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INTERVIEW/002: Technik, Mensch und Selbstbestimmung - Kathrin Ganz (SB)


Interview mit Kathrin Ganz am 23. März 2012 auf der Tagung "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien" an der TU Hamburg-Harburg



Kathrin Ganz ist Betreiberin der Website www.iheartdigitallife.de und promoviert zur Zeit mit Förderung der Hans-Böckler Stiftung an der TU Hamburg-Harburg, Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik, zum Themenkomplex Netzpolitik, Bewegung, Intersektionalität und Hegemonie. Am 23./24. März 2012 nahm sie an einer gemeinsamen Frühjahrstagung der Sektion "Wissenschafts- und Technikforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), des Arbeitskreises "Politik, Wissenschaft und Technik" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und der Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik der TU Hamburg-Harburg (TUHH) teil. Im Anschluß an ihren Vortrag, der sich an eine Twitter-Meldung des Berliner Softwareentwickler Max Winde anlehnt und den Titel "'Ihr werdet euch noch wünschen wir wären Politikverdrossen' - Die 'Netzgemeinde' als Soziale Bewegung und hegemoniales Projekt" trägt, den sie im Panel II unter dem Titel "Technologien in/als Hegemoniebildung" hielt, sprach der Schattenblick mit der Referentin.

Referentin und Redakteur, stehend   - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kathrin Ganz im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Dein Vortrag handelte von der Netzbewegung als soziale Bewegung. Zählt für dich das Mobilisierungs-Netzwerk Avaaz [1] auch dazu?

Kathrin Ganz: Nein, das zähle ich nicht dazu. Bei mir geht es um Netzbewegung, und Avaaz ist eher eine Art Dienstleister für alle möglichen sozialen Bewegungen. Man kann sich an Avaaz wenden, und wenn es ihnen aussichtsreich erscheint, zu einem bestimmten Thema zu mobilisieren, machen sie das - wobei sie natürlich nicht alles machen würden. So etwas kann funktionieren, wenn entweder das Thema, um das es geht, zumindest skandalisiert ist und es sowieso zündet oder wenn es sich auf schon bestehende Bewegungen stützt - wie zum Beispiel bei der Atomenergie. Für sich alleine stehend ist Avaaz eigentlich relativ unbrauchbar. Das erlebe ich auch bei mir selbst - ich unterschreibe doch nicht dreimal die Woche irgendeine Petition, weil ich mich gerade total aktivieren lasse von so einer Kampagne.

SB: Avaaz mobilisiert zur Zeit auch gegen die Regierung Syriens. Da könnte der Eindruck aufkommen, als ob dadurch das vorherrschende Interventionsinteresse des Westens gefördert würde. Könntest du dir vorstellen, daß damit die Netzkultur, bzw. die Möglichkeit einer Netzmobilisierung sogar beeinträchtigt wird?

KG: Das ist schwer zu sagen, aber ich habe schon den Eindruck, daß das Netz immer als schnelle Lösung angesehen wird. Dabei gibt es doch gerade im Komplex von Syrien Aktivist_innen, die von hier aus versuchen, direkt vor Ort durch das Bereitstellen von technischer Infrastruktur oder Netzzugängen und Kommunikationsmöglichkeiten einzuwirken. Wenn da wirklich Leute vor Ort was machen, finde ich das dann sehr viel sinnvoller, als die nächste große Petition mit 300.000 Unterschriften abzugeben.

SB: Du sprachst in deinem Vortrag die Demonstrationen gegen ACTA [2] an. Wie kommt es, daß dagegen allein in Deutschland plötzlich über 100.000 Menschen auf die Straße gehen? Was macht die Gemeinsamkeit der Netzbewegung aus?

KG: Ich würde sagen, daß die Gemeinsamkeit eigentlich darin besteht, das Internet als einen Teil von Alltag, von Lebensrealität und auch als ein Zuhause zu empfinden. Und die Welt da draußen dann eher als einen nicht-kompatiblen Störfaktor - je nachdem, um was es dann geht. In diesem Fall ACTA, das ja das Urheberrecht betrifft. Zumindest der Teil, den die Netzbewegung daran kritisiert, da gibt es ja noch andere Komponenten. Es geht dann tatsächlich um Fragen wie die der Kopierbarkeit: Warum dürfen wir nicht das tun, was wir den ganzen Tag tun? Ich glaube, was die Netzbewegung eint, ist dieses sehr gute Verstehen von der Technik, das sich dann "da draußen" gemeinsam wiederfindet. Aber es ist noch schwierig, das auf eine Formel zu bringen.

SB: Eine Forderung der Netzbewegung lautet "freier Zugang zu Informationen". Ist nicht der Begriff der Information bereits problematisch, weil so getan wird, als sei er neutral? Anders gefragt: Geht es der Bewegung um beliebige Informationen?

KG: Das ist immer eine Frage, die ich spannend finde. Im amerikanischen Diskurs sind Nazi-Seiten und Holocaust-Leugnung unter freier Meinungsäußerung mit dabei. Von uns aus gesehen ist das auf jeden Fall für die meisten Leute das "No-go". Eine andere Debatte dreht sich um Kinderpornographie. Da könnte man ja auch sagen, das sei eine Information, die müsse frei sein. Es ist sehr umstritten, wie weit der Freiheitsbegriff geht, also ob zum Beispiel darunter eine so radikale amerikanische Meinungs- und Redefreiheit fällt oder nicht. Und dann besteht auch die Frage der technischen Lösungen, in die das eingegossen wird. Ich fand das ganz spannend, als Twitter einmal verkündet hat, daß sie jetzt die nationalen Meinungsfreiheitsregime aufnehmen wollen. Aber da könnte ich sozusagen sagen, ich habe zwar gerade eine deutsche IP [3], bin aber eigentlich Amerikanerin und dann darf ich den Tweet [4] mit der Holocaust-Leugnung doch lesen. Es gibt keine globalen Standards.

SB: Würdest du sagen, daß die Einschränkung des freien Netzzugangs die Vorstellung eines unmündigen Menschen voraussetzt?

KG: Ich denke, daß die meisten in der Netzbewegung das so sehen. Die Forderung nach einem freien Fluß von Informationen und nach Zugang zu Bildung enthält auf jeden Fall ein aufklärerisches Ideal. Das betrifft auch die erweiterte Form von Freiheit und gesellschaftlicher Teilhabe.

SB: Richtet sich die Offensive der heutigen Netzbewegung, von der du in deinem Vortrag sprachst, nur gegen etwas oder auch für etwas? Gibt es vielleicht eine gemeinsame Vision, worauf die Netzbewegung hinauswill?

KG: Beispielsweise freier Zugang zu Information und Ideen von open government [5] und open data [6]. Und was ich immer sehr spannend finde, daß sich die Piratenpartei, die ja gar nicht so links ist, sondern eher liberal, für das Bedingungslose Grundeinkommen ausspricht. Mit der Begründung: Weil es im Netz so gut funktioniert und es auch da nichts kostet teilzunehmen - idealisiert betrachtet -, sollte diese Idee einer Gesellschaft als Plattform verallgemeinert werden. Das ist etwas, das positiv gefordert wird.

SB: Du hattest in deinem Vortrag vom Chaos Computer Club und Frank Rieger gesprochen, der in etwa gesagt hat: "Nach 9/11 ist alles vorbei, jetzt kommt der Sicherheitsstaat." Heißt das, er akzeptiert das?

KG: Das ist eine gute Frage, ich glaube, bei Frank Rieger und bei Teilen des Chaos Computer Clubs - wobei schon die Frage besteht, ob sich das nicht auch wandelt - herrscht meiner Meinung nach ein relativ geschlossenes Weltbild vor. Wo klar ist, wer die Macht hat, wer welche Interessen hat und um was es letztlich geht. Ich finde das als kritische Perspektive nicht unbedingt überzeugend. Das ist natürlich eine extreme Expertise, wenn Rieger, der ja über ein großes Detailwissen verfügt, so etwas sagt. Aber als gesellschaftliches Gesamtkonzept finde ich das persönlich nicht so überzeugend.

SB: Der Chaos Computer Club erfüllt ja manchmal quasi-behördliche Funktionen, indem er sagt, der Sicherheitsstaat hat da und da Lücken, wir haben euren Personalausweis geknackt oder ähnliches. Und dann kommen die Sicherheitsbehörden und verbessern das. Wie schätzt du das ein, erfüllt der Chaos Computer Club zumindest in diesen Punkten dann sicherheitsstaatliche Funktionen?

KG: Das kann man meiner Meinung nach nicht eindeutig sagen. Letztlich würden sie den Sicherheitsstaat am liebsten eher gestern als heute abgeschafft sehen und gerade auch diese Freiheitsideen, von denen ich sprach, durchsetzen. Aber tatsächlich übernehmen sie eine Expertenfunktion. Das hat sich zwar in den letzten Jahren verstärkt, war aber eigentlich von Anfang an so. Als der Chaos Computer Club in den achtziger Jahren mit dem Haspa-Ding [7] bekannt wurde, war das auch schon umstritten. Er ist halt keine radikale Opposition zum System.

SB: Ich bedanke mich recht herzlich für das Gespräch.


Fußnoten:

[1]‍ ‍Avaaz ist ein den US-Demokraten nahestehendes, weltweites Kampagnen-Netzwerk, das mit Bürgerstimmen politische Entscheidungen zu beeinflussen versucht.

[2]‍ ‍ACTA steht für das geplante plurilaterale Handelsabkommen Anti-Counterfeiting Trade Agreement, mit dem unter anderem sogenannte Produktpiraterie bekämpft werden soll. Die Kampagne "Stopp ACTA" hatte am 11. Februar 2012 zu weltweiten Demonstrationen aufgerufen, was in Deutschland und anderen Ländern auf eine überraschend große Resonanz stieß.

[3]‍ ‍IP - Internet-Protokoll. Meist wird IP für "IP-Adresse" verwendet, womit Adressen im Internet gemeint sind.

[4]‍ ‍Tweet - (von engl. to tweet - zwitschern) Bei einem Tweet handelt es sich um eine über die Kommunikationsplattform Twitter versendete Kurznachricht.

[5]‍ ‍Open government - wörtlich: offene Regierung. Gemeint ist hier mehr Transparenz von Regierung und Verwaltung gegenüber der Bevölkerung.

[6]‍ ‍Open data - freier Zugang zu Informationen der Regierung und Verwaltung.

[7]‍ ‍Am 19. November 1984 wurde der Chaos Computer Club (CCC) der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt, nachdem er ein von der Bundespost als sicher bezeichnetes System geknackt, sich des Passworts der Hamburger Sparkasse (Haspa) bemächtigt und als vermeintlicher Haspa-Benutzer wiederholt eine kostenpflichtige Seite des CCC abgerufen hat. Innerhalb einer Nacht summierten sich die Verbindlichkeiten der Sparkasse beim Club auf fast 135.000 DM.

TU Hamburg-Harburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Technische Universität läßt auch zu sozialen Netzen forschen Foto: © 2012 by Schattenblick

9.‍ ‍April 2012