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MEDIEN/023: Informelles Lernen im Internet (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Informelles Lernen im Internet
Perspektiven aus lernpsychologischer Sicht

Von Friedrich W. Hesse / Maike Tibus


Moderne Informationstechnologien stellen eine große Vielfalt informeller Lernmöglichkeiten für eine breite Öffentlichkeit zur Verfügung. Durch die Interaktion großer Nutzergruppen entstehen im Wechselspiel von Wissensproduktion und -rezeption umfangreiche Wissensnetzwerke. Das Internet hat sich als Ort für die Vermittlung von Wissen etabliert. Für erfolgreiches informelles Lernen im Internet bedarf es allerdings umfassender Kompetenzen, besonders im Hinblick auf selbstgesteuertes Lernen.


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Neben formalen Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten gewinnen seit einiger Zeit auch informelle Lernszenarien an Wichtigkeit. Informelles Lernen ist vor allem durch Freiwilligkeit, Selbstbestimmtheit und intrinsische Motivation gekennzeichnet. Informelle Lernsituationen betonen erlebnisorientierte Formen der Wissensvermittlung, durch die Lernende zu einer interessegeleiteten Auseinandersetzung mit den Lerninhalten angeregt werden.

Über klassische Formen des informellen Lernens hinaus - zum Beispiel den Besuch von Museen oder die Nutzung des Bildungsfernsehens - stellen moderne Informationstechnologien eine große Vielfalt informeller Lernmöglichkeiten für eine breite Öffentlichkeit zur Verfügung. Im Internet ist ein schneller und einfacher Zugriff auf Informationen aus vielen Wissensbereichen möglich. Personen nutzen das Internet als Bildungsressource, sie suchen und bewerten Informationen, sie kommunizieren und diskutieren Inhalte und sie erstellen gemeinsame Texte, zum Beispiel in Foren oder "Wikis".

Im Gegensatz zum formellen Lernen kann informelles Lernen im Internet gerade in Zeiten von Notebooks, W-Lan und Hotspots an vielen Orten und zu beliebigen Zeiten stattfinden. Typische informelle Lernsituationen im Internet sind zum Beispiel dann gegeben, wenn eine Person sich unabhängig von formalen Bildungsinstitutionen mit konkreten, etwa kulturellen oder politischen Themen näher befassen möchte oder wenn eine Person spezifische Probleme, sei es gesundheitlicher oder technischer Art, lösen möchte und sich dafür Hintergrundwissen und Lösungsansätze aneignen will.


Wie verarbeiten Lernende Informationen?

Betrachtet man die Voraussetzungen und Chancen des informellen Lernens im Internet unter lern- und kognitionspsychologischen Aspekten, so steht die Frage im Vordergrund, wie Lernende Informationen verarbeiten und durch welche Lernprozesse sie neue Wissensstrukturen aufbauen. Wichtig ist aus dieser Fachperspektive vor allem die Frage, wie gut das Internet als Informationsumgebung auf die Architektur der menschlichen Informationsverarbeitung abgestimmt ist und welche Lern- und Denkprozesse es erlauben, effektiv mit dem Internet zu lernen. Empirisch-psychologische Erkenntnisse zu diesen Fragen können hilfreich sein, um Internetangebote nutzerorientiert zu gestalten und um effektive Unterstützungsmaßnahmen für informelles Lernen im Internet zu entwickeln.

Informelles Lernen im Internet findet überwiegend lernerkontrolliert statt und ist damit stark von den individuellen kognitiven, motivationalen und emotionalen Eigenschaften und Voraussetzungen der Lernenden abhängig. Dabei ist die Anpassung der individuellen Lernvoraussetzungen an die Besonderheiten, durch die sich das Internet als Informationsumgebung auszeichnet, für eine optimale Nutzung des Internets von zentraler Bedeutung. Eine kognitionspsychologisch fundierte Förderung von individuellen Voraussetzungen durch Trainings- oder Unterstützungsmaßnahmen oder auch eine nutzerorientierte Gestaltung von Internetangeboten kann dabei helfen, diese Anpassung zu gewährleisten.


Besonderheiten der Bildungsressource Internet

Das Internet als Informationsumgebung zeichnet sich durch eine Reihe von psychologisch relevanten Besonderheiten aus, die es von allen anderen Bildungsressourcen unterscheidet. Es stellt Informationen in Form einer ungeordneten Netzwerkstruktur ("World Wide Web") bereit, die der Lernende durch die Nutzung von Links ("klicken") oder von technischen Hilfsmitteln wie Suchmaschinen ("googeln") erschließen muss. Das Internet zeichnet sich weiterhin vor allem durch einfache, schnelle und ständige Zugänglichkeit von gewaltigen Informationsmengen großer inhaltlicher Heterogenität aus. Gleichzeitig sind Inhalt und Design von Informationsangeboten einer ständigen Veränderung unterworfen. Verfügbare Informationen beruhen oft auf verteilter Autorenschaft und zeigen eine entsprechende Bandbreite von Informationsqualität und -glaubwürdigkeit. Viele Inhalte sind multimedial und interaktiv aufbereitet und beinhalten neben Textinformationen zum Beispiel auch Podcasts, digitale Videos oder Animationen. Eine ordnende und qualitätssichernde Instanz ist nicht gegeben, sodass es dem Nutzer überlassen bleibt, die Qualität von Informationen zu bewerten.

Zusätzliche Besonderheiten kommen im Rahmen von Entwicklungen zustande, die sich unter dem Konzept des Web 2.0 subsumieren lassen.

Diese Entwicklungen lassen sich am einfachsten als Kombination von informationaler und sozialer Vernetzung mittels "sozialer Software" im Internet verstehen. Damit sind zum Beispiel Wikis gemeint, die das Editieren gemeinsamer Dokumente ermöglichen, aber auch Foren, in denen Nutzer Diskussionsbeiträge leisten. Im Umgang mit sozialer Software hinterlassen Internetnutzer häufig Spuren (z.B. Bewertungen oder Klassifikationen von Informationen mithilfe von Tags), die wiederum von anderen Personen genutzt werden können. Auf der Grundlage dieser sozialen Software kommt es somit zu gemeinsamen Aktivitäten großer Nutzergruppen, durch die im Wechselspiel von Wissensproduktion und -rezeption umfangreiche Wissensnetzwerke entstehen. Vor allem auch durch diese Aspekte des Web 2.0 hat sich das Internet als Ort für die Vermittlung von Wissen zu unterschiedlichsten Themenbereichen etabliert.


Voraussetzungen für erfolgreiches informelles Lernen im Internet

Das Internet als Informationsumgebung stellt im Vergleich zu anderen Medien neuartige Anforderungen an die Nutzer in Bezug auf den Umgang mit Informationen. Wesentliche Voraussetzungen der Lernenden sind zum Beispiel umfassende Kompetenzen im Hinblick auf selbstgesteuertes Lernen. So müssen Lernende ihre eigenen Lern- und Informationsziele selber im Kopf behalten und verfolgen. Sie müssen zielgerichtet navigieren und dabei interessanten, aber ablenkenden Informationsangeboten widerstehen. Sie müssen die Auswahl und Reihenfolge von Informationen im Hinblick auf ihre Ziele selber festlegen und dabei Informationen und Informationsquellen hinsichtlich ihrer Qualität und Glaubwürdigkeit bewerten.

Lernende müssen sich eigenständig eine an ihren Wissensstand und ihre Informationsziele sinnvoll adaptierte "Informationsdiät" aus verschiedenen Informationseinheiten und Präsentationsformaten zusammenstellen.

Wichtig ist auch die Festlegung von Zeitbudgets und Abbruchkriterien, der Umgang mit interaktiven Präsentationsformaten und mit verteilten Informationen. Besonders im Zusammenhang mit widersprüchlicher Information wird es wichtig, die Expertise von Autoren zu bewerten und den Überblick über Informationen aus multiplen Quellen zu behalten.

Die Erforschung von Lernvoraussetzungen und entsprechenden Unterstützungsmaßnahmen auf der Basis kognitionspsychologischer Modelle kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Chancen, die das Internet für informelles Lernen bietet, besser zu nutzen. Wichtig ist zum Beispiel die Frage, wie die Potenziale des Internets für informelles Lernen genutzt und gleichzeitig Störgrößen wie kognitive Überlastung oder suboptimale Informationsnutzung minimiert werden können. Um Lernende in dieser Hinsicht zu fördern, ist es wichtig, Kompetenztrainings und technische Tools zur Unterstützung von Informationssuche und -rezeption zu entwickeln, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit Lerninhalten fördern.

Genauso wichtig ist auch die Frage, wie eine große Vielfalt und Komplexität von Informationen und Präsentationsformaten, wie sie typisch für das Internet sind, geboten werden kann, ohne Lernende kognitiv zu überfordern. Wichtige Unterstützungskomponenten insbesondere im Zusammenhang mit dem Web 2.0 sind beispielsweise sogenannte Awareness-Tools, die sozial verfügbare Informationen (z.B. Meinungsverschiedenheiten oder die Bewertung von Informationen) für Nutzer sichtbar machen.


Prof. Dr. Dr. Friedrich W. Hesse ist Direktor des Instituts für Wissensmedien (IWM) sowie Leiter des Lehrstuhls für Angewandte Kognitionspsychologie und Medienpsychologie der Universität Tübingen.

Die Diplompsychologin Maike Tibus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IWM, Arbeitsgruppe Wissenserwerb mit Cybermedien.


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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 30-31
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
Redaktion: Colmantstraße 15, 53115 Bonn
Tel.: 0228/60 497-0, Fax: 0228/60 497-30
E-Mail: sekretariat@unesco.de
Internet: www.unesco.de, www.unesco-heute.de

UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2008