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BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)


Emanzipatorisches Potential? Der Blick auf "das Soziale" macht blind



Impulsreferat des Pädagogen Michael Winkler auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit 2012

Von "Sozialer Arbeit" zu sprechen bedarf in einer von fundamentalen Widersprüchen geprägten Gesellschaft zweifellos einer grundsätzlichen Klärung der Begriffe. Ist Lohnarbeit, wie sie für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die einzige Quelle des Lebensunterhalts darstellt und bei deren Wegfall die Menschen um so mehr auf staatliche Leistungen angewiesen sind, schon für sich genommen untrennbar mit Zwang und Ausbeutung verbunden, so bedarf auch das Soziale einer kritischen Prüfung. Begrifflich zumeist positiv konnotiert und mit Eigenschaften assoziiert, die dem Zusammenleben förderlich sind, stellt sich angesichts eines weit vorangeschrittenen Vergesellschaftungsprozesses doch zwangsläufig die Frage, welche Interessenlagen auf dem Feld des Sozialen zusammenprallen und einer Regulierung unterworfen werden, deren Resultat offensichtlich nicht in einer Veränderung der Verhältnisse besteht.

Theoretiker und Praktiker der Sozialen Arbeit sehen sich daher mit der Widerspruchslage konfrontiert, den eigenen Anspruch an eine hilfreiche Tätigkeit und die Verbesserung der sozialen Verhältnisse mit dem gesellschaftlichen Auftrag zu kreuzen, Reibungsflächen zu glätten, Verelendung zu administrieren und Widerständigkeit zu befrieden. Schließen materielle Vergütung und soziale Anerkennung der eigenen Profession am Ende gar die Realisierung jener hoffnungsgetragenen Ziele aus, die man mit dem eigenen beruflichen Engagement verbindet? Oder anders gefragt: Wie müßte demgegenüber Soziale Arbeit beschaffen sein, der man ein emanzipatorisches Potential attestieren kann?

Beim Vortrag am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Michael Winkler
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem Bundeskongreß Soziale Arbeit wurde dem Thema "Armut als Herausforderung für den Wohltätigkeitsstaat" am Eröffnungstag das erste von insgesamt drei Impulsreferaten gewidmet [1]. Im Anschluß daran referierte Prof. Dr. Michael Winkler von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, wo er Allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik lehrt, über die Soziale Arbeit und stellte sein Referat unter den Titel "Dringende Erinnerung an ihr emanzipatorisches Potential". Prof. Winkler sprach zunächst über das in der Sozialen Arbeit und damit auch auf dem Kongreß auszumachende neue Selbstbewußtsein der Profession, die so auftreten müsse, weil die Probleme in der Gesellschaft so dramatisch seien, daß diese ohne professionelle Soziale Arbeit wohl tatsächlich nicht funktionieren würde. Haben wir, so sein Einwand, da nicht einmal mehr gefragt werde, ob wir ein solches Funktionieren wirklich möchten, die Kritische Theorie und jede Vorlesung Adornos zur Dialektik vergessen?

Winkler mahnte konstruktive Kritik bzw. Selbstkritik der Profession und der in ihr Tätigen an. Er stellte die Leitsätze des Kongresses zur Disposition, indem er fragte: Verteidigt die Soziale Arbeit tatsächlich die sozialen Rechte oder ist sie nicht doch ein billiger Helfer bei ihrem Abbau? Kritisiert sie wirklich soziale Ausgrenzungen oder trägt sie zu ihnen bei? All diese Fragen seien empirisch zu prüfen. Die vorliegenden Befunde, Bilder und Beobachtungen stimmten jedoch skeptisch, da sie nahelegten, daß die Klientel "unter der Devise von Sozialraumorientierung und Initiierung von Selbständigkeit in Lebenskatastrophen getrieben" und das Personal in den sozialen Einrichtungen ebenfalls "ausgegrenzt, schikaniert oder schlicht in den Wahnsinn" getrieben werde. Die dazu vorliegenden Erfahrungsberichte könnten, so Winkler, längst einen eigenen Kongreß füllen.

Wenn die Soziale Arbeit erfolgreich sei, hieße das nicht notwendigerweise, daß die sozialen Probleme gelöst seien. Im Gegenteil: Not und Elend seien angewachsen und hätten sich verselbständigt. Welcher Geist und welche Haltung verbergen sich in einer Sozialen Arbeit, die so funktional, effektiv und effizient geworden ist? fragte Winkler die Zuhörenden im gutgefüllten Audimax der Hamburger Uni. Immer wieder machte er deutlich, wie sehr ihn die Rede von "dem Sozialen" als einem durchgängigen Motiv störe, so als ob tatsächlich von einem für sich stehenden, festgewordenen Ganzen gesprochen werden könne. Er kritisierte, daß nur noch in Kategorien des Sozialen gedacht werde, wobei es ausschließlich um den statistischen Gesamtzusammenhang gehe und darum, wie die Gesellschaft als Ganzes voranzubringen sei. Niemand interessiere sich mehr dafür, welche Folgen dies für die einzelnen Menschen habe. Von "dem Sozialen" zu sprechen, ohne die Lebens- und Herrschaftsverhältnisse zu analysieren und zu differenzieren, offenbare, wie sehr Verhärtung, Versteinerung und Entfremdung bereits Einzug in die Gesellschaft gehalten hätten. Mit den Worten, der Blick auf "das Soziale" mache blind, faßte der Referent seine gleichermaßen gesellschafts- wie professionskritischen Ausführungen zusammen.

Nicht minder sprachgenau ging Winkler mit "dem" Ökonomischen und "dem" Politischen um, mit Begriffen also, die keineswegs so eindeutig und sicher seien, wie sie hier verwendet werden. Wenn pauschal von "der Politik" oder "der Ökonomie" die Rede sei, werde eine Wirklichkeit ignoriert, von der wir wüßten, daß sie sehr unterschiedlich sein könne. Die Unterscheidung zwischen "Politik" und "politisch" sei eingeführt worden, um derartigen Verfestigungen zu entgehen. Winkler sprach sich gegen die auf dem Kongreß und in dessen Programmatik erhobene Forderung nach einer Stärkung des Sozialen bzw. einer Politik des Sozialen aus:

Das Soziale wird machtvoller, die Politik eher schwächer. Das ist keine gute Nachricht, weil die Gestaltung von Gesellschaft zunehmend schwieriger wird gegenüber den Mächten, die in ihr selbst herrschen. (...) Einiges deutet darauf hin, daß aus d e m Sozialen heraus eine neue Form des Politischen entsteht, die hochgradig autoritär strukturiert ist, mit Demokratie und Gerechtigkeit wenig zu tun hat, sondern die Grenzsetzungen repräsentiert, welche eben in einer dann doch kapitalistisch strukturierten Gesellschaft vorherrschen.

Wie das aussehen könne, wenn aus dem Sozialen heraus Politik gestaltet werde, ließe sich am Beispiel einiger osteuropäischer Staaten studieren, die immer noch eine Laborfunktion hätten. Diese Entwicklung werde von etlichen Kommentatoren als eine Rückkehr zu diktatorischen, von einzelnen vorangetriebenen Politikformen interpretiert.

Der Referent bezeichnete die Profession Soziale Arbeit als eine "machtvolle Maschine", die das Soziale bearbeitet und auf die Politik Einfluß nehmen möchte. Dies komme in einer Haltung der Sachlichkeit, der Feststellung und Festschreibung zum Ausdruck. Allerdings sei hier Vorsicht geboten, da diese Beobachtung nicht für die Soziale Arbeit insgesamt und im Alltag nicht für jeden einzelnen Arbeitszusammenhang gelte. Indizien für diese Entwicklung gäbe es jedoch viele. So mögen sich die in diesem Bereich in Praxis und Forschung Tätigen einmal selbst fragen, wieweit sie die Sprache des Managements schon übernommen haben und von Innovationen und Steuerung, von Effektivität und Effizienz sprechen. Diese Entwicklung habe auch die empirische Forschung erfaßt, und so würden aus Feststellungen schnell Festschreibungen mit der Folge, daß nichts mehr hintergangen oder überwunden werden könne.

Referent beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Warnung vor der machtvollen Maschine ...
Foto: © 2012 by Schattenblick

In der Sozialen Arbeit gebe es eine Tendenz der Praktizierenden und Forschenden, das eigene Tun in einer zunehmend naturwissenschaftlich-technischen Sprache zu formulieren, was durch die Einführung neuer Studiengänge noch verstärkt wurde. In diesen werde nicht mehr "soziale Arbeit", sondern "social engineering" oder, schlimmer noch, nur noch ein Teilbereich gelehrt. Der Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Grundlagen werde dabei verwehrt, die so dringend gebotene Entwicklung und Einübung einer Kritikfähigkeit bleibe aus. Kritik aber, so Winklers Credo, sei absolut notwendig, gerade weil die Soziale Arbeit auf so seltsame Weise unausweichlich geworden zu sein scheine. Bezeichnenderweise könne die Profession eine Gesellschaft, in der sie selbst nicht mehr benötigt werde, schon gar nicht mehr denken.

Zwar sei in einer "Politik des Sozialen" die Möglichkeit der Utopie noch nicht vollständig entsorgt, doch warnte der Referent dringend davor, den gesellschaftlichen Veränderungen und Bestrebungen, die in dieser Formel ihren Ausdruck fänden, allzusehr zu vertrauen.

Wer die Politik des Sozialen fordert, muß im gleichen Atemzug nach den Mechanismen von Macht und Herrschaft fragen, muß sich der Frage stellen, ob nicht in d e r Gesellschaft, in dem eben beschworenen Sozialen Grausamkeit und Menschenverachtung eine Rolle spielen - und zwar im großen und ganzen wie im Detail der menschlichen Beziehungen. Mehr als das: Wer eine Politik des Sozialen verlangt, muß seinen eigenen Anteil an solchen gesellschaftlichen Machtprozessen und der Ausübung von Herrschaft kritisch prüfen.

Für fachdisziplinfremde Zuhörer war der an dieser Stelle spontan losbrechende Applaus aufschlußreich, wäre doch eher zu erwarten gewesen, daß Berufspraktiker und -theoretiker dem Hinweis auf ihre möglichen Beteiligungsinteressen ablehnend gegenüberstünden. Tatsächlich wirkte die Situation so, als hätte das professionelle Publikum mit großer Erleichterung darauf reagiert, daß endlich einmal jemand Klartext gesprochen und das für so viele Beteiligte extrem belastende Dilemma deutlich gemacht hat. Nicht von ungefähr sind gerade in den sozialen Berufen die Zahlen der vom sogenannten Burnout Betroffenen besonders hoch, da die von außen gestellten Anforderungen es für viele unmöglich machen, die mit diesem Berufsfeld einst verknüpften Vorstellungen und Ambitionen zu realisieren.

Winkler brach bei aller Kritik und Selbstkritik natürlich auch eine Lanze für die Soziale Arbeit, der er ein emanzipatorisches Potential zuerkannte, so die in ihr Tätigen sich weder dem Sozialen noch dem Politischen auslieferten und überantworteten, sondern nach Brüchen und Differenzen wie auch nach Optionen und Alternativen suchten und dabei stets berücksichtigten, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse auch völlig anders gestaltet und gelebt werden könnten. Wenn es den Menschen verwehrt werde, die praktische Lebendigkeit einer Gesellschaft aktiv in Anspruch zu nehmen und zu gestalten, sei es Aufgabe der Sozialen Arbeit, eine Politik zu betreiben, um den Menschen diese Macht zurückzugeben.

Winkler verwies auf den US-amerikanischen Ethnologen und Anarchisten David Graeber und dessen "Anarchistische Anthropologie" [2] und erklärte, das wäre ein schönes Thema für einen künftigen Kongreß der Sozialen Arbeit, auf dem sich dann, um diesen Gedanken weiter zuzuspitzen, auch die Frage diskutieren ließe, ob nicht Soziale Arbeit als Profession unter diesem Aspekt gänzlich überflüssig, wenn nicht sogar hinderlich wäre, weil der um Befreiung im persönlichen wie gesellschaftlichen Sinne streitende Mensch zwar nach Weggefährten, jedoch nicht nach Ratgebern, welche Sachkunde sie auch immer für sich reklamierten, verlange.

Wenn sich die Soziale Arbeit heute als eine Erfolgsgeschichte präsentiere, scheine, so Winkler, in Vergessenheit geraten zu sein, "für wen wir dieses Geschäft eigentlich betreiben". Das doppelte Mandat beinhalte zwar auch die gesellschaftlichen Anforderungen, denen zufolge die Menschen durch die Soziale Arbeit dazu bestimmt werden sollen, möglichst reibungslos und unauffällig zu funktionieren, doch habe dieser Aspekt ein deutliches Übergewicht gewonnen, dem es entgegenzutreten gelte. Der Referent sprach sich insofern für eine Rückbesinnung auf alte Werte, um nicht zu sagen Versprechungen und Verheißungen der Sozialen Arbeit aus, der - dieses Wortspiel sei erlaubt - die Fälle endgültig wegzuschwimmen drohen, wenn Betroffene in ihr (nur noch) den verlängerten Arm einer Staatsgewalt sehen, die sie mit rigorosen Mitteln und Methoden in ein System der Armutsverwaltung zwängt und die zu potentiellen Störenfrieden erklärten Menschen präventiv unter Kontrolle nimmt.

Es genüge nicht, so der Referent, kritisch nach Macht und Herrschaft auch in der Sozialen Arbeit zu fragen. Die Profession sollte die menschlichen Subjekte als ihre Adressaten nicht in den Blick, sondern aus ihm nehmen, sie nicht kategorisieren und subsumieren, sondern als Fälle wahrnehmen, die für sich sprechen können, die sich gegen das Soziale wehren und denen Macht, Kraft und Autonomie zukommt - mit einem Wort: als Fälle von "Freiheit", einem Begriff übrigens, der bezeichnenderweise in den Diskussionen um Bildung und Soziale Arbeit nicht mehr vorkomme.

[Soziale Arbeit] hat aber vor allem eines gelernt: Sie kann darauf verzichten, als Soziale Arbeit Menschen bestimmen und beeinflussen zu wollen, so unbequem dies sein mag. Vielleicht liegt zuweilen wenigstens genau darin ihr emanzipatorisches Potential.

Wie diese abschließenden Worte Winklers unterstrichen, postulierte er mit seiner Warnung, Soziale Arbeit drohe aufgrund einer Teilhaberschaft mit den herrschenden Verhältnissen endgültig zu einem Instrument effektiver Menschenbeherrschung zu werden, keine unwiderrufliche Entwicklung. Ihm lag vielmehr daran, die Thematik des Kongresses auch in ihren Voraussetzungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und so einer fruchtbaren Diskussion, die vor Widerspruchslagen nicht zurückschreckt, sondern darin Position bezieht, das Feld zu eröffnen.


Fußnoten:
[1] Auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September 2012 in Hamburg stattfand, hielt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Butterwegge zu diesem Thema ein vielbeachtetes Referat.
Siehe Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0014.html
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0007.html

[2] Der 1961 geborene Anthropologe, Ethnologe und Anarchist David Graeber ist als sozialer und politischer Aktivist bekannt geworden. 2002 nahm er an den Protesten gegen das Weltwirtschaftsforum in New York teil. Graeber lehrt Ethnologie am Goldsmiths College der University of London und hat unter anderem "Fragments of an Anarchist Anthropology (zu deutsch Fragmente einer anarchistischen Anthropologie) herausgegeben. In einigen Medien wird er bereits als "intellektueller Superstar" der Occupy-Bewegung bezeichnet.

Gut gefüllte Ränge im Audimax - Foto: © 2012 by Schattenblick

Feld einer fruchtbaren Diskussion eröffnet
Foto: © 2012 by Schattenblick

26. Oktober 2012