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BERICHT/004: Technik, Mensch und Selbstbestimmung - Vorherrschaft der Ethik (SB)


Tagung "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung"

Sabine Könninger über den Ethik-Boom in Frankreich

Schmale Fußbrücke zwischen hohen Gebäuden der TU Hamburg-Harburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Wo Ethik herrscht, wird ein Verlassen des Mainstreams verhindert
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Art und Weise, wie Menschen regiert werden, hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt und wird auch in Zukunft nicht mehr so sein wie beispielsweise in der heutigen parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Mit einem Spruch wie "L'État, c'est moi" (deutsch: "Der Staat, das bin ich"), der auf den Sonnenkönig Ludwig XIV. zurückgeht, würde sich ein deutsches Staatsoberhaupt nur dem öffentlichen Spott aussetzen. Gleiches gilt selbst für Frankreich, dessen Präsident über ungleich weitreichendere exekutive Befugnisse verfügt als der hiesige. In einer Demokratie wird angeblich weniger von oben regiert als in anderen Regierungsformen wie Monarchie oder Diktatur. Aber es wird regiert. Was bewirkt nun, daß sich Menschen regieren lassen? Welche Mechanismen greifen, bzw. welche Mittel und Methoden der Regierungsausübung werden von welchen Akteuren eingesetzt? Was ändert sich zur Zeit an der Regierungspraxis und womit ist in Zukunft zu rechnen?

Das sind einige der grundlegenden Fragen, die auf der Frühjahrstagung dreier universitärer Einrichtungen im März an der TU Hamburg-Harburg [1]‍ ‍von den 30 bis 40 Beteiligten mindestens gestreift wurden. Unter dem Titel "Regierungs-Technologien - Regierung der Technologien" wurde in zwei Vorträgen und einem Kommentar des dritten Panels ein kritischer Blick auf moderne Regierungstechnologien, durch die die Menschen vermeintlich stärker an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, geworfen. Zunächst berichtete die Politikwissenschaftlerin Sabine Könninger, Doktorandin an der Leibniz Universität Hannover, unter dem Titel "Der Ethikboom - Ausdehnungen von Bio- und Nanoethikpolitiken in Frankreich" aus unserem Nachbarland, wo Debatten um ethische Fragen bereits stark institutionalisiert sind.

Im folgenden werden wir nicht auf alle im Vortrag angesprochenen Punkte mit der gleichen Gewichtung eingehen, sondern den Aspekt herausarbeiten, derzufolge die verbreitete Vorstellung täuscht, durch ethische Debatten könnte Hobbes' Leviathan [2] Zaumzeug und Zügel angelegt werden.

Das sich selbst regierende Individuum bzw. "Subjekt", wie es in den Sozialwissenschaften heißt und von dem auf der Tagung häufiger die Rede war, erfüllt geradezu das Ideal des Konzepts von Herrschaft. Deren Vertreter müssen ihre Vorrangstellung nicht mehr verteidigen, da diese Aufgabe von denen, die beherrscht werden, erfüllt wird. Öffentliche ethische Debatten wären demnach Bestandteil dieser Herrschaftspraxis - ebenso wie die kritische politik- und sozialwissenschaftliche Analyse ethischer Fragen.

Sabine Könninger berichtete, daß in den westlichen Gesellschaften mit dem Aufkommen von Biomedizin und Biotechnologie in den 1980er Jahren ethische Fragen zunehmend unter Einbeziehung der Öffentlichkeit diskutiert werden - nicht, um zu einer Grundsatzentscheidung für oder gegen die Technologien zu gelangen, sondern um das Anliegen von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft zu vermitteln. Dabei reiche die Bandbreite an Initiativen von Meinungsumfragen, Anhörungen zu Bürgerkonferenzen bis zu öffentlichen Debatten. In Frankreich fände ein regelrechter Boom an Ethik-Veranstaltungen statt, wobei dieselben Institutionen, die zuvor über biomedizinische und -technologische Fragen berieten, seit einigen Jahren auch Nanotechnologie thematisierten.

Bei der Erforschung dieser Entwicklung für ihre Doktorarbeit hat Könninger besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet, wie ein Thema zu einem ethischen wird und wie über ethische Fragen diskutiert wird. Es ging ihr nicht darum herauszufinden, ob eine Technologie ethisch vertretbar ist. Eigenen Angaben zufolge untersucht die Politikwissenschaftlerin Ethik mehr als Rahmen oder auch Rahmenwerk, in dem, wie sie es in ihrem unveröffentlichten Vortragsskript formulierte, "die Bemühungen der Problematisierung und das Ziel der Selbststeuerung" zusammengeführt werden.

Problematisiert werden in diesem Fall Bio- und Nanotechnologien. Unter Selbststeuerung ist in diesem Zusammenhang eine wissenschaftliche Selbststeuerung gemeint, man könnte auch von einer Meinungsbildung zu Fragen der Biomedizin, Biotechnologie und Nanotechnologie sprechen. Im allgemeinen politik- und sozialwissenschaftlichen Verständnis ist mit Selbststeuerung gemeint, daß die Menschen weniger von oben herab regiert werden, sondern sich selbst regieren (lenken, steuern), beispielsweise durch die Beteiligung an ethischen Debatten. Wir werden an späterer Stelle näher darauf eingehen, daß die Vorstellung eines "Selbst" als eine autark handelnde, gegenüber äußeren Einflüssen weitgehend immune Person nicht einfach nur das Regiertwerden verschleiert, sondern es geradezu sicherstellt.

1983, in der Regierungszeit des französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand, wurde das nationale Ethikkomitee CCNE (Comité national d´éthique pour les sciences de la vie et de la société) eingerichtet. Es ist nicht die einzige Institution Frankreichs, die sich mit ethischen Fragen befaßt, sie gilt aber als tonangebend. Das CCNE besitzt ausschließlich beratende Funktion und hat mittlerweile mehr als einhundert Stellungnahmen und Empfehlungen zu biomedizinischen Themen veröffentlicht, wobei Technologien nicht grundsätzlich hinterfragt werden.

Schon aufgrund der zeitlichen Begrenzung ihres Vortrags auf rund 20 Minuten mußte die Referentin Dinge unerwähnt lassen, die unseres Erachtens die hegemoniale Aufgabe des Ethikrats - hier am Beispiel Frankreich - noch deutlicher werden lassen. Es ist bezeichnend, daß der Vorsitzende des 40köpfigen CCNE vom Staatspräsidenten ernannt wird. Zuletzt wurde im Februar 2008 Prof. Alain Grimfeld, Spezialist für Atemwegserkrankungen und Allergien von Kindern, als neuer Komiteevorsitzender eingesetzt. Man muß davon ausgehen, daß er zumindest anfangs das ungeteilte Wohlwollen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy genoß, andernfalls dieser ihn nicht berufen hätte. Später war das Staatsoberhaupt mit einer Veröffentlichung des CCNE nicht einverstanden und hat daraufhin eine Reform der Institution angekündigt. Offensichtlich um sie noch enger seinem Einfluß zu unterstellen, so daß er seine politischen Absichten besser verfolgen kann.

Grimfeld gilt als aufgeschlossen - aber wäre der Arzt auch aufgeschlossen gegenüber einer Fundamentalkritik an der Medizin? Kann man von ihm erwarten, daß er sich prinzipiell gegen biomedizinische Praktiken stellt? Wohl kaum. Könninger betont, daß der CCNE nicht die Legitimität techno-wissenschaftlicher Entwicklungen hinterfragt. Das berufsständische Interesse oder, wohlwollender formuliert, die Betriebsblindheit der Experten widerspricht nicht der Einschätzung der Referentin, daß sich jemand weniger wegen seiner spezifischen beruflichen Kompetenz, denn seiner Haltung und Bereitschaft zu einer "vernünftigen" Kommunikation als Mitglied des CCNE qualifiziert. Das hat Könninger unter anderem in Interviews, die sie mit Mitgliedern dieser Einrichtung geführt hat, festgestellt.

In Anlehnung an Dominique Memmi [3] berichtet sie, daß sich Ethik nicht durch einen Wahrheitsanspruch auszeichne, sondern durch die Bereitschaft, andere Meinungen zuzulassen - sofern sie gemäßigt seien. In dem unveröffentlichten Vortragsskript heißt es dementsprechend über die CCNE-Mitglieder : "Das ideale Mitglied besitzt die Fähigkeit zu reflektieren, ist moderat und hält alle Themen für diskutabel. Die offene und flexible Haltung der Mitglieder korrespondiert mit dem offenen und zeitlich flexiblen Charakter der Empfehlungen, die aus den Diskussionen hervorgehen und publiziert werden."

Wer jedoch eine "essentiell normative Position" einnimmt, gilt schlicht und ergreifend als nicht kompetent und findet gar nicht erst Eingang in den Ethikrat. Das gilt beispielsweise für die Gruppe PMO (Pièces et main d´oeuvre). Die kritisiert nanotechnologische Forschungen, stört öffentliche Debatten, organisiert Demonstrationen, kurzum, sie hat eine sehr dezidierte Meinung zur Nanotechnologie und die lautet: Non! Keine Nanotechnologie und auch keine ethische Debatte darüber, die der Technologie doch nur den Weg bereiten soll.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung bei der Diskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Debatte im Spannungsfeld 'essentiell normativer Positionen' und dem ethisch Richtigen?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die vom Ethikrat abgegebenen Einschätzungen gelten als "evolutionär, reversibel und prekär". Kurzum, sie sind wandelbar, wobei man sich, vom üblichen Verständnis von Ethik ausgehend, fragen muß, ob damit nicht ursprünglich etwas anderes gemeint war als Wandelbarkeit. Wenn sich ethische Standpunkte nach dem Zeitenwind richten, erfüllen sie nicht einmal ihren Anspruch, als beständige Werte gültig zu sein.

Bei der Untersuchung des Ethik-Booms in Frankreich hat sich Könninger gefragt, ob analog zur Entwicklung im biotechnologischen Diskurs Ähnliches auch hinsichtlich der Nanotechnologie zu beobachten sei. Das wird von ihr bestätigt. Es gebe nur ein einziges Prinzip "ethischer Reflektion", im nanotechnologischen wie auch im biotechnologischen Zusammenhang, sagt sie. Auch die ethische Rahmung, in dem die Fragen hauptsächlich als Themen der individuellen Gesundheitsfürsorge und individuell verantwortlichen Entscheidungsfindung und nicht beispielsweise unter dem Aspekt der Ökonomie diskutiert würden, sähe in beiden Diskursen ähnlich aus. Wobei im Biotech-Diskurs noch von "ethischen und sozialen Zwängen in der Gesellschaft" gesprochen werde, wohingegen hinsichtlich der Nanotechnologie nur noch von "Syndromen, Ängsten und Emotionen" die Rede sei.

Kritik an der Nanotechnologie wird von den sogenannten Experten, vergleichbar mit der Anti-Akw- und Anti-Gentechnikdebatte, als "emotional", "irrational" und "fehlgeleitet" betrachtet. Dem soll mittels "rational" geführter öffentlicher Debatten abgeholfen werden. Diese Art des Umgangs mit abweichenden Meinungen hat nicht nur in Frankreich Tradition. Indem der politische Gegner pathologisiert wird (er ist ängstlich, also therapiebedürftig), soll der eigene Standpunkt als die logische, einzige vernünftige Alternative dargestellt und gesellschaftlich durchgesetzt werden.

Jedes Jahr bringt der CCNE seine ethischen Vorstellungen auf einer mehrtägigen Veranstaltung insbesondere Schülerinnen und Schülern nahe. Die - offenbar pädagogisch auf "alles ist wandelbar" oder "man muß offen für (fast) alles sein" getrimmt - lernen dann, sich ethisch anständig zu verhalten. Hierzu gibt Könninger das Beispiel eines Schülerbeitrags zum Thema "Euthanasie am Neugeborenen" wieder, in dem (in hinlänglich bekannter utilitaristischer Manier) zwischen der Lebensqualität des Neugeborenen und den möglichen gesellschaftlichen Kosten einer Behinderung abgewogen wurde. Der Beitrag wurde von einem CCNE-Mitglied mit den Worten kommentiert, der Schüler habe die Schwierigkeiten und Problematisierung erkannt. Wohingegen ein anderer Schülerbeitrag übergangen worden sei, in dem nicht, wie vorgesehen, über gentechnisch veränderte Pflanzen, sondern über die Überproduktion in der Landwirtschaft und die Verteilungsfrage von Nahrungsmitteln gesprochen wurde.

In Frankreich lernen die Heranwachsenden also "richtiges ethisches Sprechen". Wenn man nun bedenkt, daß "regieren" von seiner Wortbedeutung her auf "richten" zurückgeht, läßt sich ahnen, daß das "richtige" ethische Sprechen schlicht einer Regierungsvorgabe folgt. Jenes unterstellte Selbst aber, das sich angeblich selbst lenkt bzw. regiert, erweist sich bei näherer Prüfung als haltlos. Was auch immer mit Selbst gemeint sein soll, offensichtlich ist es fremdbestimmt oder eben eine Worthülse zur besseren Durchsetzung vorherrschender Interessen.

Dieser Aspekt wurde in der an die Vorträge anschließenden Diskussion wenig berührt. Neben einer Gleichschaltung der Medien könnte man aber auch von einer Gleichschaltung der über Medien vermittelten Meinungen sprechen. Eine weitergehende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen findet in der Öffentlichkeit nicht mehr statt, allenfalls geht sie von NGOs zu bestimmten Aspekten der Gesellschaft (Banken, Atomenergie, Rüstung, Bildung, Netzzugang) aus. Wenn vor diesem Hintergrund ein Ethikrat gebildet wird und, gemäß dem ethisch propagierten Anspruch auf Pluralität, dazu Menschen aus unterschiedlichen Berufszweigen und gesellschaftlichen Bereichen berufen werden, dann weichen die im Ethikrat vertretenen Meinungen kaum voneinander ab, weil sie längst gleichgeschaltet worden sind.

Und wenn die Heranwachsenden mit dem Mittel der Ethik so erzogen werden, daß sie vielleicht milde lächeln, wenn jemand zum Beispiel einen Kompromiß mit einem profitorientierten Unternehmen ablehnt, das den Wunsch hat, mit eines biomedizinischen Produkts Geld zu verdienen, dann zeigt sich sehr deutlich, daß Ethik ein Herrschaftsmittel des politisch-ökonomisch-kulturellen Establishments ist.

Ein anderes Beispiel aus der Tagespolitik: Von welcher Ethik sprechen wir überhaupt? Es ist die Ethik des christlich dominierten Abendlands. Das Fundament und Gebäude der ethischen Debatte stellt immer noch der Staat bereit. Der hält wie ein Marionettenspieler die Fäden in der Hand, nach denen getanzt wird, auch wenn die Fäden verinnerlicht sind und Regierung von anderen Mechanismen der Beteiligung getragen und gesichert wird, wie es im zweiten Vortrag des dieses Panels, auf den wir noch gesondert eingehen werden, beschrieben wird.

Der Ethik-Boom in der Bio- und Nanotechnologie Frankreichs findet in einer Zeit statt, in der auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ethische Werte an Bedeutung gewinnen. So hat zwar der französische Verfassungsrat Ende Februar entschieden, daß das geplante "Gesetz zur Bekämpfung der Leugnung der Existenz gesetzlich anerkannter Völkermorde" (Loi visant à réprimer la contestation de l'existence des génocides reconnus par la loi) gegen die Meinungsfreiheit verstößt. Aber immerhin war es so weit gekommen, daß die Leugnung anerkannter Völkermorde mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden sollte. Die Befürworter dieses Gesetzesvorhabens begründeten ihren Vorstoß letztlich mit ethisch-moralischen Kategorien. Da das umstrittene Gesetz in erster Linie im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern 1915 bis 1917 durch die Türken diskutiert wurde, wurde es auch "Armenier-Gesetz" genannt. (In der Türkei verhält es sich umgekehrt, da darf nicht von einem Genozid an den Armeniern gesprochen werden.)

In Frankreich sollte auf der Grundlage einer Ethik ein Meinungsverbot durchgesetzt werden. Da nach Könningers Darstellung der Ethikboom auf dem Gebiet der Nanotechnologie etwa 2009, 2010 einsetzte, also relativ neuen Datums ist, wäre zu fragen, ob hier ein allgemeiner Trend zu beobachten ist, bei dem das frühere, unethische Verhalten staatlicher Organe - beispielsweise die Massaker an algerischen Demonstranten 1961 durch die Pariser Gendarmerie -, in ein ethisches Verhalten umkippt, sich das Resultat der Staatlichkeit aber ähnelt.

So war es Frankreich, das am 19. März 2011 den Luftangriff auf das Gaddafi-Libyen anführte. R2p (responsibility to protect - Schutzverantwortung) lautet der auf ein kurzes Akronym gebrachte Anspruch auf Intervention aus ethischen, vermeintlich höheren Gründen, durch die dem Gegner gleichzeitig die Einhaltung ethischer Normen abgesprochen und er verteufelt wird. Das Beispiel veranschaulicht wie kein anderes aus jüngerer Zeit, daß sich unethisches und ethisches Regieren gleichen: Im Namen von r2p verloren im Libyen-Krieg/-Bürgerkrieg schätzungsweise 50.000 Einwohner ihr Leben; der wichtigste Interventionsanlaß, die angebliche Bombardierung friedlicher Demonstranten in Bengasi durch die libysche Luftwaffe, erwies sich als Luftnummer bzw. Propaganda der Gegenseite; bei den vermeintlich friedlichen Demonstranten handelte es sich (im Unterschied zur Revolte im benachbarten Tunesien) mindestens zum Teil um bewaffnete Kämpfer, die in Kontakt mit westlichen Militärapparaten standen.

Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Das soll kein Loblied auf die Gaddafi-Regierung sein, die an den Folterflügen der CIA (rendition flights) beteiligt war, auf Wunsch der Europäischen Union Internierungslager für schwarzafrikanische Flüchtlinge eingerichtet und politische Oppositionelle verfolgt hat. Das Beispiel verdeutlicht aber, wie in einer Demokratie ethische Werte als Gewaltmittel (mal zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, mal als Interventionsvorwand) eingesetzt werden. Ethik liefert keine Wertmaßstäbe außerhalb vorherrschender Normen, sondern bestätigt diese. Dem trägt die französische Regierung in besonderer Weise Rechnung.

Zurück zum französischen Ethikrat. "Alles muss in diesem Rahmen möglich sein, nur nicht Nein zu sagen." Mit diesem Zitat [4] schließt Könninger ihr unveröffentlichtes Vortragsskript. Gilt die gleiche Aussage nicht auch für die Technologiekritik selbst? Kann oder will die kritische Theorie etwas anderes, als die gesellschaftlichen Verhältnisse letztlich bestätigen? Offenbar nicht. Darauf deutet bereits die Wortherkunft von "Kritik", das auf das griechische kritikós zurückgeht und laut dem Etymologie-Duden "zur entscheidenden Beurteilung gehörig" meint [5]. Also könnte man sagen, daß Kritik von vornherein nicht außerhalb der Beurteilungsparameter anzusiedeln ist. Da diese vorgegeben werden, wie Könninger am Beispiel des Ethik-Booms in Frankreich zeigt, müßte man auch die Kritik in den Rahmen vorherrschender Verhältnisse stellen und könnte daraus ableiten, daß sie ausgerechnet jenen Kräften nützt, an denen Kritik geübt wird.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1]‍ ‍Die Frühjahrstagung der Sektion "Wissenschafts- und Technikforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), des Arbeitskreises "Politik, Wissenschaft und Technik" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und der Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik der TU Hamburg-Harburg (TUHH) fand am 23./24. März 2012 an der TUHH unter dem Titel "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung" statt.

[2]‍ ‍Das Bild vom biblisch-mythologischen Seeungeheuer Leviathan als allmächtigen Staat geht auf den englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes zurück. Der verfaßte 1651 die Schrift "Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil" (Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens). Darin brachte er sein absolutistisches Politikverständnis zum Ausdruck.

[3]‍ ‍Dominique Memmi (1996): "Les gardiens du corps? Dix ans de magistère bioéthique". In: Paris.
http://www.persee.fr/web/revues/home/prescript/article/rfsoc_0035-2969_1998_num_39_4_4847

[4]‍ ‍Braun, Kathrin, Svea Luise Herrmann, Sabine Könninger and Alfred Moore (2009): "Bioethik in der Politik". In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 8, 16. Februar 2009, S. 40-46.
http://www.bpb.de/system/files/pdf/JMEDYV.pdf

[5]‍ ‍Duden Etymololgie, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 1963, S. 373.

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13.‍ ‍April 2012