bislang nur erwiesen, dass sich die virtuell erworbenen Kompetenzen auf andere Spiele und psychologische Tests am Bildschirm übertragen lassen. Inwiefern diese Kompetenzen auch in der realen Welt weiterhelfen, sei bis dato unerforscht.


Icons statt Wörter

Die im Internet oft verwendeten Emoticons wie :-) stellen stilisierte Gesichter dar. Die Verarbeitung solcher Piktogramme ruft offenbar komplexere Hirnaktivität hervor als das Betrachten tatsächlicher Gesichter. Dabei werden Areale, die für das Entschlüsseln von Wörtern zuständig sind, ebenso aktiv wie solche für das Erkennen realer Objekte.

(Shin, Y.-W. et al.: Objects and Their Icons in the Brain: The Neural Correlates of Visual Concept Formation. In: Neuroscience Letters 436, S. 300, 2008)


Auch das Internet steht seit einigen Jahren unter verschärfter Beobachtung von Kognitionswissenschaftlern und Lernforschern - mit teils überraschenden Ergebnissen. 2008 untersuchte die Psychologin Genevieve Johnson von der Grant MacEwan University in Edmonton (Kanada) mit einer Reihe von kognitiven Tests rund 400 Studierende, die in ihrer Freizeit unterschiedlich oft im Netz surften. Um etwa das Planungsvermögen der Probanden auf die Probe zu stellen, sollten sie unter Zeitdruck jeweils in einer Reihe von siebenstelligen Zahlen jene beiden ausfindig machen, die übereinstimmten. Diese Übung erfordert eine effektive Suchstrategie, wie etwa immer zunächst die ersten drei Ziffern zu vergleichen. Eine andere Aufgabe prüfte die visuelle Aufmerksamkeit der Versuchspersonen. Dazu mussten sie auf einem Blatt Papier voller Zahlen, die in verschiedenen Schriftarten geschrieben waren, diejenigen finden, die einer bestimmten Vorgabe entsprachen.

Probanden, die nach eigener Aussage häufig im Internet surften, kamen mit beiden Aufgaben deutlich besser zurecht als Gelegenheitsnutzer, die selten oder nie online waren. Für die kurzfristige Planungsfähigkeit war vor allem entscheidend, ob die Studenten oft von Suchmaschinen wie Google oder Yahoo Gebrauch machten und ob sie das Netz auch zur Vorbereitung ihrer Kurse nutzten. Die visuelle Aufmerksamkeit war dagegen vor allem dann besser, wenn sie das Internet häufig zur Kommunikation und zum Schreiben von E-Mails nutzten.


Aktive Suche statt Berieselung

Das Surfen im Web, so Johnson, wirke offensichtlich stimulierend auf den Geist. Anders als etwa beim Fernsehen würde man im Internet nicht nur passiv Geschichten konsumieren, sondern sich zum Beispiel aktiv auf die Suche nach Informationen begeben. Von einem einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Internetnutzung und Intelligenz sei allerdings nicht auszugehen: Wahrscheinlich würde erst eine gewisse geistige Kapazität Menschen dazu veranlassen, sich verstärkt im Netz zu betätigen - was dann wiederum ihre kognitiven Fähigkeiten weiter erhöhe.

Wenn regelmäßiges Surfen tatsächlich die grauen Zellen fordert, müsste sich das auch an der Hirnaktivität bemerkbar machen. 2009 überprüften der Psychiater Gary Small und sein Team an der University of California in Los Angeles diese Annahme an 24 älteren Probanden. Die Hälfte der 55- bis 76-Jährigen hatte keine oder nur geringe Erfahrung mit Internetsuchmaschinen, die anderen nutzten diese Dienste regelmäßig. Im Magnetresonanztomografen bekamen die Teilnehmer auf einem Bildschirm Texte zu verschiedenen Themen präsentiert, etwa über Nordic Walking. Dabei waren die Informationen entweder wie auf einer virtuellen Buchseite angeordnet oder aber auf verschiedenen »Webseiten« verteilt: Diese enthielten die gleichen Texte und Bilder, doch die Testpersonen mussten selbst entscheiden, welche Seiten sie sich in welcher Reihenfolge anschauten.

Ergebnis: Beim Betrachten der fingierten Buchseiten regten sich bei allen Probanden erwartungsgemäß Hirnregionen, die beim Lesen wichtig sind - vor allem in der linken Hemisphäre waren unter anderem das Sprachzentrum und der visuelle Kortex besonders aktiv. Bei der simulierten Webrecherche hingegen unterschieden sich die beiden Gruppen: Die Gehirne der ungeübten Versuchspersonen zeigten ähnliche Aktivitäten wie beim Lesen des Buchtextes. Bei den »Suchmaschinenprofis« hingegen regten sich vor allem Regionen im Stirnlappen, dem vorderen Schläfenlappen und dem Hippocampus - allesamt Hirnstrukturen, die an komplexen Entscheidungsprozessen beteiligt sind (siehe Grafik S. 45).

Um zu prüfen, ob tatsächlich das Surfen im Netz für die Unterschiede in der Hirnaktivität verantwortlich war, wählten Small und sein Team aus den ungeübten Versuchspersonen drei Freiwillige aus, die sich auf die neue Technologie einließen: Sie sollten an fünf aufeinander folgenden Tagen je eine Stunde lang im Internet nach Antworten auf vorgegebene Fragen suchen. Danach wurde ihr Gehirn erneut im Tomografen untersucht.

Bei diesem zweiten Test regte sich nun auch bei den Internetneulingen ein Netzwerk in der linken Frontalregion, genauer: im dorsolateralen präfrontalen Kortex. »Dieses Areal steuert unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen und Informationen miteinander zu verknüpfen«, so Small. Möglicherweise helfe häufige Online recherche dabei, diese Funktionen des Gehirns zu verbessern. Allerdings seien die Langzeitfolgen noch nicht erforscht - insbesondere für Kinder, deren Gehirne sich stärker entwickeln.


Nachlässige Handynutzer

Elektronische Medien können also offenbar einzelne Aspekte des Denkens fördern und das Gehirn auf manche Anforderungen des Alltags vorbereiten. Doch andere Untersuchungen belegen auch Schattenseiten der schönen neuen Medienwelt. So befragte beispielsweise 2009 der australische Mediziner Michael Abramson von der Monash University in Melbourne über 300 Siebtklässler zu ihrer Handynutzung und unterzog die Jungen und Mädchen am Computer diversen Aufmerksamkeitstests. Ergebnis: Wer viel telefonierte und Textnachrichten schrieb, zeigte zwar eine schnellere Verarbeitungsgeschwindigkeit, machte aber auch mehr Fehler. Vielleicht fördere die mobile Kommunikation impulsives, weniger kontrolliertes Verhalten, so Abramson.


Medienkritik im Zeitwandel

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts grassierten in Deutschland zahlreiche Warnungen vor der »Lesesucht«, die in vielem der heutigen Kritik am Internet ähnelten. Die Masse an Büchern würde zu viele belanglose Geschichten transportieren, mit schädlicher Wirkung auf das Gemüt der Vielleser: Die vorwiegend jungen Konsumenten seien zerfahren und unkonzentriert, stets auf der Suche nach leichter Kost und könnten Wichtiges von Nebensächlichem nicht mehr trennen. Heute ermuntern Eltern ihre Kinder, viel zu lesen - und betrachten das Surfen im Internet mit Argwohn.


TV total

So viel Zeit verbringen 6 bis 13-jährige Schülerinnen und Schüler in Deutschland durchschnittlich pro Tag mit verschiedenen Medien (nach Angabe der Erziehungsberechtigten).

91 Minuten Fernsehen
40 Minuten Computer
37 Minuten Radio
23 Minuten Lesen

(KIM-Studie 2008 des Medien pädagogischen Forschungsverbunds Südwest, siehe: www.mpfs.de)


Kritiker befürchten schon lange, dass zum Beispiel häufiges Sitzen vor der Spielkonsole zu verstärkter Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefiziten führt. Diesem Verdacht gingen 2009 die amerikanische Psychologin Kira Bailey und ihre Kollegen von der Iowa State University in Ames nach. Die Forscher unterschieden zwischen zwei Formen von Aufmerksamkeit: Bei der »proaktiven« Variante stellt man sich schon vorab auf bestimmte Reize ein, nimmt also bestimmte Ereignisse geistig vorweg. Die »reaktive« Aufmerksamkeit dagegen hilft, unerwartet auftauchende Reize wahrzunehmen und darauf zu reagieren.

Die in Viel- und Gelegenheitsspieler unterteilten Probanden mussten den so genannten Stroop-Test bewältigen. Bei dieser Aufgabe gilt es, die Farbe verschiedener Wörter zu benennen, die auf einem Bildschirm auftauchen. Allerdings handelt es sich bei den Begriffen selbst um Farbnamen - stimmen Anstrich und Bedeutung des Worts nicht überein, dauert es länger, die Farbe zu bestimmen.


Ermüdungserscheinungen im EEG

Als Maß für die reaktive Aufmerksamkeit nahmen die Forscher, wie schnell und korrekt die Probanden grundsätzlich die Farben benannten, wenn »inkongruente« Wörtern auf dem Bildschirm auftauchten. Hier schnitten Viel- und Wenigspieler gleich gut ab. Proaktive Aufmerksamkeit hingegen zeige sich laut den Forschern darin, dass die Versuchspersonen sich nicht davon beirren ließen, wenn kongruente und inkongruente Wörter einander abwechselten. Hier haperte es bei den versierten Computerspielern: Mit zunehmender Dauer des Tests brauchten sie immer länger, in »falscher« Farbe geschriebene Wörter zu verarbeiten, wenn diese auf passende Kombinationen folgten.

Diese Ermüdungserscheinungen spiegelten sich auch in den Hirnströmen wider, die die Forscher per Elektroenzephalografie (EEG) aufzeichneten. Bestimmte Frequenzen, die mit erhöhter kognitiver Kontrolle einhergehen, dauerten bei den Gelegenheitsspielern nach dem Auftauchen eines Worts rund zwei Sekunden an. Bei den Probanden, die in ihrer Freizeit oft vor dem Bildschirm saßen, war das Signal nur halb so lange zu beobachten - offenbar gelang es ihnen schlechter, ihr Frontalhirn längere Zeit für die proaktive Aufmerksamkeit einzuspannen. Im wahren Leben könnten exzessive Videospieler daher Probleme haben, sich auf eine Sache ausdauernd zu fokussieren, meint Rob West, ein Mitautor der Studie.

Darüber hinaus fördert Googeln nicht gerade das gründliche Lesen. Das legt eine 2008 veröffentlichte Studie von Forschern des University College London nahe. Sie untersuchten, wie Surfer beispielsweise die Webseiten der British Library nutzen. Dafür analysierten sie die digitalen Spuren, die Nutzer beim Recherchieren hinterlassen - mit ernüchterndem Ergebnis. Das Recherchieren und Lesen im Web gleicht offenbar mehr einem oberflächlichen Abtasten von Informationen als dem Schmökern in einem Buch: Rund 60 Prozent der Nutzer von elektronischen Zeitschriften etwa klickten nur drei Seiten an. »Nutzer scheinen online nicht im althergebrachten Sinn zu lesen«, schlussfolgern die Forscher. Stattdessen gebe es Anzeichen, dass neue Formen der Informationsaufnahme entstünden - ein schnelles Überfliegen von Titel, Inhaltsverzeichnis und Zusammenfassung ersetze immer öfter das Vertiefen in längere Texte.

Doch genau dem gründlichen Lesen kommt wichtige Bedeutung zu, betont Patricia Greenfield in ihrer eingangs erwähnten Überblicksstudie. Viele elektronische Medien ließen dem Nutzer kaum Zeit zum kritischen Nachdenken: Schwups hat der nächste Schnitt, der nächste Klick den Gedankenlauf durchbrochen. Insbesondere mit dem Fernsehen stehen viele Entwicklungsforscher auf Kriegsfuß. So zeigten bereits in den 1980er Jahren Untersuchungen, dass Kinder schon nach einer sechswöchigen Halbierung des TV-Konsums in einem Test weniger impulsives Verhalten zeigten als zuvor. 2009 wies der Kinderarzt Dimitri Christakis von der University of Washington an mehr als 300 Kindern nach, was Kritiker ohnehin schon lange befürchteten: Je länger kleine Kinder vor dem Fernseher sitzen, desto weniger unterhalten sich ihre Eltern mit ihnen. Gerade im Vorschulalter aber ist diese menschliche Interaktion besonders wichtig für die kognitive Entwicklung (siehe auch das Interview rechts).

Greenfield befürchtet daher, dass Fernsehen, Internet und Videospiele zwar eine beeindruckende visuelle Intelligenz zu Tage fördern, jedoch auf Kosten der tieferen kognitiven Verarbeitung. »Jedes Medium hat seine Stärken und Schwächen und fördert geistige Fähigkeiten auf Kosten anderer«, bringt die Wissenschaftlerin die aktuelle Forschungslage auf den Punkt.


Christian Wolf ist promovierter Philosoph und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.


QUELLE
Greenfield, P.M.: Technology and Informal Education: What Is Taught, What Is Learned. In: Science 323, S. 69-71, 2009.

Weitere Quellen unter: www.gehirn-und-geist.de/artikel/1022454

Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.gehirn-und-geist.de/audio

LITERATURTIPP
Johnson, S.: Neue Intelligenz. Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
Der Autor beschreibt, wie die Unterhaltungsmedien zu nehmend komplexe Anforderungen an uns stellen.

MEHR ZUM TITELTHEMA
→ »Grundlegender Wandel der Denkstrukturen« Interview mit dem Intelligenzforscher Heiner Rindermann (S. 49)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 43: Restlos vernetzt Ob im Büro, zu Hause oder in freier Natur: Internet und mobile Kommunikationsformen bestimmen unseren Alltag.

Abb. S. 45: Das Google-Gehirn
Vergleich der Hirnaktivität von Probanden mit und ohne Interneterfahrung beim Lesen eines Buchtextes und beim simulierten Surfen auf einer Webseite. Wer regelmäßig Suchmaschinen nutzt, aktiviert beim Navigieren im Netz vermehrt Hirnregionen, die für komplexe Entscheidungsprozesse wichtig sind.

Internetnovize beim Lesen
Internetnovize bei Websuche
Interneterfahrener beim Lesen
Interneterfahrener bei Websuche

Abb. S. 47: BLOGGEN STATT LESEN
Das Internet als »Multimedium« vereint Texte, Musik und Videos. Im so genannten Web 2.0 kann jeder Nutzer selbst Inhalte erstellen und bearbeiten, indem er bloggt, an offenen Projekten wie Wikipedia mitarbeitet oder ein Profil auf sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ pflegt.


© 2010 Christian Wolf, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 4/2010, Seite 42 - 48
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2010