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BERICHT/011: Technik, Mensch und Selbstbestimmung - Londoner Riots und der "Social Media Bürgerkrieg" (SB)


Tagung "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung"

Gesichtserkennung als Werkzeug des Vigilantismus

An Begriffen wie "Twitter-Revolution" für die Unruhen 2009 in Iran und "Facebook-Revolution" für die Erhebungen 2010/2011 in der arabischen Welt wird die suprematische Sichtweise des Westens erkennbar. Die sich gegen ihre repressiven Führungen erhebenden Menschen in Tunesien, Ägypten, Jemen und weiteren Ländern unter das Label kommerzieller Unternehmen US-amerikanischer Provenienz in Gestalt der sozialen Medien einzuordnen, mißachtet das emanzipatorische, antiherrschaftliche Anliegen der Demonstrantinnen und Demonstranten. Durch Bestimmungswörter wie "Facebook-" oder "Twitter-" sollten die sogenannten Revolutionen sprachlich vereinnahmt und gesteuert werden; zugleich wurde in der Berichterstattung der Eindruck vermittelt, als seien die sozialen Medien per se eine technologische Innovation, die quasi ein Selbstgänger zur Befreiung der Menschen ist.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Vadim Neklyodov warnt vor unkontrollierbarer
Dynamik der Social Media
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wie sehr es sich bei dieser Vorstellung um einen Irrtum handelt, hat der Medienforscher Vadim Neklyodov auf der gemeinsamen Frühjahrstagung dreier universitärer Einrichtungen an der TU Hamburg-Harburg [1] am Beispiel der Londoner Aufstände, der sogenannten Riots, nachgewiesen. Der Düsseldorfer Medienforscher hielt der in der Presse kolportierten Behauptung, daß mit dem Internet und den Sozialen Medien - Social Media - fast automatisch die Demokratisierung in ein Land Einzug hält, seine These entgegen, daß es sich bei den Riots fast schon um einen "Social Media Bürgerkrieg" handelte. Es hätten sich regelrechte digitale Bürgerwehren gebildet, die sich der sozialen Medienplattformen wie Facebook und Twitter bedient hätten, um Plünderer zu identifizieren und, so vermutet Neklyodov, wohl auch um Vergeltung zu üben.

Die Riots begannen am 6. August 2011 mit einer zunächst friedlichen Demonstration im Londoner Stadtteil Tottenham aus dem Anlaß, daß zwei Tage zuvor der 29-jährige Mark Duggan bei einem Festnahmeversuch von einem Polizeibeamten erschossen wurde. Die Darstellungen, wie es dazu kam, waren widersprüchlich, was den Verdacht nährte, die Polizei wollte etwas vertuschen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Abends eskalierte die Situation. Es folgten schwere Ausschreitungen, Plünderungen sowie brutale Polizeiübergriffe. Die Riots setzten sich in der folgenden und weiteren Nächten in London und anderen britischen Städten fort. Am 9. August lud die Polizei Aufnahmen des öffentlichen Video-Überwachungssystems CCTV (Closed Circuit Television) beim weit verbreiteten Web-Portal Flickr hoch und bat die Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifikation von mutmaßlichen Plünderern.

"Das Netz hat reagiert", berichtete Neklyodov. Einige Leute hätten sich darüber lustig gemacht, andere dagegen digitale Bürgerwehren gebildet. Beispielsweise wurde die Facebook-Gruppe "Supporting the Met Police against the London rioters" (zu deutsch: Unterstützung der Polizei gegen die Londoner Plünderer) gegründet, die binnen zwei Tagen fast eine halbe Million Mitglieder zählte.

Bei Google hatte sich eine Gruppe von Programmierern gebildet, um die Gesichtserkennung zu verbessern, und die Bilder aus Flickr auf der eigenen Website (doyourfriendsriot.com) hochgeladen. Mutmaßliche Plünderer sollten mit Hilfe der Gesichtserkennung von Facebook, die jedoch nur bei "Freunden" funktioniert, aufgespürt werden. Mit dem Trick, daß jeder der Gruppe weitere "Freunde" anstiftet, die Bilder hochzuladen, und diese weitere "Freunde" zu dem gleichen Schritt bewegen, sollte der Kreis derjenigen, die von Facebook mit dem automatischen Gesichtserkennungsprogramm überprüft werden, erweitert werden. Dieser Aufruf zum "biometrischen Verrat" habe jedoch allein aus technischen Gründen nicht funktioniert, da die Algorithmen der Facebook-Software noch nichts mit dem CCTV-Bildmaterial anfangen konnten, berichtete Neklyodov. Zudem hätten die Google-Gruppenmitglieder Todesdrohungen erhalten und Hacker das Ansinnen zur Kooperation entschieden zurückgewiesen.

Der Referent beschrieb noch weitere Beispiele, wie die sozialen Medien gegen die Plünderer eingesetzt wurden. Der Betreiber des Blogs catchalooter.tumblr habe diesen nach einem Tag abgeschaltet, weil er keinen Vigilantismus fördern wollte. Eine andere Website funktionierte so, daß ein Bild gezeigt und gefragt wurde, ob man die Person kenne. Wenn ja, wäre ein Formular erschienen, in das man Name, etc. eintragen konnte. Wenn nein, sei das nächstes Bild gezeigt worden.

Die Website Zavilia.com wiederum habe auf Fotos von mutmaßlichen Plünderern alle Personen mit Buchstaben gekennzeichnet. Wer wollte, konnte Namen zu den Personen eintragen. Es wurden aber auch Zusatzinfos wie Facebook-Link, Twitter-Name, Email-Adresse und Telefonnummer der Identifizierten abgefragt. Solche Ermittlungen seien eigentlich polizeiliche Aufgaben, erklärte Neklyodov, der deshalb vermutete, daß die Betreiber der Website mit diesen detaillierten Angaben nicht nur der Polizei helfen, sondern Vergeltung üben wollten.

Diese Annahme, die damals in der Netzwelt kursierte, wurde noch im August 2011 von dem mutmaßlichen Zavilia-Gründer "Matthew" zurückgewiesen. Man sei ebensowenig Rächer wie die britische Öffentlichkeit. Man helfe schlicht und einfach der Polizei bei Ermittlungen, indem man Vorschläge für mögliche Spuren mache, behauptete er in einem Blog-Gespräch. [2]

Über einige mutmaßliche Plünderer wurden, sobald sie identifiziert waren, weitere Daten aus sozialen Netzwerken gesammelt. Dann wurde beispielsweise der Arbeitgeber angerufen und gefragt, ob er es gut fände, daß der Angestellte plündere, etc. Ein digitaler Pranger wurde im sozialen Netzwerk Twitter über einen Hashtag wie #nameandshame in Verbindung mit dem Klarnamen aufgemacht. Solche Hashtags, dem beim Twittern das Zeichen # vorangestellt wird, sind Stichworte, so daß jemand, der danach sucht, alles mit einem solchen Hashtag Markierte empfangen kann. Außerdem seien solche neugegründeten Konten regelrecht als Aggregatoren eingesetzt worden, erläuterte Neklyodov im Anschluß an den Vortrag im Gespräch mit dem Schattenblick. Dabei sei die relevante Kommunikation unter einem Hashtag zusammengefaßt und mit Anweisungen für diejenigen, die sich zusammengefunden hätten, versehen worden.

Unter Berufung auf Evgeny Morozov [3] berichtete Neklyodov in seinem Vortrag, daß die sozialen Medien bzw. das Crowdsourcing auch zur Entlarvung von syrischen Spitzeln sowie Bloggern und Demonstranten in anderen arabischen Ländern eingesetzt worden und daraufhin Personen mißhandelt worden seien. Je besser die Gesichtserkennung funktioniere, desto größer die Gefahr, daß digitale Bürgerwehren die demokratischen Systeme gefährdeten. Deshalb sollte ein öffentlicher Diskurs über die Möglichkeit des Vigilantismus durch Social Media aufklären. Zudem sei beispielsweise an eine Aufhebung des Vermummungsverbots zu denken.

Zu dem Vortrag Neklyodovs wäre anzufügen, daß auch staatliche Organe die sozialen Medien benutzen, um ihre Fahndungsmethoden zu erweitern, mit der möglichen Folge von Repressionen. Das gilt nicht nur für die britische Polizei, die CCTV-Fotos in Flickr hochgeladen, sondern beispielsweise auch für die iranische Regierung, die Fotos von Demonstranten ins Internet gestellt und um Mithilfe bei der Identifizierung gebeten hat. [4] Die australische Polizei scheint ganz erpicht darauf zu sein, das Gesichtserkennungsprogramm iFace einzusetzen [5], und nicht zuletzt wird in der Heimat der meisten Social Media, den Vereinigten Staaten von Amerika, von verschiedenen polizeilichen und geheimdienstlichen Behörden in Sozialen Medien unter anderem mit Gesichtserkennungsprogrammen gefahndet. Homeland Security, das NYPD, FBI [6] und viele Institutionen der entwickelten US-Sicherheitsarchitektur mehr sind daran beteiligt.

Was Neklyodovs These vom potentiellen Social Media Bürgerkrieg betrifft, so darf sich der Referent im nachhinein bestätigt fühlen. Nach dem Mord an der elfjährigen Lena Ende März dieses Jahres in Emden hatten sich Leute auf Facebook verabredet und vor der örtlichen Polizeiwache versammelt, um ihr Mütchen zu kühlen. Entsprechende Ausrufe lassen die Vermutung zu, daß sie den mutmaßlichen Mörder gelyncht hätten, wenn er in ihre Hände geraten wäre. [7] Der Vorgang erhielt seine besondere Note dadurch, daß die Polizei bis dahin einen Unschuldigen verhaftet hatte, und dieser an des Täters statt gelyncht worden wäre.

Aber letztlich spielt es keine Rolle, selbst wenn er der Täter gewesen wäre. Lynchjustiz bleibt Lynchjustiz. Wobei man sich fragen kann, ohne die Bildung eines Lynchmobs rechtfertigen zu wollen, ob hier nicht bereits das Handeln von Staaten geistiges Vorbild ist. Wenn beispielsweise die USA weltweit Menschen und alle zufällig in deren Nähe stehenden Personen ohne jede Gerichtsverhandlung mittels Kampfdrohnen, die unter anderem mit Gesichtserkennungsprogrammen ausgestattet sind, tötet, sollte es nicht verwundern, wenn sich Menschen die gleiche Denkweise zu eigen machen, die Justiz umgehen und versuchen, das Heft in die Hand zu nehmen.

"Sozial" ist der Inbegriff der Gegenseitigkeit. Daß die Sozialen Medien keine prinzipiell anderen Verhältnisse hervorbringen als jene der Sozialdynamik, aus der heraus sie betrieben werden, liegt eigentlich nahe.


Fußnoten:

[1]‍ ‍Die Frühjahrstagung der Sektion "Wissenschafts- und Technikforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), des Arbeitskreises "Politik, Wissenschaft und Technik" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und der Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik der TU Hamburg-Harburg (TUHH) fand am 23./24. März 2012 an der TUHH unter dem Titel "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung" statt.

[2]‍ ‍"We Are Not Vigilantes: A Chat With the Founder of Zavilia, a Crowdsource Tool For ID'ing Rioters Through Photos", Posted by Kimberly_Haddad, 18. August 2011.
http://motherboard.vice.com/2011/8/18/we-are-not-vigilantes-a-chat-with-the-founder-of-zavilia-a-crowdsource-tool-for-id-ing-rioters-through-photos

[3]‍ ‍"RSA Animate - The Internet in Society: Empowering or Censoring Citizens?", Evgeny Morozov, 2011.
http://www.youtube.com/watch?v=Uk8x3V-sUgU

[4]‍ ‍"Die Revolution, die keine war", Spiegel Online, 31. Januar 2011
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,742430,00.html

[5]‍ ‍"Australiens Polizei setzt auf iFace", Telepolis, 8. Mai 2012
http://www.heise.de/tp/blogs/3/151964

[6]‍ ‍"FBI Ramps Up Next Generation ID Roll-Out-Will You End Up in the Database?", Jennifer Lynch, 19. Oktober 2011
https://www.eff.org/deeplinks/2011/10/fbi-ramps-its-next-generation-identification-roll-out-winter-will-your-image-end

[7]‍ ‍"Lynch-Mob im Internet nach Mordfall in Emden. Polizei muss 17-Jährigen beschützen", Rheinische Post, 30. März 2012.
http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/polizei-muss-17-jaehrigen-beschuetzen-1.2774952

10.‍ ‍Mai 2012