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BERICHT/026: Quo vadis Sozialarbeit? - Rückgewinnung (SB)


Soziale Arbeit in der Postdemokratie

Workshop des Bundeskongresses Soziale Arbeit am 14. September 2012



Demokratie ist ein Widerspruch in sich. Übte das Volk die Herrschaft aus, wäre der Herrschaftsbegriff obsolet, da es keine Beherrschten mehr gäbe. Folglich kann es sich beim Konstrukt Demokratie nur um einen ideologischen Entwurf zur Rechtfertigung bestehender Herrschaftsverhältnisse und Verschleierung des damit verbundenen Ausbeutungs- und Unterdrückungsregimes handeln. Das galt für jene griechischen Stadtstaaten der Antike, die man als Wiege der Demokratie bezeichnet, obgleich sie auf Sklavenhaltergesellschaften gründeten. Das gilt gleichermaßen für die höchstentwickelten Demokratien der Moderne, die zur Beförderung kapitalistischer Verwertung in der Konkurrenz der Gesellschaftssysteme ein historisch hohes Maß an Freiheitsrechten etablierten, solange dies zur Bestandssicherung der Herrschaft zweckdienlich war. Wie der dramatische Abbau vordem für unantastbar gehaltener Rechte unterstreicht, handelte es sich bei der als freiheitlich apostrophierten Gesellschaftsordnung lediglich um eine weitere Etappe innovativer Verfügungsgewalt, die der nächsthöheren weicht. Wollte man von einer menschheitsgeschichtlichen Konstante sprechen, so wäre dies die Herrschaft über die Artgenossen, die sich prinzipiell nie geändert hat, wenngleich ihre Erscheinungsform und Ausgestaltung immer komplexer geworden ist.

Das Konzept der Postdemokratie wirft einen zweiten ideologischen Schleier über die unhinterfragt vorausgesetzte Herrschaftsordnung. Indem aus gewissen Erscheinungsformen politischer und ökonomischer Verläufe ein Verfall der Demokratie konstatiert und mit dem positiv konnotierten Zustand ihrer früheren Unversehrtheit kontrastiert wird, entrückt man Demokratie vollends ins Pantheon heiliger Werte. Der poststrukturalistische Winkelzug, von konkreter Herrschaft abzusehen, indem an deren Stelle abstrakte Systeme, Verläufe und Mechanismen postuliert werden, täuscht vertiefte analytische Schärfe vor, wo die Preisgabe entschiedener Positionierung gegen jegliche Unterwerfung im Nebel konzeptioneller Komplexität verschwimmt.

Wie der dramatische Abbau des Sozialstaats unterstreicht, gibt es für die Beherrschten keine unantastbaren Besitzstände. Gerade weil die jeweils konkreten Arbeits- und Lebensverhältnisse das Resultat gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind, ist das erreichte Niveau von Entgelt und sozialer Sicherung niemals in Stein gemeißelt. Herrschaft ist ihrem Wesen nach stets umfassend, indem sie den grundsätzlichen und vollständigen Zugriff voraussetzt, worauf ein gewisser Bruchteil des zuvor Geraubten als befristetes und an Vasallenschaft gekoppeltes Lehen wiedergewährt wird, das folglich durchaus geschmälert oder ganz entzogen werden kann. Wenn daher der gravierende Abbau demokratischer Rechte und sozialer Standards zur Ausgangslage widerständigen Handelns erklärt wird, verordnete man sich selbst zahnlose Beteiligung an bloßen Verteilungskämpfen um schwindende Pfründe bundesdeutscher Metropolenexistenz, überführte man diesen Streit nicht in den Zusammenhang antikapitalistischer und antiimperialistischer Kämpfe.

Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg moderierten am 14. September 2012 Thomas Wagner (Ludwigshafen) und Prof. Dr. Fabian Kessl (Duisburg-Essen) den Workshop "Soziale Arbeit in der Postdemokratie". Eine Vorbereitungsgruppe der Zeitschrift "Widersprüche" hatte die Themen ausgearbeitet, zu denen Prof. Dr. Heinz Sünker (Wuppertal), Martina Lütke-Harmann (Duisburg-Essen) und Prof. Dr. Ellen Bareis (Ludwigshafen) sprachen.

Einleitend zitierte Thomas Wagner folgende Passage aus einem kürzlich erschienenen Aufsatz der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Wendy Brown mit dem Titel "Wir sind jetzt alle Demokraten":

Die Demokratie erfreut sich heute einer nie dagewesenen weltweiten Popularität und ist gleichzeitig nie zuvor konzeptionell vager bzw. substanzärmer gewesen. Wie Barack Obama ist sie ein leerer Signifikant, an den jeder seine Träume und Hoffnungen knüpfen kann. Das Lob der Demokratie wird heute nicht nur rund um den Globus, sondern auch durch das gesamte politische Spektrum hindurch gesungen. (...) Wir sind jetzt alle Demokraten. Aber was ist von der Demokratie geblieben?

Über dieses Zitat lasse sich eine Analogie zur Demokratiedebatte in der Sozialen Arbeit spinnen. Demokratie stelle auch hier so etwas wie einen leeren Signifikanten dar. Wenngleich Demokratie seit den Pioniertagen der Sozialen Arbeit stets ein zentraler normativer Bezugspunkt gewesen sei, bleibe doch in den allermeisten Fällen unklar, was eigentlich damit gemeint ist. Von einer kritischen Diskussion über demokratietheoretische Fragen könne keine Rede sein.

Die These der Postdemokratie, wie sie unter anderem von Colin Crouch und Jacques Rancière formuliert worden ist, postuliert, daß etablierte Demokratien Transformationsprozessen ausgesetzt seien, in deren Folge ihr Anspruch auf Volksherrschaft substantiell in Frage gestellt wird. In den folgenden Vorträgen solle das analytische und politische Potential der Zeitdiagnose Postdemokratie kritisch ausgelotet werden, um daraus Konsequenzen für die Soziale Arbeit abzuleiten.

Am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Heinz Sünker
Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Heinz Sünker sprach zum Thema "Demokratie und Bildung - Zur Notwendigkeit der Bildungs- und Demokratiefähigkeit des postdemokratischen Subjekts". Wie der Referent vorab klarstellte, halte er die These von der Postdemokratie für "ziemlichen Quatsch". Zum Einstieg griff er auf ein Marx-Zitat aus den Feuerbachthesen zurück:

Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile, von denen der eine über ihr erhaben ist, sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.

Wie hängen demokratische Bildung und Bildung der Demokratie zusammen? Vor dem Hintergrund der katastrophalen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Faschismus und Stalinismus, die für ihn strukturell homolog seien, müsse sich eine kritische materialistische Theorie die Frage stellen, warum Menschen permanent gegen ihre Interessen handelten und die Verwirklichung der Vernunft trotz aller zivilisatorischen Fortschritte immer wieder gescheitert sei, so der Referent. Begreife man das Kapital auch als soziales Verhältnis, gelte es die Formbestimmtheit der kapitalistischen Gesellschaft zu klären. Heinz Sünker zitierte Anna Siemsen, die 1948 in ihrem Werk zur Pädagogik "Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung" schrieb:

Das große Problem besteht darin, daß auf dem Gebiete der Naturbeherrschung die Menschen gewaltige Fortschritte gemacht haben, aber nicht auf dem Gebiete ihrer sozialen Beziehungen, so daß am Ende der einzelne Mensch hinter einer Partei, einer Fahne oder einem Führer hergelaufen ist.

Dieses Zitat biete einen Einstieg in die Analyse der mörderischen Systeme und Diktaturen wie auch in jene des Verhältnisses von demokratischer Bildung und Bildung der Demokratie. Im Rahmen eines emphatischen materiellen Bildungsbegriffs, wie er vor allem von Heinz-Joachim Heydorn vorgelegt worden sei, werde deutlich, daß Bildung und Freiheit zusammengehören. Bildung sei das emanzipatorische Projekt, und so heißt es bei Adorno: "Es geht darum, daß Menschen sich als Subjekte politischer Prozesse erfahren." Man brauche gebildete Bürger im Sinne von Citoyens, die reflexionsstark, urteilsfähig und handlungskompetent sind und die öffentlichen Angelegenheiten ihrer Gesellschaft als eigene erkennen und darin eingreifen können.

Wie gestalten sich Einschluß und Ausschluß an politischen Prozessen? Wie tragen Bildungsprozesse zur Fähigkeit bei, gesellschaftliche Prozesse zu gestalten und zu regulieren? Wie aus den OECD-Berichten deutlich werde, resultiere aus der Mehrgliedrigkeit des deutschen Unterrichtssystems eine besonders hohe soziale Selektivität. Diese Politik der sozialen Schließung führe dazu, daß ein Klassenkrieg im Bereich der Bildungspolitik herrsche. In Hamburg habe eine bürgerliche Bourgeoisbewegung anderen Menschen das im Grundgesetz festgeschriebene Recht auf Bildung verweigert. Das mehrgliedrige System sei aus kinder- und jugendhilfepolitischer Sicht eine permanente Verletzung dessen, was man als Kindeswohl operationalisieren müsse, so der Referent.

Vor diesem Hintergrund der sozialen Selektivität werde Zweierlei deutlich: Entsprechend dem empirischen Befund, der in angelsächsischen Studien, aber auch von Pierre Bourdieu vorgelegt worden sei, handle es sich bei der Bildungspolitik um Klassenkampf. Es gehe um Klassenstrategien und das entsprechende Passungsverhältnis zu den Strukturen des Unterrichtssystems. Zweitens gebe es empirische Befunde, die besagten, daß nichtselektive Systeme in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und auf das erreichte Lernniveau aller Beteiligten besser seien. Daher sei die Forderung nach der Bildung aller und der Bildung für alle relevant für die Möglichkeiten, Demokratie zu realisieren.

Hier wäre einzuwenden, daß Sünker zwar den Ausschluß bestimmter Bevölkerungsteile von Bildungsmöglichkeiten zutreffend als ein Phänomen des Klassenkampfs charakterisiert, jedoch der vielfach vorgenommene Umkehrschluß für sich keineswegs plausibel ist. Mehr Bildung ist nicht per se mit Emanzipation gleichzusetzen, kommt es doch auf die Inhalte wie auch die Form des Lernens an. Bildungsinstitutionen repräsentieren nicht nur hinsichtlich der Selektion, sondern auch der Anpassung an die Erfordernisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine zentrale ideologische Funktion.

Abschließend ging der Referent explizit auf die Postdemokratie ein, die seines Erachtens eindimensional nur von der Aushöhlung demokratischer Strukturen spreche, während sie vorhandene Ansätze der Partizipation unterschlage. Beispielsweise gingen die UN-Kinderrechte oder die Mitbestimmung in bestimmten Bereichen der kapitalistischen Ökonomie über einen rein legitimatorischen Charakter hinaus. Man müsse den Verfall von Demokratie im Kontext mit der Stärkung sozialer Bewegungen und einer Vorstellung von politischem Bürgertum im Sinne des Citoyen austarieren. Heute existierten unterschiedliche politische Kulturen und Vorstellungen von den Möglichkeiten des Eingreifens in politische Auseinandersetzungen. Während etwa der Anstieg der Studiengebühren international beklagt werde, habe man deren Absetzung in etlichen deutschen Bundesländern erkämpft. Daher müsse man die Widersprüche stärker betonen und die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten gebildeter Subjekte in verschiedenen politischen Kulturen als eine Möglichkeit sehen, demokratische Potentiale in die Gesellschaft zurückzuholen.

Am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Martina Lütke-Harmann
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Im zweiten Vortrag befaßte sich Martina Lütke-Harmann mit dem Thema "Demokratie ohne Gesellschaft? - Zur Deutung und Kritik der Postdemokratie". Sie verwies eingangs darauf, daß sich in jüngerer Zeit die Stimmen mehrten, die eine Einmischung Sozialer Arbeit in die öffentliche Auseinandersetzung anmahnten. Diesen Ansätzen sei gemeinsam, daß sie eine zunehmende Entpolitisierung voraussetzten, der sie etwas entgegenzusetzen versuchten. Allerdings bleibe die unterstellte Entpolitisierung dabei zumeist so verschwommen, daß man zunächst einen systematischen Deutungshorizont für diese These entwickeln müsse.

Nehme man die Prämisse Colin Crouchs zum Ausgangspunkt, lasse sich die jüngere westeuropäische Geschichte in eine prädemokratische, eine demokratische und eine postdemokratische Phase unterteilen. Demnach befinden wir uns gegenwärtig in einer Phase demokratischer Entropie: Während die demokratischen Institutionen weiterhin intakt seien, entwickelten sich Regierungen und politische Verfahren in eine Richtung, wie sie typisch für vordemokratische Zeiten war. Crouchs These einer Entpolitisierung des wohlfahrtstaatlichen Arrangements treffe zwar zu, doch greife sein institutionalisiertes Politikverständnis als alleinige Gegenwarts- und Problembeschreibung zu kurz, so die Referentin. Durch das Primat, das der Ökonomie für die Interpretation demokratischer Entwicklungsprozesse zugesprochen wird, erhalte die Postdemokratiethese den Charakter einer Metaerzählung, deren historischer Verlauf maßgeblich über die Phasen des Fordismus und der finanzmarktkapitalistischen Gesellschaftsformation bestimmt wird. Zugespitzt könnte man daher von einer apolitischen Transformationsgeschichte der Demokratie sprechen, zumal sie selbst der Ökonomie letztlich eine reaktive und keine konstitutive Rolle zuweise.

Wenngleich eine ökonomisch induzierte Gefährdung der Demokratie nicht in Abrede gestellt werden solle, stelle sich doch die Frage, ob die große Erzählung von einer Entpolitisierung der Politik nicht wesentliche Aspekte des gegenwärtigen Transformationsprozesses ausschließt. So lege sie eine erstaunliche Blindheit gegenüber dem neoliberalen Politikmodell an den Tag. Zudem könne das Erstarken zivilgesellschaftlicher Politikformen und -modelle als Kontrapunkt gegen die Entkopplung der Macht in den Postdemokratien betrachtet werden, wobei andererseits zu prüfen sei, inwieweit das Aufkommen dieser Politikformen nicht selbst als immanenter Ausdruck postdemokratischer Entpolitisierungstendenzen zu kritisieren ist. Crouch liefere keine demokratietheoretische Klärung, sondern setze ein weder systematisch noch empirisch angemessenes Verständnis von Politik und Souveränität voraus, das die fordistischen Nachkriegsgesellschaften zum Höhepunkt partizipativer Entwicklungsdynamik verklärt und die postdemokratische Gegenwart ganz in das Zeichen einer verlorenen und wieder herzustellenden Einheit stellt.

Der Begriff Postdemokratie entfalte erst dann sein gesamtes analytisches Potential, wenn er nicht nur historisch, sondern auch systematisch verwendet werde, argumentierte Martina Lütke-Harmann unter Bezug auf den französischen Philosophen Jacques Rancière. In diametralem Kontrast zu Crouch, der kritisiert, daß die Legitimationsableitung politischen Handelns aus der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger kaum noch mit den Gegebenheiten der gegenwärtigen Gesellschaftsformation übereinstimmt, verweist Rancières Auffassung von Postdemokratie auf eine Regierungsweise, für die eine wahre Inflation der Legitimation kennzeichnend ist. Die beklagte Entpolitisierung sei in diesem Sinn kein spezielles, durch externe Kräfte hervorgerufenes Phänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr die systematische Kehrseite eines bestimmten Verständnisses von Souveränität demokratischer Ordnung.

Um diese Wendung der Demokratie gegen sich selbst für eine Reflexion der Politisierungsforderung Sozialer Arbeit nutzbar zu machen, sei es instruktiv, auf Rancières Revision und Differenzierung der Politik und Polizei einzugehen. Der in einem neutralen Sinn verwendete Begriff Politik steht für die Gesamtheit von Prozeduren und Verfahren, durch welche eine Bestimmung der gesellschaftlichen Realität vorgenommen und durch institutionelle Handlungen in das Soziale eingeschrieben wird. Es handle sich um eine selektive Ordnung des Sicht- und Sagbaren, die dafür zuständig ist, daß diese Rede verstanden und jede andere nur als Lärm aufgenommen wird, daß diese Handlung sichtbar und jede andere nicht sichtbar ist. Zur politischen Praxis kommt es Rancière zufolge erst dann, wenn eine Intervention erfolgt, die den Abstand zwischen Gleichheitsnorm der Demokratie und Realität der polizeilichen Ordnung kenntlich macht. Politik verwirklicht sich mit anderen Worten als interventive Praxis gegen eine macht- und herrschaftsförmige Ordnung der Polizei, durch welche die von der gesellschaftlichen Teilhabe Ausgeschlossenen ihren Anteil im Namen einer unmöglichen Gleichheit einfordern.

Was bedeutet das für eine Repolitisierungsforderung sozialer Arbeit? Entpolitisierungsprozesse entstehen nach Rancière dann, wenn die Spannung zwischen Symbol und Realisierung der Demokratie eingeebnet wird und ein politischer Akteur, zum Beispiel eine staatliche Institution wie die Soziale Arbeit, für sich in Anspruch nimmt, die gesellschaftlichen Verhältnisse objektiv repräsentieren zu können. In genau diesem Sinn sei den sozialpädagogischen Repolitisierungsversuchen bei näherer Betrachtung eine gegenläufige Tendenz immanent. Ihr grundsätzliches Ziel bleibe die Aufrechterhaltung einer normativ ausgezeichneten Ordnung, in der jedes Individuum wieder an seinem gerechten Platz ist. Damit wende sie sich gegen jenen "Teil ohne Anteil", der innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung gerade nicht angemessen repräsentiert werden kann und diese mit seiner Gleichheitsforderung ins Wanken brächte.

Sowohl Crouchs Analyse wie auch die sozialpädagogischen Repolitisierungsforderungen blieben folglich der Logik der Entpolitisierung verhaftet. Sie verstellten den Blick auf die Tatsache, daß soziale Identität und politische Gemeinschaften und Kriterien, mit deren Hilfe sie organisiert werden, auf Ausschließungen beruhen, die Gegenstand des politischen Streites sind. Abschließend stelle sich also die Frage, ob die Soziale Arbeit dieser Darstellung zufolge nicht notwendigerweise zur Seite der Polizei gehört. Als intermediäre Instanz setze sie Ordnung faktisch durch und vermittle zugleich deren Notwendigkeit.

Polizei und das sozialstaatliche Wirken insgesamt bezeichneten somit nicht einen Umschlag der Politik in ihr Gegenteil, sondern repräsentierten vielmehr die unvermeidbare Kehrseite erfolgreicher Politik. Demnach ließe sich Soziale Arbeit als institutioneller Ausdruck der Bindung, zu deren Zweck es Politik überhaupt gibt, verstehen. Folglich müsse eine politische Theorie Sozialer Arbeit die fehlende Auseinandersetzung mit der widersprüchlichen Doppelbewegung von Politisierung und Entpolitisierung ausgehend von ihrer eigenen Tradition nachholen und ihr Verhältnis zur Politik in seiner historischen Form und Formierung bestimmen. Als Politisierung im hier dargelegten Sinn würde sich die Soziale Arbeit aber erst da erweisen, wo sie ihre institutionelle Form für den Streit um die Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit ihrer selbst geöffnet hat.

In der anschließenden Rückfragerunde monierte Prof. Dr. Michael Winkler, der sich als aufmerksamer Zuhörer engagiert an der Diskussion im Workshop beteiligte, einen seines Erachtens fehlenden Rückbezug der im Vortrag angemahnten Politisierung Sozialer Arbeit zum eingangs angerissenen Demokratiebegriff. Wie die Referentin dazu ausführte, sei Politisierung im Sinne Rancières gleichbedeutend mit Demokratie, die nicht als Zustand existiere. Damit konnte Michael Winkler nicht zufrieden sein, und so wandte er zu Recht ein, daß dabei entweder ein leerer Demokratiebegriff oder ein technischer Politikbegriff verwendet werde. Letzterer könnte für jegliche Gesellschaftsformen bis hin zum Faschismus eingesetzt werden und führe mithin weg von einer Auseinandersetzung mit Demokratie.

Am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Ellen Bareis
Foto: © 2012 by Schattenblick

Im letzten der drei Vorträge ging Prof. Dr. Ellen Bareis auf das Thema "Der Blick auf die 'Löcher' im konsensualen Gewebe - Alltagspraktiken in der Ausschließungsrealität der Postdemokratie" ein. Rancière leiste nicht zuletzt einen wichtigen Beiträge zur Migrationstheorie, wenn er etwa von der relativen Autonomie der Migration spreche. Damit sei gemeint, daß Menschen in ihrem Alltag ihnen gesetzte Grenzen dennoch überschreiten und sich in gewissem Ausmaß gesellschaftliche Teilhabe verschaffen, die für sie nicht vorgesehen ist. Die Migranten organisieren beispielsweise den Schulbesuch für ihre Kinder und schaffen so durch ihre Alltagspraxis soziale Rechte, auf die sie zuvor keinen Anspruch hatten. Rancière spricht vom "Anteil der Anteillosen", den letztere zu ihren eigenen Bedingungen einfordern.

Auch mit Blick auf die Erhebungen in den französischen Banlieues und weitere Formen spontaner Empörung, die zumeist als unpolitisch wahrgenommen werden, sei Rancière hilfreich. Er unterscheide zwischen denen, die gehört und verstanden werden, und anderen, die man nur als Lärm und Störung wahrnimmt. Demokratie entstehe nicht als institutionelle Form, sondern nur dann, wenn der Dissenz derer, die keinen Anteil haben, formuliert wird. Sie sei also keine Frage guter Ordnung, sondern eine von Konflikten und Widersprüchen.

Crouch hingegen verliere aus dem Blick, daß sich Demokratie noch nie historisch erfüllt habe und in gewisser Weise immer ein hohles Gebäude geblieben sei. Man könne seine Verlustthese der Postdemokratie nur dann formulieren, wenn man ein normatives Verständnis von Demokratie zugrunde lege.

Soziale Arbeit, die einem kritischen Verständnis verpflichtet sei, sollte sich der Referentin zufolge stets im klaren darüber sein, mit welcher Art von Partizipations- oder Demokratieverständnis sie zu tun haben will. Man sollte die unterschiedlichen Positionen und Theorien nicht einer Konsensbildung zutreiben, sondern sie in ihrer Widersprüchlichkeit diskutieren. Der eine Pol dieses Spektrums wäre an Kohäsion und einer normativen Auffassung von Partizipation anzusiedeln, der andere Pol ein Blick auf die "Löcher" im konsensualen Gewebe - nicht um sie zu stopfen, sondern den Lärm verstehbar zu machen. In diesen Löchern würden Konflikte formuliert und dort sei, um mit Rancière zu sprechen, der Moment anzusiedeln, an dem Demokratie entsteht. In den Dissens zu gehen, sei auch für die Soziale Arbeit mit Trauerarbeit verbunden, weil nicht alles machbar ist. Dazu zitierte die Referentin abschließend Adorno in "Erziehung zur Mündigkeit":

Gerade im Eifer des Änderungswillens wird allzu leicht verdrängt, daß Versuche, in irgendeinem partikularen Bereich unsere Welt wirklich eingreifend zu ändern, sofort der überwältigenden Kraft des Bestehenden ausgesetzt sind und zur Ohnmacht verurteilt erscheinen. Wer ändern will, kann es wahrscheinlich nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt, und vielleicht auch, was er tut.

Ideologische Leer- und Kampfformel Demokratie

In der anschließenden Diskussion griff auch Heinz Sünker auf Adorno zurück, der 1944 in einer Kontroverse mit Tillich, die erst sehr viel später im Briefwechsel mit Horkheimer publiziert wurde, geschrieben hatte:

Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist durch und durch dialektisch. Sie entziehen sich der Dialektik durch das probate Mittel der Synthese, welche die Gegensätze in der Mitte zusammenbringt, anstatt eins durchs andere hindurch zu bestimmen. So kommt denn Individualität zustande, die in eine kollektivistischere Gesellschaft integriert sein soll. (...) Es kommt nicht auf die Versöhnung von Individuum und Gesellschaft an, sondern darauf, daß mit der Emanzipation der Gesellschaft jedes ihrer Mitglieder emanzipiert wird.

Das ist Sünker zufolge der entscheidende Punkt der Auseinandersetzung, nämlich daß sich Individuum und Gesellschaft nicht konsensual zueinander verhalten, sondern widersprüchlich, widerständig bleiben.

Ellen Bareis vertiefte auf eine Nachfrage hin, daß die Aufstände in den Banlieues zwar hinsichtlich ihrer sozialen Gründe weithin einheitlich bewertet wurden, die Reaktion der Jugendlichen selbst jedoch zumeist als nihilistisch und zutiefst unpolitisch verurteilt wurde. Dabei habe man es mit einem jener Löcher zu tun, die gesellschaftlich nur als Lärm wahrgenommen würden. Ein anderer Teilnehmer aus dem Publikum übertrug diesen Ansatz auf die Heimerziehung, wo er das Aufbegehren bis hin zur Bambule zwar als Ausdruck akzeptiere, dem jedoch die Zähmung durch ein demokratisches Verfahren folgen müsse. Die dabei vereinbarte Regelung werde von den Sozialarbeitern als konsensuale Polizei solange durchgesetzt, bis es zum nächsten Aufstand komme. Eine Diskussionsteilnehmerin erinnerte an die Antipsychiatriebewegung, deren radikale Forderungen sie allerdings als Überforderung bezeichnete. Ein Dissenz müsse sich aber zumindest organisieren und artikulieren können.

Der Verfasser dieses Berichts schlug in seinem Diskussionsbeitrag vor, sich nicht länger mit der Debatte um Postdemokratie aufzuhalten, sondern zur Klärung des Begriffs Demokratie vorzudringen, der unhinterfragt als positiv vorausgesetzt werde. Das Konzept der Volksherrschaft throne unbesehen auf einem System der Unterdrückung in der Sphäre der Produktion wie auch im Sinne von Demokratien, die Autokratien und Diktaturen unterstützen, Angriffskriege führen, ihre Verhältnisse im Innern auf gesetzgeberischem Wege repressiv verändern und traditionelle Bürgerrechte abschaffen. Man komme bei der Debatte um Demokratie nicht ohne Begriffe wie Herrschaft und Ausbeutung aus.

Diesen Vorschlag, den Demokratiebegriff unter die Lupe zu nehmen, unterstützte ein anderer Diskussionsteilnehmer. Auch wenn man einräume, daß Demokratie immer unvollendet sei, setze man sie doch stillschweigend als Ideal voraus. Am Vortag habe Senator Scheele die Schuldenbremse als Beschlußlage eines demokratischen Prozesses bezeichnet und Gefolgschaft eingefordert. Sei das nicht konkrete Demokratie, mit der man sich näher befassen sollte?

Ellen Bareis vertrat die Auffassung, daß Rancière keine negative Bestimmung von Demokratie vornehme. Er bestimme den Moment der Demokratie in der Antike als jenen, in dem die, die keinen Anteil haben, in ihren Kämpfen den Gesellschaftsentwurf bestreiten, der sie ausschließt. So sei auch Dissens als Moment zu verstehen, in dem die, die nicht mitgedacht werden, eine Teilhabe zu ihren Bedingungen einfordern.

Wie an dieser Stelle noch einmal deutlich wurde, reicht die poststrukturalistische Denk- und Argumentationsweise Rancières nicht mehr an eine Gesellschaftsanalyse heran, die von Klassen ausgeht und eine vollständige Umwälzung dieses Verhältnisses in einem revolutionären Prozeß als einzig grundsätzliche Veränderung postuliert. Wenngleich Rancière Phänomene der Klassengesellschaft wie Ausschluß, Ausgrenzung und verweigerte Ressourcen präzise identifiziert, mündet die als Moment der Demokratie bewertete Forderung nach Teilhabe in den Konsens der Integration, also eine im günstigsten Fall modifizierte Fortschreibung der Herrschaftsverhältnisse.

Fabian Kessl warf die Frage auf, ob Soziale Arbeit Momente des Dissenses nur zulassen oder sie in irgendeiner Form auch mitdenken könne. Sie könne ja nicht selber eine Erhebung inszenieren, denn daß sie zur Speerspitze sozialer Aufstände werde, funktioniere überhaupt nicht. Dies wurde im Publikum mit zustimmendem Gelächter bedacht, als habe Kessl in der Tat eine völlig abstruse Vorstellung aus der Mottenkiste überkommener Hirngespinste als Lachnummer eingestreut. Diese Reaktion zeigte einmal mehr, wie fremd der Generation heute Studierender der früher erreichte Diskussionsstand geworden ist. Eine Teilnehmerin widersprach Kessl allerdings entschieden: Wolle Soziale Arbeit ihren politischen Anspruch ernst nehmen, müsse sie Teil des Aufstands werden.

Michael Winkler unterstützte jene Vorrednerinnen und Vorredner aus dem Publikum, die der These widersprochen hatten, daß Soziale Arbeit den Aufstand nicht initiieren könne. Aufstand und Widerstand müsse nicht immer etwas Großes sein. Es gebe in der jüngeren Geschichte wegweisende Momente wie den Jugendhilfetag 1971 in Nürnberg. Dort sei etwas losgebrochen, das die verkrusteten Strukturen der Jugendhilfe in einem Maße verändert habe, das man erst heute in vollem Umfang begreife.

Als befürchte sie angesichts eines gewissen Rumorens in Teilen des Publikums, sie habe mit ihrem Bezug auf die Aufstände in den Banlieues womöglich eine Weiche falsch gestellt, legte Ellen Bareis abschließend Wert auf die Klarstellung, daß ihr Alltagsbeispiel jener Rechte, die man nicht habe, aber in der Praxis dennoch ausübe, einen absolut demokratischen Dissens repräsentiere und nicht dahingehend mißverstanden werde dürfe, daß man nur noch die Revolte in den Blick nehme. So schloß denn angesichts der vorgerückten Zeit Fabian Kessl erleichtert mit den glättenden Worten, daß man die Aussage, wir seien alle Demokraten, noch einmal gründlich unter die Lupe nehmen müsse. Der Dissens spiele dabei eine große Rolle, da man sich wahrlich darüber streiten könne, was man meine, wenn man von Demokratie spreche.

Übergang zwischen HAW-Hauptgebäude und Mensa - Foto: © 2012 by Schattenblick

Brücke zwischen Kopf und Magen
Foto: © 2012 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
BERICHT/022: Quo vadis Sozialarbeit? - Für die Starken (SB)
BERICHT/023: Quo vadis Sozialarbeit? - Kopflast (SB)
BERICHT/024: Quo vadis Sozialarbeit? - Vorbild Freiheit (SB)
BERICHT/025: Quo vadis Sozialarbeit? - Solidarnotstand... (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)
INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)
INTERVIEW/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Flicken, halten und verlieren (SB)
INTERVIEW/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Heimkehr der Theorie (SB)

5. Januar 2013