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JUGEND/082: Unsichtbare Freunde - Der Begleiter, den ich rief (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 6/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Der Begleiter, den ich rief

Von Inge Seiffge-Krenke


Etwa jedes dritte Kind pflegt zeitweise eine Freundschaft, die nur in der Fantasie existiert. Anlass zur Sorge ist das aber nicht, erklärt die Entwicklungspsychologin Inge Seiffge-Krenke von der Universität Mainz. Im Gegenteil: Die erfundenen Gefährten zeugen von Kreativität und helfen ihren Erfindern dabei, schwierige Lebensphasen besser zu bewältigen.



Auf einen Blick

Ich sehe wen, den du nicht siehst

1. Rund 20 bis 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben zeitweise einen imaginären Gefährten.

2. Fantasiefreunde übernehmen je nach Alter und Lebenssituation ihrer Erfinder unterschiedliche Funktionen. Sie fördern besonders das Einfühlungs- und Kommunikationsvermögen und helfen, Verluste zu bewältigen.

3. Missbrauchte oder vernachlässigte Kinder malen sich in der Regel keine unsichtbaren Begleiter aus; traumatische Erlebnisse hemmen die kindliche Kreativität und das Spielverhalten eher.


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Sich mit unsichtbaren Personen zu unterhalten, ist in Zeiten des World Wide Web eigentlich nichts Ungewöhnliches mehr: Wir tummeln uns in Internetchats und Blogs und tauschen dort mit virtuellen Freunden allerlei Vertraulichkeiten aus. Was aber, wenn sich ein Kind einen Fantasiefreund sucht - mit ihm spielt und spricht, ja sogar wie mit einem realen Familienmitglied zusammenlebt? Dieses Phänomen, das besonders bei Drei- bis Siebenjährigen auftritt, ist gar nicht so selten.

Erfahren die Eltern von dem »imaginären Gefährten«, wie Psychologen die unsichtbaren Begleiter nennen, reagieren sie meist besorgt. So schreibt eine Mutter in einem Onlineforum:

»Unser fünfjähriger Sohn spricht seit drei Tagen von 'seiner Freundin Pia'. Sie existiert nur in seiner Fantasie, scheint für ihn aber absolut echt zu sein. Er benimmt sich so, als ob er sie sehen könnte! Mit seiner drei Jahre älteren Schwester haben wir solche Erfahrungen nicht gemacht. Die Freundschaft mit 'Pia' scheint unserem Sohn zwar gutzutun, aber wir machen uns trotzdem Sorgen. Sollen wir ihm die Vorstellung lassen oder versuchen, sie ihm auszureden?«

Verunsicherte Eltern können aufatmen, denn sämtliche Forschungsarbeiten, die das Phänomen untersuchten, kommen zu demselben Ergebnis: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung! Zwar werden imaginäre Gefährten noch nicht besonders lange und intensiv erforscht; in den letzten 100 Jahren widmeten sich nur wenige Psychologen diesem Thema. Doch alle sind sich darin einig, dass Fantasiefreunde eine positive Funktion haben und die Entwicklung von Kindern fördern.

Die unsichtbaren Begleiter sind eng an die Lebenssituation der Kinder gebunden: Für Jüngere ist der Fantasiefreund meist ein Spielkamerad, der auch beim Mittagstisch dabei sein kann, mit Namen angeredet wird und sie nicht selten den ganzen Tag über begleitet. Manche Forscher behaupten, dass praktisch alle Kinder in einem bestimmten Entwicklungsstadium solch einen imaginären Gefährten haben, der jedoch meistens von den Eltern unentdeckt bleibt und an den man sich selbst später für gewöhnlich nicht mehr erinnert.

Die unsichtbaren Begleiter sind oft Kinder im selben Alter wie ihre Erfinder - so zum Beispiel Sebastian Nigge, der imaginäre Freund von Madita im gleichnamigen Buch von Astrid Lindgren. Es können aber auch Tiere, Zauberer oder Superhelden sein. Die meisten sind gleich groß wie ihre Schöpfer, andere passen dagegen in die Hosentasche und können überallhin mitgenommen werden - wie das unsichtbare Känguru Pantouffle im Hollywoodfilm »Chocolat«.


Mutige Teddys und freche Puppen

Viele Kinder erwecken auch ein besonders geliebtes Stofftier oder eine Puppe zum Leben, indem sie ihnen eine eigene Persönlichkeit zuschreiben. Damit werden die sichtbaren Schmusefreunde à la »Hobbes« - der Stofftiger aus der amerikanischen Comicserie »Calvin und Hobbes« - ebenfalls zu imaginären Gefährten. Die Studien, die diesem Artikel zu Grunde liegen, konzentrieren sich jedoch auf das Phänomen der gänzlich unsichtbaren, menschenähnlichen Freunde.

Eine der ersten Beschreibungen des Phänomens ist eine 1895 erschienene Fallstudie der Pädagogin Clara Vostrovsky von der Stanford University. Darin beschrieb sie eine Bekannte, die bis ins Erwachsenenalter hinein gleich mehrere imaginäre Freunde hatte. Seither gab es immer wieder Untersuchungen, die zeigten: Erfundene Gefährten sind weit verbreitet - je nach Studie haben zwischen 18 und 30 Prozent der Heranwachsenden zeitweise einen oder mehrere unsichtbare Begleiter.

Eltern, Lehrer und Therapeuten irritiert oft nicht nur die Tatsache, dass die Fantasiefreundschaften über eine längere Zeit, manchmal über Jahre, aufrechterhalten werden, sondern auch, wie deutlich die Kinder ihre Gefährten vor sich zu sehen scheinen. Doch die Kleinen wissen sehr wohl, dass ihre Freunde nicht real sind und dass sie nur in ihrer Fantasie existieren. Imaginäre Gefährten sind daher klar abzugrenzen von krankhaften Vorstellungen wie etwa bei Psychosen. Das Kind fühlt sich dem Fantasiegefährten nie hilflos ausgeliefert - im Gegenteil, es kann den Begleiter beliebig ausgestalten, verändern und manipulieren. Das Kind bestimmt auch die Dauer der imaginären Freundschaft.


Liebenswert, anmutig und hübsch

In einer im Jahr 2000 veröffentlichten Analyse von Tagebüchern Jugendlicher habe ich festgestellt, dass der eingebildete Vertraute meistens einen Namen besitzt. Außerdem hat er ein eindeutiges Geschlecht sowie ein genau definiertes Aussehen und sehr individuelle Wesenszüge, die das Kind oder der Jugendliche im Lauf der Zeit auch beliebig verändern kann. In den Tagebüchern fanden sich einige sehr genaue Beschreibungen der Fantasiefreunde - hier ein Auszug aus den persönlichen Notizen einer 15-Jährigen:

»Kathrin ist ein liebenswertes Mädchen, das sich sehr anmutig bewegt. Sie ist sehr hübsch, wenn sie glücklich ist. Sie hat die unglaublichsten dunkelbraunen Augen, die ich jemals gesehen habe, wahnsinnig ausdrucksvoll - manchmal wie Sterne, dann wieder wie das Tote Meer, so tief, ruhig und traurig. Aber das ist nur, was eine Freundin von außen sehen kann. Durch ihre Augen kann ich genau in sie hineinsehen, aber dennoch weiß ich sehr wenig über ihr wirkliches inneres Leben. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie ihre Beziehung zu Gott wirklich ist - ich könnte mich also irren.

Was ist Kathrin noch? Intelligent, zielstrebig, leidenschaftlich, hilfsbereit, manchmal ein bisschen schwer zu verstehen, manchmal bemuttert sie wirklich jeden, aber so ist sie halt, und ohne dies würde sie eben nicht Kathrin sein. Dann gibt es Zeiten, zu denen ich den Eindruck habe, dass sie wirklich alles perfekt macht, und bin froh, wenn ich einen Fehler finde. Außerdem ist sie ziemlich schweigsam, und es dauert lange, bis sie jemandem vertraut. Sie scheint eine ganze Menge zwischen sich und Gott auszuhandeln, an dem sie sich wohl ziemlich festhält.«

Fantasiegefährten können sehr unterschiedliche Funktionen haben: Manche Kinder und Jugendliche beginnen die ungewöhnliche Freundschaft, wenn sie sich allein fühlen. In diese Richtung weist auch die Studie einer amerikanischen Arbeitsgruppe um Marjorie Taylor von der University of Oregon aus dem Jahr 2004. Die Psychologen befragten 152 Vorschulkinder und fanden heraus, dass rund 70 Prozent der Fünf- und Sechsjährigen, die Fantasiefreunde hatten, Erstgeborene oder Einzelkinder waren.

Frühere Untersuchungen der Forscher an Kleinkindern und Jugendlichen hatten ergeben, dass diese sich besonders oft imaginäre Gefährten erschufen, wenn einschneidende Veränderungen in ihrem Leben aufgetreten waren: etwa, wenn ihre Mutter erneut schwanger war oder ein Geschwisterkind geboren wurde, wenn ein Elternteil wegen häufiger Krankenhausaufenthalte abwesend war, oder nachdem eine wichtige Bezugsperson verstorben war. Auch wenn sich die Eltern gerade scheiden ließen oder Freundschaften entzweigingen, beispielsweise durch einen Umzug, halfen imaginäre Gefährten den Kindern und Jugendlichen, die Situation zu bewältigen.

So litt beispielsweise eine Zehnjährige unter starker Einsamkeit. Ihre Mutter war wegen einer ausgeprägten Depression seit zwei Jahren stationär in Behandlung, seitdem blieb das Mädchen häufig allein und sich selbst überlassen. In dieser Situation erfand sie einen Fantasiebruder, der völlig von ihr abhängig war und um den sie sich mütterlich kümmerte - so, wie sie es wahrscheinlich selbst gerne erlebt hätte. Sie lag oft tagelang auf dem Bett, ins Gespräch mit ihrem unsichtbaren Bruder vertieft. Als die Mutter entlassen wurde und wieder nach Hause zurückkehrte, verschwand er von einem Tag auf den anderen.

Mitunter kompensieren Kinder und Jugendliche also mit dem imaginären Gefährten Gefühle von Einsamkeit, Verlust oder Zurückweisung. Er bietet dem Kind eine Beziehung, in der es Liebe und Unterstützung, aber auch Begleitung und Gesellschaft erfährt - unabhängig von den äußeren Umständen, in denen es tatsächlich aufwächst. Konsequenterweise verschwinden die Begleiter meist, sobald das Kind reale Freunde findet oder sich mit einer neuen Situation arrangiert hat.

Diese Funktion der Gefährten dürfte ebenso erklären, warum gelegentlich auch alte Menschen Fantasiefreunde haben - was bislang aber kaum erforscht wurde. Der kanadische Psychiater Kenneth Shulman berichtete 1984 von drei Patienten, die bereits über 80 Jahre alt und kürzlich verwitwet waren. Alle drei ließen ihren verstorbenen Partner in der Fantasie wiederauferstehen, worüber sie aber nur ungern mit anderen sprachen. Das wertete Shulman als Zeichen dafür, dass sie um die fiktive Natur ihres Gefährten wussten.

Auch der Genfer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896 - 1980) stieß bei seinen umfangreichen Studien über die geistige Entwicklung von Kindern auf die Fantasiefreunde. Er deutete sie als eine besondere Form des Symbolspiels. Dabei werde allein oder mit anderen eine fremde Realität konstruiert: Die Kinder tun so, als ob - beispielsweise in Rollenspielen. Piaget berichtete über den imaginären Gefährten seiner eigenen dreijährigen Tochter Jacqueline. Dieser zog zwei Monate lang ihre Aufmerksamkeit an sich, half ihr bei allem, was sie gerade lernte, ermutigte sie, Regeln einzuhalten, und tröstete sie, wenn sie unglücklich war. Dann tauchte er plötzlich nicht mehr auf.


Besonders kommunikativ und kreativ

Piaget erklärte sich den Freund seiner Tochter nicht mit Einsamkeit oder schwierigen Lebensumständen. Vielmehr sah er in ihm einen Beleg für besondere Kreativität und Kommunikationsfreude. Diese Idee bestätigte zuletzt 2008 eine Studie der Psychologen Anna Roby und Evan Kidd von der University of Manchester. Sie testeten die sprachlichen Fähigkeiten von 44 Vorschul- und Schulkindern. Jene, die einen imaginären Gefährten hatten, konnten sich im Durchschnitt besser ausdrücken und in ihre Gesprächspartner einfühlen, was sie auch bereitwillig taten. Eine eigene Studie an 241 Jugendlichen aus dem Jahr 2000 ergab für Teenager ein ähnliches Ergebnis: Jugendliche mit imaginären Freunden zeigten mehr soziale Fertigkeiten wie etwa Empathie als ihre Altersgenossen ohne einen solchen Begleiter.

Dass vor allem reife und psychisch stabile Kinder Fantasiegefährten haben, bestätigen indirekt auch Studien über das Spielverhalten. So konnte unter anderem der britische Soziologe David Finkelhor von der University of New Hampshire in Durham (USA) zeigen, dass Kinder umso weniger spielen, je schlechter es um ihr körperliches und psychisches Wohlbefinden bestellt ist. Missbrauch oder Vernachlässigung lassen die Fantasie verkümmern und hemmen den Spieltrieb - imaginäre Begleiter entwickeln solche Kinder in der Regel nicht.

Erfundene Freunde können aber auch auf den Plan treten, wenn der Nachwuchs Schwierigkeiten hat, sich den Regeln der Erwachsenen zu beugen. Dann erlaubt sich einfach der Fantasiegefährte das, was seinem Erfinder untersagt ist. Es sind natürlich die neuen Freunde schuld, wenn die Eltern die geplünderte Keksdose entdecken oder einem Streich zum Opfer gefallen sind: »Das war nicht ich, das war Egon!« Die Kinder bestrafen ihre unsichtbaren Komplizen sogar für »deren« Missetaten - was die Freunde natürlich nicht davon abhält, beim nächsten Mal wieder unartig zu sein.

Eine ähnliche Funktion erfüllen imaginäre Gefährten, wenn sie Kindern als moralische Ratgeber dienen. Im Kindergartenalter brauchen die Kleinen noch einen externen Ansprechpartner, um sich zu vergewissern, ob sie richtig oder falsch handeln. Hier springt manchmal ein Fantasiefreund in die Bresche. Generell treten die Begleiter oft zu einem Zeitpunkt auf, an dem Kinder große Sprünge in ihrer kognitiven Entwicklung machen. Sie bieten den Heranwachsenden eine Möglichkeit, Gefühle und Impulse auszudrücken, die sie in der Realität an sich nicht mehr tolerieren können.

In der Regel nehmen imaginäre Gefährten ab dem dritten Lebensjahr Gestalt an. Der Grund: Die Kinder müssen erst genau zwischen sich selbst und anderen differenzieren können, um sich ein Gegenüber auszudenken. Außerdem müssen sie bereits ein stabiles Bild einer anderen Person verinnerlicht haben, etwa der Mutter. 1988 untersuchte der Psychologe Paul Harris von der Harvard Medical School in Boston an 221 Kindern, wie gut diese zwischen Fantasie und Realität trennen konnten. Erst ab dem Alter von etwa drei Jahren gab es keine Verwechslungen mehr zwischen realen und erfundenen Personen, seien es nun selbst erdachte Wesen oder Gestalten aus Märchen, Geschichten und Filmen.


Vom Spielkameraden zum Vertrauten

Fantasie und Kreativität verändern sich im Zuge der Entwicklung. Schon Vorschulkinder zeigen häufig so genanntes Illusions- oder Fiktionsspiel, bei dem aus nur wenigen Merkmalen ein Objekt oder eine Spielfigur konstruiert wird. So verwandelt sich etwa eine Stuhlreihe im Handumdrehen in eine »Eisenbahn«. Im Schulalter nimmt die Kreativität weiter zu, was sich oft in fantasievollen Zeichnungen ausdrückt. In der Adoleszenz beginnen einige Jugendliche mit dem Tagebuchschreiben als einer sehr privaten Art, die eigene Kreativität und Fantasie auszuleben. Dazu braucht es zunächst ein reifes Verständnis von Intimität: Kleine Kinder unterscheiden noch nicht zwischen »privaten« und »öffentlichen« Informationen. Erst ab dem Alter von etwa zehn Jahren verstehen Kinder, was Privatheit bedeutet - wenn sie nämlich eine ausgereifte Vorstellung davon haben, was andere Menschen denken. Erst ab diesem Zeitpunkt werden Informationen über die eigene Person und über andere bewusst geheim gehalten oder manipuliert. Rund 40 Prozent der Mädchen vertrauen ihre persönlichen Gedanken einem Tagebuch an - bei ihren männlichen Altersgenossen sind es deutlich weniger.

Mit zunehmendem Alter verändert sich nicht nur die Selbstwahrnehmung und die Beschreibung wichtiger Bezugspersonen, sondern auch die der imaginären Gefährten. Kinder von vier bis sechs Jahren etwa charakterisieren sich und andere häufig durch Tätigkeiten oder äußere Merkmale: »Ich bin blond«, »Ich spiele mit Autos«. Erst in der Adoleszenz benutzen sie Persönlichkeitsmerkmale zur Selbstbeschreibung: »Ich bin schüchtern« oder »Ich bin großzügig«. Dieses Wissen um die eigene Person entsteht erst aus Beziehungen mit anderen Menschen, die mit zunehmendem Alter immer bedeutsamer werden.

Nicht nur reale Freundschaften, auch imaginäre Gefährten verändern sich mit der Zeit, wie 2008 meine Auswertung mehrerer Langzeitstudien ergab. Für die Vorschulzeit sind Beziehungen charakteristisch, die auf einer momentanen physischen Interaktion beruhen: »Wir sind Freunde, weil wir beide gern mit Puppen spielen!« Im Alter von sieben oder acht Jahren kommt hinzu, dass die Gefährten einem Hilfe anbieten - die Freundschaft orientiert sich vor allem am eigenen Vorteil. Aber man achtet schon auf eine halbwegs ausgeglichene Machtbalance: »Ich leihe dir mein Fahrrad, wenn du mir deinen Ball gibst.« Diese Beziehungen werden auch mit den imaginären Gefährten gepflegt.

Erst mit Beginn des Jugendalters, etwa um das zwölfte Lebensjahr herum, wird der emotionale Austausch mit dem Freund oder der Freundin wichtig, man redet bevorzugt über Probleme. Ein Vertrauensbruch ist auf dieser Stufe der häufigste Grund für die Beendigung einer Freundschaft: Von einem guten Kumpel erwarten Jugendliche, dass er ihnen Vertrauliches mitteilt und man ihm eigene Geheimnisse offenbaren kann. Mädchen betonen das gegenseitige Vertrauen in Freundschaften stärker als Jungen und erzählen einander eher von intimen Erfahrungen.

Diese Veränderungen münden in einer zunehmenden Exklusivität der Beziehungen: Während jüngere Kinder noch wahllos mit jedem spielen, wird der Freundeskreis später schrittweise eingeengt auf wenige Gleichgesinnte, mit denen dafür ein intensiver Austausch gepflegt wird. Das gesteigerte Bedürfnis Jugendlicher nach einem »Seelenverwandten« erklärt, weshalb im Teenageralter meist einsame Jugendliche imaginäre Begleiter entwickeln: um sich zu trösten und sich nicht allein zu fühlen.


Dialog mit Unsichtbaren

In meinen Analysen von Befragungen mehrerer hundert Jugendlicher wurde deutlich, dass Fantasiefreunde sehr oft in den Tagebüchern von Teenagern auftauchen. Die Autoren führen einen regelrechten Dialog mit ihrem unsichtbaren Gefährten: Sie reden ihn oder sie mit Namen an, erzählen Erlebnisse im Detail (»natürlich kannst du nicht wissen .«, »ich vergaß zu erzählen .«) und verabschieden sich auch jedes Mal wieder von ihm. Dies traf in unserer Stichprobe auf ein Drittel der männlichen und sogar auf 60 Prozent der weiblichen Tagebuchschreiber zu. Die Jugendlichen machten sich viele Gedanken über die Beziehung zu ihrem Fantasiegefährten, die sie in Fragen oder Kommentaren notierten. Oft luden sie den Angesprochenen auch dazu ein, den eigenen Standpunkt zu übernehmen, zu kritisieren oder zu bewerten.

Dabei hatten sie offenkundig sehr genaue Vorstellungen von ihrem imaginären Gefährten. Zwar beschreiben nicht alle Teenager den Begleiter so genau wie im Beispiel die 15-Jährige ihre Freundin Kathrin. Doch in Interviews gehen die Jugendlichen bereitwillig auf das Aussehen (»Sie ist auch dick«, »Er ist größer als ich«) und auf die Lebenssituation der Gefährten ein (»Sie hat die gleichen Probleme wie ich«, »Er hat mehr Geld«).

Interessanterweise wählen beide Geschlechter häufiger weibliche Fantasiefreunde - 75 Prozent der Jungen und 61 Prozent der Mädchen - und malen sich dabei eine Person aus, die ihnen in wesentlichen Merkmalen gleicht. Die männlichen Tagebuchschreiber kreierten oft eine nahezu perfekte weibliche Kopie von sich selbst, die ihnen nicht nur in Alter und Aussehen ähnelt, sondern auch in ihrer Persönlichkeit. Mädchen dagegen erschaffen sich mitunter Gefährtinnen, die sich von ihnen in wichtigen Eigenschaften unterscheiden.

Mit zunehmendem Alter verändern sich - wie beim Schreiber selbst - zentrale Wesenszüge des Fantasiegefährten, gelegentlich bekommt er sogar einen neuen Namen. Hier ein Beispiel der 18-jährigen Tina:

»Eine Zeit lang sprach ich sie mit 'Cordula' an. Jetzt schreibe ich zwar auch noch an sie, aber nicht mehr so personifiziert - meist eigentlich ohne Namen, aber ich meine sie immer noch.«

Im Verlauf der Adoleszenz scheinen unsichtbare Gefährten an Kontur zu verlieren, ältere Jugendliche erwähnen sie kaum noch. Wir haben übrigens die Tagebuchschreiber noch einmal einige Jahre später befragt: Auffallend wenige konnten sich überhaupt noch an ihren Fantasiefreund erinnern!

Wenn der imaginäre Begleiter seine Funktion erfüllt hat, wird er offenbar nicht nur aufgegeben, sondern auch vergessen - ein Zeichen dafür, dass die Heranwachsenden einen weiteren Schritt ihrer Entwicklung auf kreative Weise bewältigt haben.


Inge Seiffge-Krenke leitet die Abteilung Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Universität Mainz.


Quellen

Finkelhor, D.: The Victimization of Children. In: American Journal of Orthopsychiatry 65, S. 177 - 193, 1995.

Seiffge-Krenke, I.: Ein sehr spezieller Freund: Der imaginäre Gefährte. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 49, S. 689 - 702, 2000.

Taylor, M. et al.: The Characteristics and Correlates of Fantasy in School Age Children: Imaginary Companions, Impersonation, and Social Understanding. In: Child Development 40, S. 1173 - 1187, 2004.

Weitere Quellen finden Sie im Internet unter:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/992130


ZUSATZINFORMATIONEN:

Berühmte Fantasiegefährtin

Das Tagebuch der Jüdin Anne Frank (1929 - 1945) gehört zur Weltliteratur. Otto Heinrich Frank veröffentlichte die Aufzeichnungen seiner Tochter, nachdem sie im KZ Bergen-Belsen ermordet worden war. Vom Juni 1942 bis zu ihrer Deportation im August 1944 hatte sich Anne mit einigen Familienangehörigen in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis versteckt und ihre Gedanken und Erfahrungen der imaginären Freundin Kitty anvertraut.

Anne Frank: Tagebuch. Fischer, Frankfurt a. M. 2006, 316 S., EUR 7,95


Filmtipp

In der Komödie »Mein Freund Harvey« (englischer Originaltitel: »Harvey«) erlebt der liebenswerte Alkoholiker Elwood P. Dowd allerlei turbulente Verwicklungen mit Harvey - einem unsichtbaren, zwei Meter großen, weißen Hasen. Der Broadwayerfolg aus den 1940er Jahren wurde 1950 verfilmt.

Mein Freund Harvey. Regisseur: Henry Koster, USA 1950, 102 Spielminuten, frei ab 12 Jahren, Universal DVD, 2007.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

UNSICHTBARE BANDE
So manche beste Freundin lernen Eltern erst kennen, wenn ihr Nachwuchs plötzlich freiwillig sein Essen teilt - mit einem Kind, das es nicht gibt.

SEELISCHE STÜTZE
Im Schulalter haben imaginäre Gefährten andere Funktionen als bei Kindergartenkindern: Sie helfen ihren Erfindern etwa dabei, Herausforderungen wie einen Schulwechsel zu bewältigen.

GEHEIME GESTÄNDNISSE
Im Teenageralter vertrauen vor allem Mädchen ihre Erlebnisse und Gedanken gerne einem Tagebuch an. Dabei schreiben sie nicht selten einem imaginären Freund oder einer imaginären Freundin.


© 2009 Inge Seiffge-Krenke, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 6/2009, Seite 24 - 29
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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Internet: www.gehirn-und-geist.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2009