Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)


Widerspruchsregulation zur Krisenbewältigung in der EU

Workshop des Bundeskongresses Soziale Arbeit am 14. September 2012


Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Angelika Kaffrell-Lindahl
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auch am skandinavischen Modell des Sozialstaats, in anderen Teilen Europas lange Zeit als Beleg für den Erfolg sozialdemokratischer Politik gehandelt, ist der neoliberale Paradigmenwechsel nicht unbemerkt vorübergegangen. Wie dieser im Bereich der Sozialen Arbeit manifest wird, schilderte die Diplompädagogin Angelika Kaffrell-Lindahl von der Universität Östersund in Schweden. Ihr Beitrag zum Workshop "Soziale Arbeit im Schatten des 'Schirms'. Abbau des Sozialstaats, der Widerstand sozialer Bewegungen und die Diskurse der Sozialarbeit" im Programm des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit in Hamburg wäre ein idealer Einstiegspunkt in die Debatte um den Einfluß des neoliberalen Gesellschaftsmodells auf die Praxis Sozialer Arbeit gewesen. Doch dazu kam es an dieser Stelle ebensowenig wie an anderer Stelle des dreistündigen Workshops. Die angekündigte Diskussion beschränkte sich auf wenige Wortbeiträge nach den Vorträgen, die ihrerseits mit ständigem Seitenblick auf die Uhr kaum Raum zu vertiefenden Erörterungen ließen. Kurz gesagt, die Verdichtung der Arbeitsintensität unter dem neoliberalen Kostensenkungsregime hatte auch eine Veranstaltung im Griff, die sich im Grunde genommen mit eben dieser Zurichtung des Menschen auf ein Objekt ihn verfügender und zerreissender Fremdinteressen hätte auseinandersetzen sollen.

So blieb es bei einer Sachstandserhebung, die zwar deutlich machte, daß die Privatisierung der Sozialen Arbeit in Schweden auf dem Vormarsch ist, die Bewertung dieses Vorgangs jedoch ganz dem Publikum überließ. So wären unter den 35.000 Sozialarbeiterinnen, die 9,4 Millionen Menschen versorgten, zwar nur 3 Prozent bei NGOs angestellt und 7 Prozent selbständig tätig, doch auch unter den 90 Prozent der im öffentlichen Dienst auf Gemeindeebene beschäftigten Sozialarbeiterinnen sei der Wandel zum Wohlfahrtspluralismus in vollem Gange. Die Orientierung am Markt und die Dezentralisierung von staatlicher auf lokale Ebene verheißen mehr Autonomie und größere Nähe zu den Adressaten, sie ermöglichen eine größere Differenzierung in Organisation und Performance, weil die Anbieter Sozialer Arbeit insbesondere in kleinen Kommunen die dort in absoluten Zahlen knapperen Mittel effizienter einsetzen müßten.

Die Einrichtungen der Altenpflege, Drogenarbeit und Kinderfürsorge seien bereits zu einem Drittel, etwa im Rahmen von Public Private Partnership, privatisiert, und dieser Trend beeinflusse auch öffentliche Meinung wie das berufständische Selbstverständnis der Sozialarbeiterinnen. Von diesen erwarteten 30 Prozent, innerhalb der nächsten zehn Jahre im privaten Sektor zu arbeiten. Studien hätten ergeben, daß private Sozialarbeiterinnen professioneller sind, besser bezahlt würden und innovativer beim Erforschen neuer Arbeitskonzepte seien. Sie hätten mehr Arbeitserfahrung und eine bessere Ausbildung nicht zuletzt deshalb, weil sie meist älter seien.

Die Privatisierung könne zwar als Professionalisierungsstrategie verstanden werden, um mehr Status, Autonomie und Kontrolle anzustreben, doch ebensogut könnte sie die Folge von Unzufriedenheit mit der Bürokratisierung und den Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor sein. Auf jeden Fall nehme die Akzeptanz für private Alternativen deutlich zu, erklärte die Referentin, und das trotz der Tatsache, daß die öffentliche Sozialarbeit zu 90 Prozent von Frauen geleistet werde und diese generell skeptischer gegenüber Privatisierungsmodellen seien.

Eine Studie, in der 700 Artikel der vier größten Journale über Soziale Arbeit in Schweden untersucht wurden, habe einen Wandel von einer politisch und ideologisch aufgeladenen Herangehensweise zu einer pragmatischeren Einstellung gegenüber der Privatisierung Sozialer Arbeit festgestellt. Man beuge sich nicht nur dem Zwang des Marktes, weil man vermeintlich keine Wahl hat, sondern erkenne auch erfolgreiche Alternativen zur staatlich administrierten Sozialarbeit an.

Insbesondere für Frauen gelte, daß sie als Heldinnen des sozialen Engagements wahrgenommen würden, die den öffentliche Sektor nicht ohne Zögern verließen, um methodologische Freiheit und größere persönliche Verantwortung zu erlangen. Indem sie sich von den Strukturen und Arbeitsbedingungen staatlicher Sozialarbeit befreiten, könnten sie unbehinderter für ihre Klienten kämpfen. Männliche Sozialarbeiter, die ein Unternehmen beginnen, würden hingegen als Kapitalisten wahrgenommen. Sie wollten einfach nur mehr Geld verdienen und einen besseren Status anstreben, was sie etwa dazu veranlasse, aus Kostengründen ungelernte Sozialarbeiter einzustellen.

Das Outsourcing bislang staatlicher Aufgaben an die Kommunen könnte in Schweden dazu führen, so vermutete die Referentin, daß die Sozialarbeiterinnen gegeneinander in ein Konkurrenzverhältnis treten. Gerade in entlegenen strukturschwachen Gebieten könne dies ambivalente Folgen haben. Auf der einen Seite könne die Bereitschaft zur breiteren Kollaboration zwischen verschiedenen sozialen Akteuren entstehen, auf der anderen Seite könne dies zu regionaler Unterversorgung führen. Angelika Kaffrell-Lindahl verwies auf das Ziel der International Federation of Social Workers (IFSW), Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Empowerment und Befreiung zu fördern. Dies bedeute, daß diese Gemeinden ihre Mittel dort einsetzen müßten, wo ansonsten keine Hilfe geleistet wird, während sie lukrativere Teile der Sozialen Arbeit privaten Anbietern überlassen müßten.

Abschließend warf die Referentin die Frage auf, ob die anwachsende Orientierung am Markt, an der Privatisierung und Dezentralisierung vielleicht sogar eine Spaltung der Profession bewirken könnte, was sie für möglich hielt.

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mariusz Granisok
Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr . Mariusz Granisok von der Universität Lodz befaßte sich in seinem Vortrag mit dem Einfluß von EU-Programmen auf die Soziale Arbeit in Polen. Vor 20 Jahren fand die Soziale Arbeit eher informell statt, sie ergänzte die traditionelle Unterstützung von Generation zu Generation und wurde aufgrund der isolierten Tätigkeit der Sozialarbeiterinnen kaum dokumentiert. Dies habe sich seither nicht zuletzt durch den Einfluß der EU stark in Richtung eines multidisziplinären Teamworks verändert, das allerdings als top-down-Innovation durchaus gegen die Eigenständigkeit der Sozialen Arbeit durchgesetzt worden sei.

Die Sozialarbeiterinnen müßten die von ihnen entwickelten Projekte an EU-Regeln und -Konventionen anpassen, was insbesondere auf dem Feld ihrer sprachlichen Repräsentation stattfinde. Weil die EU einen spezifischen Jargon der inhaltlichen Vermittlung verlange, finde eine Professionalisierung bei der Präsentation von Projekten statt. Wer wisse, wie er ein Projekt angemessen darstellen könne, erhalte auch die verfügbaren Mittel.

Seine Untersuchung, die sich damit befaßte, wie Sozialarbeiterinnen mit ihren Klienten sprechen, habe erbracht, daß es aufgrund des EU-Einflusses zu Inkompatibilitäten zwischen Interpretation und Ausführung der Sozialen Arbeit komme. Zwar hätten die Sozialarbeiterinnen eine konkrete Vorstellung von ihrer Praxis, müßten dies aber auf sprachliche wie konzeptionelle Weise an die von der EU vorgegebenen Modelle anpassen. Folgten sie diesen Instruktionen korrekt, dann könnten sie in Widerspruch dazu geraten, im lokalen Kontext angemessen zu handeln, was es wiederum erschwere, den Erfolg ihrer Arbeit darzustellen. Im Endeffekt ginge es darum, das zu produzieren, was von der EU als erfolgreich akzeptiert werde.

Früher hätten die Vereinbarungen, die zwischen den Sozialarbeiterinnen und ihren Klienten geschlossen worden seien, kaum verbindlichen Charakter gehabt. Die Klienten hätten die Dokumente zwar unterzeichnet, doch wären Regelbrüche weitgehend ohne Konsequenzen geblieben, da die Sozialarbeiterinnen den bürokratischen Aufwand scheuten, den eine Sanktionierung wie der Entzug von Transferleistungen mit sich gebracht hätte. In jüngerer Zeit seien allerdings neue Vereinbarungen mit europäischem Geld eingeführt worden, das unter härteren Bedingungen vergeben wird. Nun lernten die Klienten, daß ihnen Mittel gekürzt werden, wenn sie die Vereinbarungen nicht erfüllten.

Eine wesentliche Konsequenz des EU-Einflusses bestehe darin, daß der Diskurs der Sozialen Arbeit nun auf zwei verschiedenen Ebenen stattfinde. Wenn die Sozialarbeiterinnen untereinander diskutieren, dann interessierten sie sich vor allem für technische Fragen etwa die Mittelvergabe oder die Bewältigung anderer bürokratischer Schwierigkeiten. Der öffentliche Diskurs hingegen sei von inhaltlichen Ideen nach Vorgabe der EU-Institutionen etwa menschenrechtlicher oder humanistischer Art bestimmt und werde bei Bedarf von den Sozialarbeiterinnen mehr oder weniger simuliert. Zudem hätten sie Probleme mit Begriffen wie etwa Evaluation oder Supervision, die im Polnischen nicht vorkämen. Niemand verstehe sie, aber sie würden in die Expertensprache implementiert, weil es viel Geld für die damit verbundenen Praktiken gebe.

Tatsächliche finde die professionelle Soziale Arbeit heute eher im Verborgenen statt, auch würden die dafür relevanten Diskussionen eher auf informeller Ebene geführt. Noch vor 15 Jahren seien Sozialarbeiterinnen stolz auf ihre Unabhängigkeit und Innovationslust gewesen, doch nun sei die Profession an engere Maßstäbe gebunden und ziehe es vor, eher unaufällig zu agieren. Der Widerspruch zwischen der gewachsenen und von äußeren Zwängen bestimmten Kultur der Sozialen Arbeit betreffe auch das Verhältnis zwischen ihren Praktikern und Administratoren, zudem gebe es in den Institutionen Differenzen zwischen politisch linken oder rechten Denkschulen.

Eine Sozialarbeiterin im Publikum bestätigte in Gegenrede zu einem Zuhörer, der Mariusz Granisok vorgehalten hatte, die Manager unbegründetermaßen für alles Negative verantwortlich zu machen, daß sich die deutsche Praxis nicht so sehr von dem unterscheide, was der Referent aus Polen berichtete. Auch hier müsse man sich auf Arbeitsfeldern engagieren, bloß weil es Geld dafür gebe. Zu diesem Zweck klaube man sich irgend etwas zusammen und verfasse schöne Texte, doch niemand wolle zugeben, wie wirkungslos das sei. Sie müsse stundenlang am Computer Evaluation betreiben, was sie nicht als Inhalt der Sozialen Arbeit empfinde. Professionell sei hingegen, jemanden dazu zu bringen, mit seiner Situation besser klarzukommen.

Zum Abschluß des Workshops sprach Initiator Franz Hamburger das Problem an, daß die Soziale Arbeit zwar der europäischen Modernisierungstheorie verpflichtet sei, Europa aber heute, anders als zu jener Zeit, als das Friedensprojekt Europa in Aussicht stand, kein identifikationsfähiges Gebilde mehr sei. Dieses Problem müsse angesprochen werden, wenn man noch über die Gegenmöglichkeiten nachdenken wolle, die Soziale Arbeit habe.

Der letzte Wortbeitrag hätte der Auftakt zu der dann doch nicht stattgefundenen Diskussion sein können. Ein Zuhörer gab zu bedenken, ob denn das Scheitern der europäischen Modernisierungstheorie oder nicht viel mehr das weltweite Scheitern des neoliberalen Kapitalismus, der sich in Verbindung mit Governance-Strategien durchsetze, der Ausgangspunkt der Kritik sein müsse.

Folie Dr . Mariusz Granisok - Foto: 2012 by Schattenblick

Projektmanagement im Bewilligungsparcours
Foto: 2012 by Schattenblick


Kapitalismuskritik und Soziale Arbeit

Letzteres im Grundsatz zu berücksichtigen verändert auch die Widerspruchslagen, mit denen sich Sozialarbeiterinnen herumzuschlagen haben. So resultiert der von Judit Csoba beschriebene Loyalitätskonflikt in der Notwendigkeit des kapitalistischen Staates, die Zurichtung seiner Subjekte auf ihre Verwertung durch Arbeit gegen die subjektiven Interessen der Betroffenen durchzusetzen. Diese Subjektivität ist die unbekannte Größe, mit der sich die Regierungsmacht insbesondere dann auseinanderzusetzen hat, wenn das permanente Vorhalten einer industriellen Reservearmee den Preis der Arbeit bis unter die Grenze der Reproduktionskosten drückt und damit soziale Probleme mannigfaltiger Art hervorbringt.

Schon die Überwindung des subjektiven Widerstands gegen die technologische Produktivkraftentwicklung, die das Auspressen des Mehrwerts gegen den körperlichen Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter und ihr Interesse an interessanter, abwechslungsreicher und ungebundener Tätigkeit durchzusetzen hat, bedarf der umfassenden Konditionierung der Betroffenen. Was im System des Taylorismus noch als eindeutige Fremdbestimmung auszumachen war, wurde mit dem marktwirtschaftlichen Primat eigenverantwortlichen Handelns und der Ideologie des Arbeitskraftunternehmers so wirksam auf die Anbieter der Arbeit zurückgelastet, daß die gewaltsamen Auswirkungen des Kapitalverhältnisses weitgehend aus dem Blick geraten sind. Die auf Erwerbslose übertragene Schuld, als Ich-AG versagt zu haben, hat diese in eine Defensive getrieben, die ihnen auch noch letzte Reste des souveränen Selbstverständnisses austreibt, als Insasse einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Lohnarbeit das einzige Reproduktionsmittel eigentumsloser Menschen ist, einen Rechtsanspruch auf die Befriedung des Lebensbedarfs zu haben.

Damit das so bleibt und nicht etwa irreguläre Gegenbewegungen entstehen, soll die Soziale Arbeit keinesfalls das kritische Potential entfachen, das widerständige Subjektivität entwickeln und stärken könnte. Die Einbindung der Sozialarbeiterinnen in das Berufsverständnis einer Profession, die in einem Staat mit eng begrenzten Ressourcen das Produkt eines gesellschaftskonformen Verhaltens in sozialen Problemfeldern erwirtschaftet, kann zu nichts anderem führen, als daß die Sozialarbeiterinnen einen Gutteil der intendierten Widerspruchsregulation und damit der Reibungsverluste unzureichender sozialer Kohäsion schultern. So werden die menschlichen Verluste kapitalistischer Wertschöpfung in der arbeitsteiligen Gesellschaft ihrerseits kommodifiziert und in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Reparaturbetriebs verwertet.

Angesichts der in der EU unschwer zu belegenden Ausrichtung des Staates auf die Bereitstellung der Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation kann die Loyalität der Sozialarbeiterinnen gegenüber ihren Klienten nur so weit gehen, wie die eigene berufliche Existenzgrundlage nicht gefährdet wird. Der Widerstreit zwischen administrativen Auflagen und individuellen Erfordernissen bildet das Gewaltverhältnis zwischen Verwertungszwang und Freiheitsstreben äquivalent ab, das gilt um so mehr, als repressive Formen der Arbeits- und Armutsverwaltung insbesondere auf deutsche Initiative EU-weit durchgesetzt werden. Der aktivierende Sozialstaat kann, wenn der Trieb in die Lohnarbeit ins Leere nicht mehr vorhandener Investitionen in Arbeit läuft, entweder in staatlich verwaltete Zwangsarbeit oder Billigarbeit auf Sklavenniveau münden, wie etwa die Maßnahmen der ungarischen Regierung gegen Erwerbslose zeigen. Sozialdarwinistische Auslesestrategien, antisemitischer und antiziganistischer Rassismus, staatsautoritäre Regierungspraktiken - in Ungarn wirft eine Zukunft ihren Schatten voraus, die mehr mit der kapitalistischen Verfaßtheit der EU zu tun hat, als dort eingestanden wird.

Das am Beispiel Schweden geschilderte Vordringen marktwirtschaftlich organisierter Formen der Sozialen Arbeit ist die Konsequenz einer abgewirtschafteten Staatlichkeit, deren Funktionseliten aus Gründen eigener Existenzsicherung mit dem Strom des Verwertungsprimats schwimmen. Die Elendsverwaltung in ein an Erfolgsparameter gebundenes Produkt zu verwandeln, ist die logische Konsequenz der Freisetzung aller Gemeingüter und öffentlichen Belange zur Sicherung der Profitrate des Kapitals. Zudem wären Staat und Verwaltung in größerem Maße über demokratische Prozesse erreichbar, wenn nicht der Griff des angeblichen Souveräns auf die Bedingungen seiner Vergesellschaftung durch die Filter der Governance-Strategien und Managementpraktiken zu manipulieren und gegen ihn zu wenden wäre.

So findet in den Supervisions- und Evaluationsprozessen der kontraktbasierten Sozialen Arbeit eine Form der Qualitätssicherung statt, die strikt am Ergebnis der eingesetzten Maßnahme und ihrer evidenzbasierten Verallgemeinerbarkeit für die Optimierung sozialer Kontrolle orientiert ist. Vertragsverhältnisse zwischen sozialen Akteuren schließen Formen einer Solidarität, die sich aus einer von antagonistischen Kräften unbeeinträchtigten Position im sozialen Kampf ergeben könnte, frei nach der Vorgabe normenkonformen Handelns bürgerlicher Rechtssubjekte wirksam aus. Es ist kein Zufall, daß das Instrumentarium der Governance-Technologien der betriebswirtschaftlichen Optimierungslogik vor allem US-amerikanischer Ökonomen und Soziologen entsprungen ist. Die Anwendung im Management großer Konzerne erprobter Lenkungs- und Kontrolltechnologien auf soziale Belange entspringt einem Gesellschaftsverständnis, das die Bevölkerung eines Staates als Verfügungsmasse kapitalistischer Mehrwertproduktion begreift und mit sozialtechnokratischen und biopolitischen Mitteln auf diesen Zweck zurichtet.

In dieser nach Kräften gegen irreguläre Einflüsse abgeschotteten oder diese assimilierenden Systemlogik ist kein Platz dafür, der gesellschaftlichen Verantwortung für individuelle Probleme eine relevante Bedeutung für die politische Willensbildung zuzugestehen. Eine Radikalisierung etwa der Sozialarbeiterinnen und ihrer Adressaten könnte ganz andere Aktivitäten zeitigen als die verlangte Anpassung an einen dem störungsarmen Funktionieren der Gesellschaftsmaschine gewidmeten Set von Regeln und Verhaltensformen. Das Verhältnis der Sozialen Arbeit zur EU-administrativen Ebene ist, wie das Beispiel Polen illustriert, aus gutem Grund von der an die Mittelvergabe gebundenen Durchsetzungskraft dort entworfener Konzepte bestimmt.

Begreift man die EU als ein aus der Dynamik nicht nur nationalstaatlicher Konkurrenz, sondern auch des internationalen Klassenkampfs entstandenes evolutionäres Entwicklungsmodell, dann tritt sie auch als hochentwickeltes Instrumentarium der Aushandlung und Vermittlung ansonsten der Kontrolle entgleitender Widersprüche hervor. Was in der schlagzeilenfüllenden Präsenz des Vulgärökonomismus Merkelscher Machart leicht übersehen wird, ist die über das Interesse des Kapitals an der Senkung der Arbeitskosten und der Liberalisierung der Kapitalverwertung hinausgehende Bedeutung der supranationalen Durchsetzung sozialer Standards und Normen für die Befriedung der in der Krise aufbegehrenden Bevölkerungen. Die seit kurzem laut artikulierte Zustimmung deutscher Eliten zur Stärkung administrativer Kompetenzen der EU ist zu einem Teil der Schlagkraft der Union im globalen Wettbewerb gewidmet, zum andern stellt sie aber auch die Antwort auf die Frage eines Krisenmanagements dar, das vor dem anwachsenden Problem aus Armut und Not aufbegehrender Bevölkerungen steht.

Insofern ist das EU-europäische Modernisierungsmodell nicht wirklich gescheitert, sondern steht vor der Transformation staatsautoritärer Verfügungsformen, die mit innovativen Methoden der Sozialkontrolle, in denen auch die Soziale Arbeit Verwendung finden kann, und zum Regelfall erklärter Notstandspraktiken den Bestand des kapitalistischen Akkumulationsregimes sichern.

29. November 2012