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VERKEHR/058: Psychologie im Tunnel - Wie Menschen sich bei Gefahren verhalten (RUBIN im Netz)


RUBIN im Netz - 4. Mai 2015
Wissenschaftsmagazin der Ruhr-Universität Bochum

Psychologie im Tunnel
Wie Menschen sich bei Gefahren verhalten

von Julia Weiler


Mit mathematischen Modelle lässt sich bestimmen, wie sicher Tunnel sind, zum Beispiel indem man simuliert, wie schnell ein Bauwerk evakuiert werden kann. RUB-Ingenieure untersuchen gemeinsam mit Würzburger Psychologen das Verhalten von Menschen bei Gefahr in Tunneln und entwickeln darauf basierend neue Entfluchtungsmodelle.

Bei Bränden oder Explosionen droht Gefahr im Tunnel nicht nur, weil das Bauwerk einstürzen könnte, sondern auch weil die Menschen gegebenenfalls nicht rechtzeitig fliehen können, bevor vor allem der Rauch sie erreicht. In Deutschland ist es für bestimmte Tunnel - etwa sehr lange oder solche, die unter einem Gewässer herführen - vorgeschrieben, vor dem Bau eine quantitative Risikoanalyse durchzuführen. Das Risiko berechnet sich als Produkt des Schadensausmaßes und der Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses, so wie bei einem Großbrand oder Terroranschlag zu erwarten. Um das Schadensausmaß bei einem Brand zu bestimmen, muss man vereinfacht gesagt berechnen, wie schnell sich der Rauch ausbreitet und wie schnell die Menschen den Tunnel verlassen können. In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt (siehe auch "Mit Spritzbeton gegen Terroranschläge" [1]) unterstützte das RUB-Team die Partner von der Universität Würzburg, der Bundesanstalt für Straßenwesen und der "PTV Group" dabei, ein neuartiges Modell zur numerischen Abbildung der Entfluchtung von Tunneln zu entwickeln.

"Es gibt uralte Entfluchtungsmodelle aus den 1970er- oder 80er-Jahren, die heute noch vielfach für Tunnel angewendet werden", sagt RUB-Forscher Dr. Götz Vollmann. Diese Modelle gehen davon aus, dass Menschen sich linear verhalten und bewegen, also bei Gefahr mit einer bestimmten mittleren Geschwindigkeit auf direktem Weg den Tunnel verlassen. Aber das tun sie natürlich nicht. Vollmann: "Wir wissen von den Großbränden in den Alpentunneln Ende der 1990er-Jahre, Anfang 2000, dass Leute häufig nicht deswegen umgekommen sind, weil sie feuerexponiert waren, sondern weil sie sich schlicht falsch verhielten." Das einzig Richtige bei Gefahr im Tunnel ist, alles stehen und liegen zu lassen und so schnell wie möglich den nächstgelegenen Fluchtstollen aufzusuchen. Viele Menschen bleiben jedoch in ihren Autos, weil diese eine gewisse Sicherheit vortäuschen.

Gemeinsam mit dem Würzburger Lehrstuhl für Psychologie von Prof. Dr. Paul Pauli untersuchten die RUB-Forscher, wie sich Menschen bei Gefahr tatsächlich verhalten. Im Engelbert-Tunnel in Gevelsberg simulierten sie einen Unfall. Da das Bauwerk jedes Jahr für eine Kirmes gesperrt ist, hatten sie hier die perfekte Teststrecke zur Verfügung. Das Team schickte Probandinnen und Probanden mit Autos in den Tunnel, ohne dass diese wussten, was sie dort erwartet. Sie fanden zwei ineinander verkeilte LKW vor. Mit Licht- und Kunstnebeleffekten verliehen die Forscher der Situation Dramatik. Kameras in den Autos und im Tunnel zeichneten das Verhalten der Testpersonen auf. Wie weit fahren die Leute vor? Bleiben sie im Auto oder versuchen sie zu fliehen? Setzen sie einen Notruf ab? Versuchen sie, den Brand zu löschen?

Die Datenauswertung läuft derzeit noch. Die Forschungsgruppe erstellt basierend auf den Ergebnissen ein Computermodell, das das vielfältige Verhalten der Menschen bei Gefahr im Tunnel widerspiegelt. Dieses Modell koppeln sie an ein Fluiddynamikmodell, das die Rauchausbreitung simuliert. So lässt sich die Risikoanalyse für die Bewertung von Tunneln in Zukunft deutlich realistischer durchführen als bislang.

Das Team untersucht aber noch einen weiteren Aspekt. Die Testpersonen waren für den Versuch in drei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe hatte vorab einen Flyer der Bundesanstalt für Straßenwesen erhalten, der Tipps zum Verhalten bei Gefahren im Tunnel gibt. Eine weitere Gruppe hatte sich mit einer Webseite der Würzburger Psychologen beschäftigt, die detaillierte Informationen zum richtigen Verhalten bei Notfällen in Tunneln bereitstellt. Die letzte Gruppe hatte keine Informationen vorab bekommen. Je besser die Personen Bescheid wussten, desto häufiger verhielten sie sich richtig, verließen den Tunnel also auf kürzestem Weg. Das zeigt, wie wichtig es ist zu informieren. Der Flyer der Bundesanstalt für Straßenwesen wurde basierend auf den Ergebnissen bereits überarbeitet. Das Würzburger Team plant nun eine App mit detaillierten Verhaltenstipps.

Dass es nicht ausreicht, einfach nur die Tunnelkonstruktionen sicherer zu machen, zeigt auch eine andere Anekdote, die Götz Vollmann kennt: Nach den Bränden in den Alpentunneln hat man Millionen von Euro in neue Sicherheitssysteme investiert. Dann wurden die Smartphones erfunden, und die sozialen Medien traten auf den Plan. "Das erste, was die Leute heutzutage bei einem Brand im Tunnel machen, ist das Handy rauszuholen und ein Foto auf Facebook hochzuladen", erzählt der RUB-Forscher. "Deswegen endet unsere Arbeit in Sachen Tunnelsicherheit vermutlich nie, weil auch unsere Gesellschaft und unsere Verhaltensmuster sich ständig ändern."


Anmerkung:
[1] http://rubin.rub.de/de/mit-spritzbeton-gegen-terroranschlaege

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Quelle:
RUBIN im Netz - Wissenschaftsmagazin der Ruhr-Universität Bochum
http://rubin.rub.de/de/themenschwerpunkt-verkehr/psychologie-im-tunnel
Redaktion RUBIN
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Telefon: 0234/32-25228, Fax: 0234/32-14136
E-Mail: rubin@ruhr-uni-bochum.de
Internet: http://rubin.rub.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2015

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