Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

INTERVIEW/014: Rezepte, Markt und Therapie - Fettbergrezeptionen (SB)


Adipositas - Kinder und Jugendliche im Fokus der Bezichtigung

Gespräch mit Petra Warschburger am 21. September 2012 in Berlin

Die Diplom-Psychologin Prof. Dr. Petra Warschburger ist Leiterin der Abteilung Beratungspsychologie an der Universität Potsdam und des Patienten-Trainings- und Beratungszentrums (PTZ). Ihr Forschungsbereich umfaßt chronische Krankheiten im Kindes- und Jugendalter, Patientenschulung, Krankheitsbewältigung sowie Eß- und Gewichtstörungen.

Bei einer Pressekonferenz des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen zum Thema "Vernachlässigtes Potential - Die Psychologie und die Volkskrankheiten", die am 21. September 2012 im Haus der Psychologie in Berlin stattfand, hielt Petra Warschburger eines der vier Kurzreferate. Wie sie betonte, seien neben den medizinischen mit Adipositas zusammenhängenden Risikofaktoren auch die weitreichenden psychosozialen Konsequenzen zu beachten. Der Einbezug psychologischen Wissens in Prävention und Therapie der Adipositas sei unverzichtbar, gerade wenn es um nachhaltige Erfolge geht. Nach dem Pressegespräch beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Am Tisch sitzend - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Petra Warschburger
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Adipositas wird nicht nur als eine von vielen Volkskrankheiten, sondern als die Volkskrankheit überhaupt angesehen.

Wie stellt sich das historisch dar? Sie hatten in Ihrem Vortrag von einem Anstieg in der jüngeren Vergangenheit gesprochen. Hat sich möglicherweise vor allem die gesellschaftliche Wahrnehmung dieses Problems geändert?

Petra Warschburger: Natürlich hat eine gesellschaftliche oder historische Verschiebung dessen stattgefunden, was wir heute Übergewicht und Adipositas nennen. In der frühen Renaissance, vor allem wenn man sich die Bilder von Rubens anschaut, bestand das Schönheitsideal eher darin, eine leicht übergewichtige Figur zu haben.

Man muß diese Dinge sicherlich auch vor dem Hintergrund betrachten, daß es in jenen Zeiten eher einen Mangel als einen Überfluß an Nahrung gab. Heute leben wir dagegen in einer Überflußgesellschaft. Schon das stellt eine Veränderung dar. Der Anstieg, von dem ich sprach, vollzog sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten. So können wir im Bereich der Kinder relativ verläßlich bis zum Jahr 2005 einen Anstieg von Übergewichtsproblemen, und zwar mit gleichen Kriterien gemessen, feststellen. Das ist ganz wichtig, um Verschiebungen und Tendenzen bestimmen zu können. Seitdem hat sich das so ein bißchen nivelliert.

Das heißt, wir bleiben auf einem hohen Niveau stehen. Aber in der Tat, wenn wir das Mittelalter als Vergleich nehmen, war das Übergewicht damals eher ein Zeichen dafür, daß die Familie sich gut über Wasser halten konnte und es ihr wirtschaftlich gut ging. Das war eigentlich etwas Positives, während heutzutage Adipositas in unserer Gesellschaft mit negativen Dingen konnotiert ist.

SB: Deutschland nimmt hierbei im europäischen Raum im negativen Sinne die Spitzenrolle ein. Könnte man dies an das Wohlstandsniveau koppeln, oder gibt es noch andere Gründe?

PW: Die Entstehung als auch die Aufrechterhaltung von Adipositas sind wirklich sehr komplex. Ob das wirklich etwas mit Wohlstand zu tun hat, ist fraglich. Wenn man sich die Wohlstands-Indizes anschaut, dann müßten eigentlich auch andere Länder ganz weit vorne stehen wie zum Beispiel die Schweiz. Ich denke, das wäre zu kurz gedacht. Sicherlich finden wir Adipositas nur in Industrieländern als relevantes Gesundheitsproblem. Wir finden es aber auch in Ländern, denen es wirtschaftlich besser geht wie zum Beispiel in China, das einen ganz starken Anstieg verzeichnet.

Aber jetzt nur den Wohlstandsfaktor heranzuziehen, wird der Problematik nicht gerecht. Auch andere Dinge spielen dabei eine Rolle wie Bewegungsangebote oder das Ernährungsmuster, die vielleicht auch einen kulturellen Einfluß ausüben. Im Erwachsenenbereich nimmt Deutschland eine traurige Spitzenposition ein, im Kindes- und Jugendalter liegen England und Südeuropa vorn.

SB: Es gibt, wie Sie auch angedeutet haben, eine enge Verschränkung von somatischen und psychischen Ursachen. Kommt es als Folge der verschiedenen Bereiche von Therapie und Prävention zu einer berufsständischen Konkurrenz oder überwiegt zumindest auf der unteren Ebene eher eine sachbezogene Zusammenarbeit?

PW: Wenn sich Teams zusammengefunden haben, wollen sie auch etwas verändern. Ich arbeite sehr stark im Kinder- und Jugendbereich und würde schon sagen, daß dies eine Modellfunktion für die Versorgung chronischer Erkrankungen wie Adipositas haben könnte. Alle, die in diesem Bereich arbeiten, sind sich darüber einig, daß man interdisziplinär vorgehen und die verschiedene Professionen mit ihrem jeweiligen Fachwissen mit ins Boot nehmen müßte. Anders sieht die Situation meines Erachtens im Erwachsenenbereich aus, wo man der Entwicklung ein wenig hinterherhinkt, quasi noch in den Kinderschuhen steckt. Im pädiatrischen Bereich ist man dagegen schon der Meinung, daß eine Zusammenarbeit zweckdienlich und nötig ist. Für die Familien besteht das Problem allerdings darin, daß eine Therapie häufig nicht von den Krankenkassen finanziert wird, weil sie im ersten Moment teurer erscheint, langfristig aber erfolgreicher ist. So müssen die Eltern zusehen, wie sie es finanziert bekommen. Aber ich würde schon sagen, daß auf der Ebene der therapeutischen Versorgung, sobald sich die Teams einmal gefunden haben, die Meinung einhellig ist, daß alle an einem Strang ziehen müssen.

SB: War es eine gezielte Entscheidung von Ihnen, in diesem Bereich zu arbeiten?

PW: Nein, es war keine gezielte Entscheidung. Ich habe mich zunächst mit chronischen Erkrankungen wie Neurodermitis und Asthma beschäftigt.

Durch Zufall stieß ich dann auf ein Projekt und bin für den Bereich Adipositas miteingestiegen. Seitdem befasse ich mich mit Eßstörungen.

Ich mache es schon relativ lange.

SB: Ist der Bereich der Anorexie aus Ihrer Sicht auch ein Teil des Problemkomplexes und worin besteht der Unterschied zur Adipositas?

PW: Anorexie ist eine psychische Erkrankung. Sie wird deshalb als solche betrachtet, weil wir psychische Faktoren als ursächlich für die Entstehung ansehen. Das würden wir bei Adipositas in diesem Sinne nicht sagen. Adipositas wird in Deutschland zwar nicht offiziell als Erkrankung brachtet, sondern als ein schlechter Lebensstil. Von der WHO wird sie allerdings definitiv als chronische Erkrankung geführt.

Ich würde sie wie jede Erkrankung in den biopsychosozialen Bereich miteinordnen. Bei der Aufrechterhaltung spielen psychosoziale Faktoren auf jeden Fall eine ganz wesentliche Rolle.

SB: Adipositas ist im Grunde genommen eng an ein gesellschaftliches Schönheitsideal gekoppelt. Wird darüber nicht ein Anpassungsdruck auf die Betroffenen ausgeübt, wenn sie mit diesen normativen Bildern in der Öffentlichkeit konfrontiert werden?

PW: Es gibt durchaus Diskussionen, die sich fragen, ob nicht ein Teil der psychosozialen Folgebelastungen, die wir bei Adipositas feststellen können, genau an dieses Schönheitsideal gekoppelt ist und im Gegenzug die Abweichung von der Norm als negativ beurteilt wird.

Es gibt auch Hinweise aus Studien, denen zufolge nicht alle, die adipös sind, darunter leiden. Viele kommen gut damit klar und entwickeln keine psychischen Störungen und sind auch in ihrer Lebensqualität nicht unbedingt eingeschränkt. Nur diejenigen, die um eine Behandlung nachsuchen und dann auch häufig stark auffällig sind, berichten vermehrt über negative Erfahrungen, daß sie verletzend auf ihr Körpergewicht angesprochen und ausgegrenzt werden. Das kann schon eine der Initialzündungen für die Entstehung von psychischen Belastungen sein. Das erklärt es nicht bei allen, aber bei einem Teil der Betroffenen.

SB: Wenn man eine Bezichtigung im Umfeld adipöser Menschen feststellt und therapeutisch mit ihnen arbeitet, wie kann man dann vermeiden, ihrem Leiden nicht neue Bezichtigungen im therapeutischen Sinne hinzuzufügen? Denn wenn jemand erfährt, daß seine Umwelt ihn nur deswegen ausgrenzt, weil er so aussieht, wie er aussieht, und er dann in der Therapie das gleiche Dilemma erlebt, nämlich daß er sich aufgrund seines Aussehens ändern muß, wäre er doppelt gestraft. Wie kann man mit diesem Konflikt als Therapeut umgehen?

PW: Ja, das ist eine schwierige Sache. Die meisten Adipositas-Behandlungen arbeiten in die Richtung, daß der Betroffene sein Gewicht verringern soll. Es geht dabei weniger um Ästhetik, sondern um die Gesundheitsgefährdung und Verringerung des koronaren Herzinfarktrisikos. Bei uns sind Kinder, die bereits unter Typ-2-Diabetes leiden. Es geht wirklich um relevante gesundheitliche Risiken, die vermindert werden sollen. Das ist die eine Seite. Mir ist immer sehr wichtig, auch das Wohlbefinden und letztlich die Körperakzeptanz zu steigern. Denn die Gefahr besteht, daß jemand, der sich massiv in die Richtung gedrängt fühlt, Gewicht verlieren zu müssen, dann wirklich eine Eßstörung wie zum Beispiel eine Anorexie oder auch eine Bulimie entwickelt.

Es geht darum, das Verhalten zu verändern, nicht darum, die Person zu verändern. Und diese verschiedenen Aspekte muß man deutlich machen.

Wir fragen Kinder und Jugendliche ganz explizit auch im Sinne einer Ressourcensteigerung: Worauf bist du stolz? Es gibt soviele Bereiche, da möchtest du etwas verändern, weil du dich vielleicht nicht wohlfühlst, aber aus welchen Dingen schöpfst du deine Kraft? Es ist, denke ich, wichtig, auch diese Aspekte zu betrachten, damit man als Therapeut nicht in die Tretmühle kommt, immer nur du sollst, du sollst, du sollst zu sagen. Das andere, das ich mir sage, ist, es geht nicht um mich, sondern um die Kinder und Jugendlichen. Sie wollen etwas verändern, aber manchmal müssen wir sie auch bremsen und ihnen klarmachen, wann es reicht, weil alles andere wirklich gesundheitsgefährdend ist.

SB: Es scheint, daß die Kinder oder Jugendlichen auf diese Weise selbst bestimmen, was sie wollen, wobei sie natürlich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen können.

PW: Wir sagen ja nicht, du mußt jetzt dieses und jenes machen. Bei den Kindern ist Gewichtsverlust eines der Parameter, die man in Erwägung zieht. Häufig sagen Kinder, die mit 20 oder 30 Kilogramm Übergewicht zu mir kommen, ich möchte in sechs Wochen gerne zehn Kilogramm abnehmen. Letztendlich müssen wir ihnen vermitteln, daß dieses Ziel nicht realistisch ist und wir das auch gar nicht wollen. Wir wollen, daß sie langfristig vor allem an Fett, nicht möglichst schnell an Gewicht verlieren. Man muß das Gewicht nach dem schädlichen und gesundheitsgefährdenden Fettanteil differenzieren. Deshalb sagen wir ihnen, wenn du in sechs Wochen drei Kilogramm verlierst, dann ist das spitze. Ihnen dann noch zu vermitteln, wie sie ihr Verhalten verändert haben, rundet den Erfolg ab.

Es geht nicht nur darum, das Gewicht zu verändern, sondern sich gesünder zu ernähren und körperlich aktiver zu sein. Es kann durchaus sein, daß jemand körperlich aktiver wird und wir das auch messen können, aber sich bei ihm gewichtsmäßig gar nicht so viel verändert hat, weil Muskelgewebe aufgebaut wurde, und Muskelgewebe ist ein schweres Gewebe. Die Kinder und Jugendlichen bestimmen letztendlich die Schritte, weil sie auch lernen müssen, wie man Ernährungs- und Bewegungsverhalten umstellen kann. Nur so erzielen sie Fortschritte. Ich kann nicht hingehen und ihnen die Aufgabe vorschreiben. Vielmehr begleite ich sie bei ihrem Weg und berate sie darin, was ein realistisches Ziel ist.

Dieses realistische Ziel liegt häufig unterhalb dessen, was sie sich im Gewichtssektor als Wunschziel vorgegeben haben. Diese Arbeit geht nur mit den Eltern zusammen.

SB: Es geht, wenn ich Sie richtig verstanden habe, möglicherweise auch um eine Veränderung der gesamten Lebensführung. Das ist sicher schwer vermittelbar, auch weil die Waage die Erfolgshoffnung transportiert, wenn ich diese oder jene Kilozahl erreicht habe, ist alles in Ordnung.

Wie lange arbeiten Sie ungefähr mit Kindern und Jugendlichen in einem Therapieprogramm zusammen?

PW: Ich versuche einmal, ein Programm zu beschreiben, denn wir haben verschiedene. Die Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und sechzehn Jahren kommen zunächst in Gruppen, in denen sie sich untereinander unterstützen können. Am Anfang steht ein Familiengespräch. Wir bitten die Jugendlichen gemeinsam mit den Eltern zum Gespräch, um auch den Hintergrund der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten in der Familie zu beleuchten und dabei herauszufinden, wie es um die Lebensqualität der Kinder bestellt ist oder ob es psychosoziale Belastungen auf Seiten der Eltern bzw. der Kinder gibt, die wir berücksichtigen müssen. Unter Umständen folgt noch ein zweites Gespräch. Danach bekommen sie von uns schon erste Aufgaben, wie zum Beispiel eine Gewichtskurve zu führen und was passiert, wenn sie sie nicht beachten - dann geht sie meistens ein bißchen hoch - oder darauf achten - dann verändert sich schon einmal etwas.

Im Anschluß arbeiten wir mit ihnen im Rahmen von acht bis zehn Terminen in Gruppen. Die Termine dauern in der Regel anderthalb Stunden. Während der Sitzungen wird mit den Jugendlichen gemeinsam erarbeitet, was eine gesunde Ernährung ist, warum sie in bestimmten Situationen essen und ob es Strategien gibt, wie sie nicht zum Essen greifen oder vielleicht die Lebensmittel anders auswählen. Ich esse gerne etwas Süßes, aber muß es immer die Nougatschokolade sein? Gibt es vielleicht auch andere Dinge? Es gilt zu lernen, daß Schokolade an sich in Ordnung ist, es aber auf die Menge ankommt. Immer alles in Maßen genießen. Oder wie kann ich damit umgehen, wenn mich andere hänseln? Schrittweise werden mit ihnen bestimmte Themen erarbeitet.

Begleitend haben sie ein Sportprogramm in der Gruppe mit einem Sporttherapeuten, um Spaß und Freude an der Bewegung zu finden. Die Eltern nehmen an drei bis vier Schulungsterminen teil, wo sie zum Beispiel lernen, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen zu kochen oder die Zubereitung umzustellen, denn es herrscht immer noch das Vorurteil vor, gesunde Ernährung schmecke nicht. Wir begleiten den Schritt, andere Muster aufzubauen. In einem Abschlußgespräch mit den Jugendlichen und den Eltern wird noch einmal nachgefaßt, was sich verändert hat, welche Ziele sie im Alltag gemeinsam angehen wollen und wie die Eltern ihre Kinder unterstützen können. Dann werden sie nachbetreut, indem sie einmal im Monat zu uns kommen. So haben wir eine relativ lange Phase der Betreuung und können Anstöße und Tipps geben, was sie ausprobieren und in den Alltag implementieren können. Die Programme sind explizit dazu da, um herauszufinden, wo die Probleme liegen und wie wir die Kinder und Jugendlichen als auch die Eltern begleiten können.

SB: Einmal angenommen, ein Kind oder ein Jugendlicher verweigert sich der therapeutischen Betreuung, gibt es auch dann noch Möglichkeiten, die Gründe dafür herauszufinden? Es könnte ja sein, daß der Widerstand, den der Betroffene erst einmal leistet, weil ihm die Therapie als Bezichtigung erscheint, ein Schlüsselmoment darstellt, der dem Therapeuten einen Zugang zum Problem erschließt.

PW: Ja klar, natürlich gibt es das. Zunächst ist uns ganz wichtig, daß wir keine Jugendlichen nehmen, die geschickt worden sind, wo also die Eltern anrufen und sagen, meine Tochter sollte drei Kilo abnehmen. Hiermit melde ich sie an.

Wenn sie über zwölf Jahre alt ist, sage ich immer, ich würde gerne einmal mit ihr am Telefon reden und ihre Sichtweise kennenlernen. Es geht nur mit beiden gemeinsam. Wir haben auch schon Erstgespräche beendet, nachdem uns klargeworden ist, daß der Jugendliche unser Angebot nicht annimmt. Es geht eben nicht allein auf Drängen der Eltern. Es funktioniert nicht, wenn man dem Jugendlichen vorhält, daß er etwas tun muß. Sicherlich haben wir Möglichkeiten, Motivation aufzubauen oder die Folgen von Adipositas zu verdeutlichen. Hilfreicher ist es jedoch, gemeinsam herauszufinden, womit der Betroffene selbst nicht ganz zufrieden ist, wo er sich vorstellen kann, etwas zu verändern, und bereit ist, erste Schritte zu tun. Natürlich gibt es auch psychologische Strategien, aber ich betone nochmal, wenn wir in die Intensivphase einsteigen und es ist nicht ausreichend Motivation vorhanden, weil der Jugendliche im Augenblick ganz andere Probleme hat, die bei ihm im Vordergrund stehen, dann kann es durchaus sein, daß dies momentan nicht der adäquate Behandlungsschritt ist und vielleicht andere Probleme im ersten Schritt behandelt werden sollten. Das ist eine notwendige Konsequenz.

Es geht nur mit ihnen gemeinsam im Boot, und da ist es ganz wichtig, diesen Punkt auch zu verdeutlichen.

SB: Es gibt in jüngerer Zeit eine Entwicklung unter Kindern und Jugendlichen, den anderen als Loser abzutun. Diesen Begriff kannte man in einer früheren Generation überhaupt nicht. Natürlich gab es immer Außenseiter, die schon einmal gehänselt wurden, aber sie waren keine Verlierer in dem Sinne, sondern blieben Teil der Aktivitäten.

Heutzutage greift diese harte Unterscheidung, du bist drinnen oder draußen, wie man es bisher nur in amerikanischen Filmen kannte, weit um sich. Können Sie bestätigen, daß diese Art der sozialen Diskreditierung zugenommen hat?

PW: Das ist eine schwierige Frage. Wenn Sie mich jetzt unabhängig vom wissenschaftlichen Hintergrund fragen, würde ich sagen, ja, der Ton ist härter geworden. Wenn ich jedoch mit Jugendlichen rede, dann sagen sie, das ist ein Tonfall, mit dem wir ganz gut umgehen können, wir wissen, wie es gemeint ist. Als ältere Generation finde ich so ein Verhalten ziemlich verletzend, und wäre ich jetzt in dem Alter, würde ich mich durchaus gekränkt fühlen. Wird heute mehr als früher ausgegrenzt? Ich glaube, die Konsequenzen aus dem eigenen Verhalten werden heutzutage rascher zurückgemeldet. Wir leben in einer Gesellschaft, wo vieles in einem weitaus größeren Ausmaß, als es früher der Fall war, öffentlich wird. Kinder und Jugendliche müssen sich genau überlegen, inwieweit das, was sie in einem bestimmten Kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt haben, für alle Zeiten archiviert wird. Diese neue und ganz wichtige Herausforderung kann man durchaus beobachten.

SB: Frau Warschburger, vielen Dank für dieses Gespräch.

Im Gespräch am Tisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Petra Warschburger mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnote:
[1] www.bdp-verband.org/aktuell/2012/bericht/index.html

Bisherige Beiträge zur Pressekonferenz "Vernachlässigtes Potential - Die Psychologie und die Volkskrankheiten" im Schattenblick unter
INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/019: Rezepte, Markt und Therapie - Angebot und Nachfrage (SB)
INTERVIEW/013: Rezepte, Markt und Therapie - Not- und Kostendämpfer (SB)

29. November 2012