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INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)


Sozialarbeit als Erfüllungsgehilfin von Umverteilungsprozessen

Interview mit Ralf Helling von der Lenzsiedlung e.V. in Hamburg-Eimsbüttel am Rande des Bundeskongresses Soziale Arbeit am 13. September 2012


Protestplakat 'Freiwilligkeit parteilich offen - 90% sind 10% zu wenig' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hamburgs Offene Kinder- und Jugendarbeit in Gefahr
Foto: © 2012 by Schattenblick

Am 13. September 2012 sprach der Hamburger Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Detlef Scheele (SPD), auf der Eröffnungsveranstaltung des diesjährigen Bundeskongresses Soziale Arbeit [1]. Da der Hamburger Senat ab dem kommenden Jahr Kürzungen in Höhe von 3,5 Millionen Euro in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beschlossen hat, wodurch dieser Bereich sozialer Arbeit eingeschränkt und gefährdet und etliche Einrichtungen von der Schließung bedroht sind, haben betroffene Sozialarbeitende im Hamburger Audimax anläßlich des Kongreßauftritts des Senators ihren Protest deutlich gemacht.

Ralf Helling vom Hamburger Verein Lenzsiedlung [2] erklärte sich im Anschluß an die Eröffnungsveranstaltung bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu den Beweg- und Hintergründen dieser Aktion zu beantworten.

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Schattenblick: Sie waren eben in der Eröffnungsveranstaltung des Kongresses und haben Ihren Protest deutlich gemacht. Worum geht es Ihnen?

Ralf Helling: Wir richten uns gegen das, was hier in Hamburg im Moment in der Sozialarbeit und insbesondere in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit passiert, nämlich, daß der offene Zugang, der notwendigerweise für Kinder und Jugendliche vorhanden sein muß, zunehmend unter Druck gerät. Das geschieht zum Beispiel durch Schulkooperationen und ein Programm, das SHA heißt, was für "Sozialräumliche Hilfen und Angebote" steht. Um es kurz zu machen: Dieses Programm wurde aufgelegt, um größere Kosten im Bereich "Hilfe zur Erziehung" (HzE), der einen höheren Dokumentationsaufwand erfordert, zu vermeiden. Das bedeutet, daß die Niedrigschwelligkeit und Offenheit der Angebote und ihre solidarische Ausrichtung geopfert werden. Wenn es also darum geht, 3,5 Millionen Euro in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wegzustreichen, dann zielt das genau auf diese Arbeit. Das hat für viele Kinder und Jugendliche, für die wir verantwortlich sind, Konsequenzen.

Ich arbeite für einen Verein, der Lenzsiedlung e.V. heißt. Wir betreiben ein Bürgerhaus, in dem wir Offene Kinder- und Jugendarbeit machen. Wir sind zuständig für ein Einzugsgebiet mit 3000 Menschen, die zu ungefähr 70 Prozent einen migrantischen Hintergrund haben und im Vergleich zu Hamburg einen überproportional hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen bis zu 18 Jahren mit einem niedrigen Sozialstatus. Ungefähr 30 Prozent von ihnen leben von Transferleistungen wie Hartz-IV oder ähnlichem. Es ist ein sozial sehr schwaches Gebiet, wo schon viel unternommen worden ist und auch weiterhin unternommen werden muß, um den Zugang zu diesen Menschen nicht zu verlieren und ihnen weiterhin Angebote machen zu können. Das geht nur mit Leuten, die das auch wirklich machen. Es lebt von dieser Beziehungsarbeit und einem solidarischen, sehr niedrigschwelligen Zugang. Wenn der aber gekappt wird, möchte ich bezweifeln, daß diese Menschen - in dem Fall die Kinder und Jugendlichen - überhaupt noch erreichbar sein werden.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Ralf Helling vom Hamburger Verein Lenzsiedlung
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie haben die aktuellen finanziellen Probleme infolge der bevorstehenden Kürzungen bereits angesprochen. Ich könnte mir vorstellen, daß es bei Ihnen in der Sozialarbeit noch sehr viel mehr gibt, wo Sie der Schuh drückt.

RH: Im Grunde genommen hängen wir an dem Thema Schuldenbremse. Die Argumentation geht dahin zu behaupten: Das ist jetzt eine Notwendigkeit, weitere Gelder einzusparen. Ich möchte das anzweifeln. Die politischen Entwicklungen der letzten 20, 30 Jahre haben doch deutlich gemacht, daß die Reichen und die Unternehmen entlastet worden sind von der Vermögenssteuer und ähnlichem. Ihre Verluste werden vergesellschaftet über die Steuern oder sonstige Mechanismen. Die normalen Bürger werden da in die Verantwortung, sozusagen in Regreß genommen. Das erleben wir jetzt sehr zugespitzt in der Finanz- oder Euro-Krise, nämlich, daß weiterhin die reichsten Unternehmen und Menschen davon profitieren, während die übrigen arm werden.

Das ist ein Mechanismus, den man meiner Meinung nach sehr deutlich ins Feld führen muß. Ich sage das deswegen, weil wir genau davon betroffen sind. Es wird "gespart" im sozialen Bereich, also nicht nur im Gesundheits- oder sonstigen reproduktiven Bereichen. Dadurch werden Menschen abgeschnitten und an den Rand gedrängt. Im Moment stellt es sich doch so dar, daß wir von der Politik benutzt werden, um uns von den Menschen zu entsolidarisieren. Das halte ich nicht nur für unseren Verein oder den sozialen Bereich, sondern für die Gesellschaft im Ganzen für äußerst gefährlich. Denn wenn diese Entsolidarisierungsprozesse zunehmen, wird es irgendwann wirklich sehr schwierig werden. Es wird krachen! Was dann geschieht, entspricht in keiner Weise mehr dem Menschenbild der sozialen Arbeit.

SB: Wenn Sie einmal daran zurückdenken, mit welchen Zielen und Absichten Sie diesen Beruf ergriffen haben und jetzt so eine Art Zwischenresümee ziehen wollten, wie würde das ausfallen?

RH: Nüchtern betrachtet können wir uns in diesen Tagen im Grunde genommen nur als Erfüllungsgehilfen von Umverteilungsprozessen begreifen, durch die immer mehr Menschen arm und Arme noch ärmer werden, die aber reiche Leute noch reicher machen. Je schneller wir bei der Arbeitsverdichtung sind, die das mit sich bringt, und je mehr es uns gelingt, den Laden aufrechtzuhalten und weiterhin für die Menschen dazusein, desto schneller erfüllen wir die Ambitionen der Sozialpolitik, wie sie hier in Hamburg derzeit ausgerichtet ist.

SB: Das könnte die im sozialen Bereich tätigen Menschen in einen Konflikt mit der eigenen beruflichen Situation bringen. Der sogenannte "Burnout" betrifft gerade auch die helfenden und sozialen Berufe. Sind Sie in Ihrem beruflichen Umfeld schon mit diesem Problem konfrontiert worden?

RH: Ja, durchaus. Es ist ja bekannt, daß besonders die Menschen im Gesundheits- oder Sozialsystem unglaublich leidensfähig sind, allerdings eher in negativer Hinsicht. Sie halten wirklich sehr, sehr lange still, bevor sie sich rühren und den Mund aufmachen, um sich gegen Entwicklungen zu wehren, die sich in letzter Konsequenz gegen den Menschen richten. Vor kurzem ist eine Studie herausgekommen, die ganz klar belegt, daß es in den allermeisten Berufsgruppen in den letzten Jahren rückläufige Krankenstände gegeben hat, aber im Sozial- und Gesundheitssytem ist genau das Gegenteil der Fall. Da gibt es mehr Krankmeldungen und Ausfälle. Das ist eine Entwicklung, die wirklich als sehr kritisch zu bewerten ist auch im gesellschaftlichen Kontext, und zwar nicht nur national, sondern, wie ich finde, auch international.

SB: Sie haben die Entsolidarisierung angesprochen, die die Berufstätigen im sozialen Bereich ebenso betrifft wie die "Klientel". Könnte nicht eine Solidarisierung gerade da vorangebracht werden, wo Menschen in der Sozialen Arbeit die Unterscheidung machen und sagen "ich helfe einem anderen", obwohl sie eigentlich selbst in einer Lage sind zu sagen: "Ich komme nicht zurecht, es gibt Schwierigkeiten, die mir über den Kopf wachsen"?

RH: Wenn man dieser ganzen Entwicklung etwas Positives abgewinnen will, dann ist es vielleicht genau das, daß durch die eigenen Lebensrisiken, die jeder, der ein mittleres oder vielleicht ein etwas geringeres Einkommen hat, im Alltag spüren kann, daß diese Unterschiede und sozialen Stati, die es gibt zwischen Helfenden und Hilfeempfängern, zusehends erodieren und geringer werden. Da ergeben sich gewissermaßen Solidarisierungsprozesse, weil man zusehends in die Lage gerät, durchaus am eigenen Leibe und in der eigenen Lebenssituation zu spüren, selbst betroffen sein zu können. Es gibt im Bereich der Sozialhelfenden wie auch im Gesundheitsbereich immer mehr Leute, die "working poor" betreiben, sprich: die selbst bei einer Vollzeitstelle ihre Familien nicht ernähren können, noch weitere Jobs hier und da machen müssen und trotzdem einfach nicht auskommen.

SB: Ich möchte das Rad der Zeit einmal kurz zurückdrehen bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die soziale Marktwirtschaft und damit auch das Soziale hoch im Kurs standen. Das Selbstverständnis der Sozialarbeit bestand im Kern darin, Menschen, denen es nicht gut geht, stärker zu machen, damit sie sich wehren können gegen widrige gesellschaftliche Verhältnisse. Wenn man nach so langer Zeit nun ein Resümee ziehen wollte, könnte dieser Eigenanspruch als widerlegt gelten?

RH: Ich würde von diesem Anspruch generell nicht ablassen wollen. Wobei man bei der Unterscheidung zwischem den Helfern und denjenigen, denen geholfen wird, ein bißchen differenzieren muß, weil gerade die in diesem Bereich arbeitenden Menschen dieses Verhältnis generell als ein gleichwertiges begreifen. Die sogenannten Adressaten haben absolut die gleichen Rechte und einen Anspruch darauf, sich selbsttätig in die Richtung zu entwickeln, in die sie selbst wollen. Von diesem Anspruch würde ich nicht abrücken wollen, und da gilt es meiner Meinung nach, weiterhin für die Menschen zu kämpfen. Ich glaube aber, daß es etwas ganz anderes ist, was da jetzt so massiv zum Ausdruck kommt. Das sind meiner Meinung nach wirtschaftlich begründete Handlungslogiken, die an den Menschen völlig vorbeigehen. Ich glaube, daß es in der Politik im Grunde genommen darum geht, als Durchsetzungsgehilfe für finanziell- wirtschaftliche Interessen eines bestimmten Systems zu dienen, das als gottgegeben hingestellt wird und nachdem man sich zu richten hat.

SB: Sie haben vorhin den internationalen Zusammenhang angesprochen, in dem Ihrer Meinung nach die aktuelle Entwicklung steht. Nun ist die soziale Lage in Griechenland und Spanien schon wesentlich schlimmer als in Deutschland. Gleichwohl ist zu vermuten, daß sich die Lage - vielleicht mit einem gewissen Zeitverzug - auch hierzulande entsprechend zuspitzen könnte. Ist in einer Situation, in der es für viele Menschen ums pure Überleben geht und Hungeraufstände vielleicht gar nicht mehr so fern sind, die Idee der Sozialarbeit überflüssig oder gar hinfällig geworden?

RH: Natürlich ist es so, daß es erst einmal ums Essen und Trinken und ein Dach über dem Kopf geht. Da kann man nicht mit irgendwelchen hochtrabenden politischen Ansprüche kommen. Wenn man einen Beruf im sozialen Bereich gewählt hat und sich da engagiert, kann das letztlich nur bedeuten, daß man von dem Anspruch, pädagogisch hilfreich zu sein, wegkommt und mehr Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit macht zu dem, was da eigentlich im Busche ist. Da kann man sich dann solidarisieren und in Aktion treten.

SB: Sie haben hier im Audimax den Auftritt des Senators kritisch begleitet. Wie ist Ihre Haltung oder Erwartung gegenüber dem gesamten Kongreß?

RH: Ich habe das Programm grob durchgeblättert. Aus meiner Sicht werden da wirklich relevante Themen in den Vorträgen und Workshops aufgegriffen. Ich glaube, daß da generell auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zustand der sozialen Arbeit, so wie sie sich darstellt bzw. mit der sich abzeichnenden Entwicklung erfolgen wird. Wie Timm Kunstreich [3] in seiner Einführung schon kurz erwähnte, geht es bei der Veränderung des Verhaltens einzelner Menschen um eine Individualisierung von Problemlagen, die gesellschaftlich verursacht sind, dabei müßte es viel mehr um die Frage gehen, ob diese Verhältnisse nicht generell verändert werden müssen.

SB: Gibt es darüber hinaus noch etwas, was Ihnen für ein Schlußwort einfiele?

RH: Ich würde sagen, daß wir uns bei aller negativen Entwicklung, so wie sie ist, nicht entmutigen lassen, sondern sie zum Anlaß nehmen sollten, unsere Überforderungsgefühle, unsere Wut und dergleichen mehr zu kanalisieren und auf die Straße zu tragen.

SB: Vielen Dank, Herr Helling, für dieses Gespräch.

Gruppe protestierender Sozialarbeitender im Audimax - Foto: © 2012 by Schattenblick

Öffentlichkeitswirksame Proteste gegen Sozialkürzungen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] Siehe Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0015.html

[2] Lenzsiedlung e.V., Verein für Kinder, Jugend und Gemeinwesen, in Hamburg-Eimsbüttel,
www.lenzsiedlungev.de

[3] Prof. Dr. Timm Kunstreich von der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg war an der Organisation des gesamten Kongresses wie auch der Moderation der Eröffnungsveranstaltung beteiligt.

3. Oktober 2012