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RATGEBER/053: Ausgenutzt (welt der frau)


welt der frau 9/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Ausgenutzt

Von Christina Repolust


Hilfsbereit und für alle da, aber wenn eine Gegenleistung ansteht, gibt es die nicht: Menschen, die ausgenutzt werden und sich ausnutzen lassen. Wie kann man sich da selbst helfen?


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Schon wieder ausgenutzt?
Ruth Vogt und ihre freundliche Unterstützung für eine "arme" Diplomandin.

"Kind, lass dich nicht ausnutzen!", so lautete die häufige Warnung meiner Mutter. Später meinte sie auch, dass jene Männer, mit denen ich ausgelassen auf dem Motorrad durch die Kleinstadt fuhr, mich ausnutzten. Aber das sind andere Geschichten als jene, in denen ich meine Wurstbrote herschenkte, in denen ich Aufsätze für meine MitschülerInnen gegen ein Dankeschön schrieb. Das ich nie hörte, aber doch immer wieder einmal zu spüren glaubte. "Das, was man gibt, kommt irgendwann einmal zurück", lehrte mich meine Großmutter, Mutter meiner Mutter. Doch vor fünf Monaten, da fühlte ich mich so richtig ausgenutzt: Ich war sehenden Auges in die Falle getappt. Da wird - Oma, entschuldige - auch nie wieder etwas aus dem Kosmos zurückkommen. Es gibt Frauen, die legen den Kopf schief und säuseln, dass sie es momentan schwer haben - beispielsweise mit dem Schreiben einer Diplomarbeit. Ich war gerührt von dieser Offenheit, Y erzählte mir von ihrer Schreibhemmung und ich verstand ihr Leiden. Ich zeigte ihr meine Keramikwerkstatt und Y erzählte mir, dass sie sich ihr Studium mit dem Erstellen von Homepages verdient habe. Ob man einander helfen könnte? Korrekturlesen der Diplomarbeit gegen Erstellung einer Homepage? Da könnte dann endlich die Keramikerin in der Deutschlehrerin zum Durchbruch - im World Wide Web - kommen. Eine Verlockung, mehr noch, eine Versuchung, mehr noch, eine Falle. Die Vision, meine kleinen Kunstwerke auf einer eigenen Homepage zu sehen, neben die kritische Deutschlehrerin mit dem Rotstift die ausgelassene Künstlerin zu stellen, ließ mich über zehn Tage die Psychologie-Abschlussarbeit lektorieren. Ja, es waren freie Tage, es war richtige Arbeit, mir war ernst mit dem Deal. Meine Homepage hatte ja Zeit, konnte warten, jetzt hatte der Studienabschluss meines Gegenübers Vorrang. Das leise Warnlämpchen, das ich etwa beim Aufwachen in der Ferne hektisch blinken sah, stellte ich sofort ab: Gebt doch Ruhe, ihr Ahninnen, ihr hattet es nach dem Krieg schwer, daher euer Misstrauen! Sicher, ich habe viele Male "Dankeschön!" gehört, es klang aufrichtig, auch die Einladung der Tante der Diplomandin zu Kaffee und Kuchen wirkte nicht einfach so dahergesagt. Endlich lag ein lebbares Modell für reife Frauen vor mir: Unterstützung in den jeweiligen Defiziten, spätes Lernen, selbstbestimmte Aneignung von Wissen, ausgewogenes Geben und Nehmen. Ich war über Wochen gerührt von diesem Aufbruch, diesem Kleinprojekt der Frauenförderung im Privaten.

Seither habe ich die Diplompsychologin selten gesehen, noch seltener von ihr gehört. Aus Kaffee und Kuchen bei ihrer Tante ist bis jetzt auch nichts geworden. Ob ich sie an ihr Versprechen bzw. unseren Privatvertrag - zehn Tage Lektorat gegen eine Homepage - erinnert habe? Nein, denn meine andere Großmutter hat mich gelehrt: "Du kannst alles verlieren, aber du musst immer deinen Stolz bewahren." Drei Frauen, die in meinem Leben bedeutender sind, als ich als Kind und Jugendliche glaubte. Drei Glaubenssätze, die mich in einer konkreten Situation durch ihre Gegensätzlichkeit verwirrten, die mich als 55-Jährige daran erinnerten, dass das kleine Mädchen in mir doch noch sehr wach und wirksam ist. "Manche Fehler muss man öfter machen. Öfter und intensiv - Mama, du bist auf dem richtigen Weg", lobte meine Tochter gestern am Telefon.


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Ich war immer die Letzte im Büro
Helene Schneider und das Gefühl, als Letzte das Letzte zu sein.

In genau 25 Monaten und drei Tagen geht die 61-jährige Helene Schneider in Pension. Darüber führt sie genau Buch. So genau, wie sie jetzt jede Viertelstunde aufschreibt, die sie länger, als sie muss, im Büro ist. "Eigentlich bin ich froh, dass ich vor drei Monaten erkannt habe, wie sehr mich die Firma hier ausnutzt. Mein Mann arbeitet auswärts, daher bin ich unter der Woche allein, vielleicht war ich auch lieber im Büro als allein zu Hause. Aber keiner/keine der MitarbeiterInnen hat mich davon abgehalten, jeden Tag länger als bis 18:00 Uhr an meinem Schreibtisch zu sitzen.

Bei uns arbeiten zwei PsychologInnen und zwei haben eine Ausbildung als Coach, ich bin ausgebildete Buchhalterin. Früher habe ich zu jedem Geburtstag die Blumen, den Kuchen und die Getränke besorgt, unaufgefordert. Dann haben die anderen meinen Geburtstag einfach vergessen. Jetzt gibt es weder Kuchen noch Kaffee, es geht auch ohne. Mir ist es immer ein Wert gewesen, keine Arbeit liegen zu lassen. Ich bin erst gegangen, wenn ich alle Buchungen erledigt hatte.

Nicht, dass das mein Chef gefordert hätte, aber zufrieden war er schon, dass unser Zahlungsverkehr so reibungslos lief. Bin ich selber schuld daran, dass ich hier am schlechtesten von allen bezahlt werde? Hätte ich wie die jüngere Kollegin gleich beim Einstellungsgespräch klare Forderungen stellen müssen? Ich bin die einzige Mitarbeiterin, die keine Kinder hat, so war ich immer zu Weihnachten, in den Semester- und Osterferien im Büro. Heuer erst fiel mir auf, dass auch die zwei Neuen in der Grafikabteilung keine Kinder haben. Doch soll ich hier wirklich noch darum streiten, auch einmal zu Weihnachten Urlaub machen zu können? Die Chefs hätten mir das ja auch anbieten können.

Jetzt gehe ich täglich pünktlich nach Hause, die Belege können bis morgen warten. Denn mein Tangokurs am Dienstag und mein Salsakurs am Mittwoch beginnen pünktlich. Warum nur habe ich mich so lange ausnutzen lassen? Weil ich die Älteste von drei Geschwistern war? Weil ich die Rolle meiner Mutter einnahm, als diese an Depressionen erkrankte? Weil ich gerne wichtig bin? Weil ich stark bin und anderen gerne helfe? Was hatte ich all die Jahre davon, dass ich so viel unbezahlt gearbeitet habe?


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SELBSTSCHUTZ IST DIE BESTE VERTEIDIGUNG

Die Psychotherapeutin Renate Gstür-Arming über die Strategien, die gegen das Ausgenutzwerden helfen


WdF: Ruth Vogt und Helene Schneider haben geschildert, wie sie sich ausnutzen ließen. Wie kommt es aus Ihrer Sicht als Coach und Psychotherapeutin eigentlich zu diesen Situationen bzw. Reaktionen?

RENATE GSTÜR-ARMING: Vorweg stellt sich natürlich die Frage, ob diese Reaktionen wirklich spezifisch weiblich sind. Ich kenne auch Männer, denen das passiert. Meine Frage ist: Was steckt hinter diesen Reaktionen, was ist der Benefit dieses Handelns? Es ist klar, dass wichtig zu sein, geliebt zu werden, einen Platz einzunehmen Motive dieser Handlungen sind, aber das ist nichts Neues. Aber da gibt es noch einen Aspekt: Wir wollen Dinge gerne abschließen, rund machen und abschließen. Wird jemand um Unterstützung gefragt, dann weckt das in den Gefragten auch den Wunsch, etwas zu Ende zu bringen.

WdF: Wer von Situationen erzählt, in denen er oder sie ausgenutzt wurde, muss nach anfänglichem Ärger manchmal auch über sich und die Situation lachen. Warum?

RENATE GSTÜR-ARMING: Dieser Humor ermöglicht es den Betroffenen, einen Schritt zurückzugehen und auf die Situation zu schauen. Wenn ich darüber lache, kann ich auf das Geschehene draufschauen, damit gewinne ich ein Stück Distanzierung vom Geschehenen. Die gewinne ich außer mit dem Lachen auch mit dem Spazierengehen, mit Kaffeetrinken, jeder und jede hat eigene Strategien, Distanz zu Erlebtem bzw. Geschehenem zu schaffen: Das ist keine Vermeidungs-, sondern vielmehr eine Distanzierungsstrategie. Und sehr, sehr empfehlenswert!

WdF: Ruth Vogt und Helene Schneider sind ja sehr empathische Frauen. Ich hätte die gerne als meine Freundinnen, die würden - jetzt vielleicht auch nicht mehr - sehr viel für mich tun. Sie haben sich und ihre Bedürfnisse stark, impulsiv und anhaltend zugunsten der Bedürfnisse der anderen zurückgestellt. Ist das typisch weiblich?

RENATE GSTÜR-ARMING: Dieses Hin- und Hergehen zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Gegenübers sowie immer wieder beim anderen hängen zu bleiben, das erscheint mir eher spezifisch weiblich zu sein. Dabei verlieren sich Frauen selbst, da wird aus einer eigentlichen Fähigkeit durch das Fixiertbleiben beim Gegenüber ein Defizit, das ja auch dazu da ist, dass ich lerne, damit umzugehen und es abzubauen, zu verringern. Wie können die Betroffenen diese Defizite minimieren und es schaffen, zu sich selbst zurückzukommen? Das sind die Fragen, die den Einzelnen weiterhelfen. Warum nicht eine Zigarette rauchen und nachdenken? Ich sehe auch das Positive des Zigarettenrauchens als Auszeit. Wie immer mein Muster dafür ist - Musik hören, aus dem Fenster schauen -, ich erreiche damit, dass ich mich wieder wahrnehme.

WdF: Wenn man sich gut wahrnimmt, bei sich ist, gelingt dann der Ausstieg aus ausnutzenden Beziehungen?

RENATE GSTÜR-ARMING: Je sicherer die Agierenden bei sich sind, desto klarer sind ihre Zusagen und Absagen, Letztere speziell gegenüber verlockenden Ausnutzangeboten. Die Rolle des Opfers auszufüllen, bringt die beiden Heldinnen der Ausnutzgeschichten ja nicht weiter. Helene Schneider stellt noch viele bittere Fragen, dennoch geht sie jetzt tanzen. Sie hat einen Weg, ihren Weg gefunden. Ruth Vogt sollte die Situation noch einmal ansprechen, anrufen und nach der ihr versprochenen Homepage fragen. Sonst geht sie einer Konfrontation aus dem Weg: Es fehlt der Ausgleich zwischen ihr und der Frau, für die sie viel gearbeitet hat. Dabei geht es jetzt nicht um die konkrete Gegenleistung, sondern um die nicht eingehaltene Zusage. Dieses Ungleichgewicht von Geben und Nehmen sollte so nicht stehen bleiben. Es zu konfrontieren schließt auch hier wieder etwas ab. Im anderen Fall bleibt Ruth Vogt auf der Geschichte sitzen, und zwar allein.

WdF: Ruth Vogt ist stark von Sprüchen und Lebensleitsätzen ihrer Mutter, ihrer Großmütter und ihrer Tochter geprägt. Welche helfen wirklich weiter, welche gehören einfach als gehört, aber als nicht hilfreich empfunden abgelegt?

RENATE GSTÜR-ARMING: Auch für mich hat diese Erhöhung des Stolzes einmal sehr gegolten: Dort, wo der Stolz mein Ratgeber war, habe ich meine schlechtesten Entscheidungen getroffen, die mir wenig gebracht und mich vor allem nicht weitergebracht haben. Stolz begreife ich in zwei Richtungen. Einmal gebietet er mir, meinen Schmerz nach außen nicht zeigen zu dürfen, unverletzt zu wirken, wo ich aber verletzt bin. Die andere Form von Stolz ist es, dass ich bei mir - das heißt bei mir und meinen Kränkungen, Verletzungen - bleibe. Im ersten Fall gelingt das nur mit zusammengebissenen Zähnen, es bricht einem fast schon das Kreuz, aber Durchhalten ist angesagt: So gelingt Entwicklung aber nicht. Der Spruch der Tochter hat mich sehr berührt, der ist hilfreich, er spricht das Lernen an, er zeigt Humor, er motiviert zur Veränderung, zur Welteroberung. Manchmal muss man sich auch Situationen - mit 50, mit 60 oder 80 - noch einmal so richtig "geben", so ganz dick, damit man das eigene Muster versteht. Dann kann man etwas Neues damit machen, neue Wege finden.

WdF: Beide Frauen zeigen sich in ihren Geschichten durch das Ausgenutztwerden beschämt. Der Wunsch nach Rache ist doch verständlich. Sie wollen die andere bzw. die anderen nun ihrerseits beschämen. Sollte man diesem Impuls nachgeben?

RENATE GSTÜR-ARMING: Wer beschämt wird, wehrt innerlich wie äußerlich ab. Dann ist kein Gespräch mehr möglich. Aber es geht doch nicht um Beschämung des/der anderen: Es geht um den Abschluss, die Vollendung eines Versprechens, einer Zusage, eines Vertrages. Es geht um Ruth Vogt und nicht um ihr Gegenüber, es geht um Helene Schneider und nicht um ihre Firma. Es geht auch ums Ankommen im Jetzt - etwa das pünktliche Ankommen im Salsakurs.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 9/2009, Seite 16-19
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 33,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 41,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 10,- Euro
Einzelpreis: 2,75 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2009