Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

INTERVIEW/022: Ungleichheit sozial - Seiltanzanalyse, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 3 (SB)


Unter der Oberfläche informeller Widerstand

Dritter Teil des Gesprächs mit den Soziologen Friederike Bahl und Philipp Staab am 31. März 2014 in Hamburg


Friederike Bahl, vor einer Zeitschriftenwand sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Friederike Bahl
Foto: © 2014 by Schattenblick

Soziale Ungleichheit, nicht Ungerechtigkeit, war schon Gegenstand frühsoziologischer Studien, noch bevor sich die Disziplin am Wissenschaftsmarkt etablieren konnte. Dienten und dienen ihre vorrangig deskriptiven Forschungsansätze, -methoden und -projekte einer nicht zuletzt von staatlichen Institutionen, deren primäre Aufgabe in der Aufrechterhaltung der herrschenden Eigentumsordnung liegt, genutzten Informationsbeschaffung oder, um eine wenn auch unrealistisch anmutende Gegenthese zu formulieren, dem Anliegen, wissenschaftliche Argumentationshilfen für jedwedes Engagement wider Ausbeutung und Raub zu liefern?

In Deutschland arbeiten am unteren Rand des Dienstleistungssektors gegenwärtig 12 Prozent der Arbeitnehmerschaft, also mithin mehrere Millionen Menschen, fernab jeder Kollektivität unter verschärften und extrem unsicheren Arbeitsbedingungen für niedrigste Löhne, ohne Absicherung, Aufstiegsmöglichkeiten und gesellschaftliche Anerkennung. Es sind hier überwiegend Frauen, die mit Tätigkeiten wie "Sichern, Säubern und Service" oft nicht einmal ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Armutsquote hat, wie dem soeben veröffentlichten Jahresgutachten 2014 des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zu entnehmen ist, mit 15,2 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. Der Studie zufolge wächst die Kluft zwischen arm und reich und damit die soziale Spaltung in Deutschland an, weshalb, wie der Verbandsvorsitzende Prof. Dr. Rolf Rosenbrock erklärte, "das soziale Bindegewebe, der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, bröckelt". [1]

Es scheint, als seien die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt, und so spricht die jüngere Soziologie von einer 'unmöglichen Gruppe' des neu entstandenen Dienstleistungsproletariats. Welche Formen des Widerstands unter diesen Bedingungen gelebt werden und inwiefern in die soziologische Ungleichheitsforschung auch Aspekte einer mittelbaren bzw. präventiven Aufstandsbekämpfung einfließen, sind Fragen, denen sich Friederike Bahl und Philipp Staab, Soziologen am Hamburger Institut für Sozialforschung, im dritten und vorletzten Teil eines Interviews stellen, das der Schattenblick am 31. März mit ihnen führte. Thematisiert wird zudem die Frage, ob heute von der Wiederkehr einer Klasse, die es in der Frühphase der Industrialisierung schon einmal gegeben hat, die Rede sein kann - einer "Proletarität ohne Proletariat".


Schattenblick (SB): In Ihren qualitativen Befragungen wurden auch die Gefühle, Ansichten und Befindlichkeiten der im Bereich der einfachen Dienstleistung tätigen Menschen berücksichtigt. Der indische Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen bezeichnete schon 1973 ein "wahrgenommenes Gefühl der Ungleichverteilung als einen häufigen Mitauslöser von Aufständen". [2] Ist dieser Gedanke in Ihre Forschungsarbeit eingeflossen?

Philipp Staab (PS): Das ist genau die Idee, weshalb man die Frage nach der Legitimierung und danach, was die Leute akzeptieren, stellen muß. Wenn die eine systematische Form der Ungleichheit sehen und kein Substitut mehr finden, das das irgendwie legitim erscheinen läßt, kommt es zu den Brüchen, die Sie beschrieben haben. Man stellt sich die Arbeitswelt in den einfachen Diensten aber auch falsch vor, wenn man annimmt, daß es keinen Widerstand gäbe, nur weil es keine kollektiven Akteure gibt und die Gewerkschaften keine riesigen Streiks aufstellen können. Auf der alltäglichen Ebene passiert da extrem viel.

Friederike Bahl (FB): Bei uns läuft das unter dem Stichwort 'politische Mobilisierung'. Die klassische soziale Frage ist doch: Inwieweit ist die möglich? Im Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit sind das schwierige Voraussetzungen. Das beginnt mit der Materialität einer weitestgehend gewährleistenden Arbeit, die nichts produziert, sondern die Produkte und Räumlichkeiten anderer arrangiert, sichert und säubert. Wir fassen das unter den Begriff der Normalisierungsarbeit, was ein ewiger Prozeß der Herstellung eines Status Quo der Normalität ist. Das allein sorgt schon branchenübergreifend dafür, daß Berufsstolz schwer zu etablieren ist.

Während die Industriearbeiter in den Produktionsbetrieben zum Teil bis heute noch trotz des Mitgliederschwunds bei den Gewerkschaften zur gemeinsamen Gegenwehr angehalten werden und es noch eine Fabriksozialisation gibt, läuft das im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit total leer. Die Leute sagen: Ich bin stolz darauf, wenn ich mich von einem üblichen 4-Stunden- zu einem unüblichen 8-Stunden-Vertrag hochgearbeitet habe. Aber schon im nächsten Schritt sagen sie: Aber Putzfrau sein will ich nie im Leben. Daß ihre Arbeit irgendwo eine Berufszugehörigkeit initiieren könnte, kommt für die gar nicht in Frage. Das gilt branchenübergreifend. Ein Postzusteller hat die Kompetenznotwendigkeiten seiner eigenen Tätigkeit einmal sehr schön zusammengefaßt: Das könnte auch ein Affe machen. Spätestens, wenn man 'Affe' gesagt hat, ist ein Reflex der Distanzierung eingetreten, der eine gemeinsame Gegenwehr erschwert.

Den Gewerkschaften fällt es schwer, da etwas zu etablieren, wenn die Arbeit keine Produkte zeitigt und die Leute mißtrauisch sind, ob sie einer Gruppierung angehören oder eine Arbeit verrichten, auf die sie stolz sein können. Eine politische Mobilisierung im Sinne von gemeinsamen Paktierungschancen steht vor dem Problem, daß die Leute den Status einer 'unmöglichen Gruppe' haben. Unter der Oberfläche gibt es Formen des informellen Widerstands, eine sabotative Resilienz. Sie fangen zum Beispiel in der Flugzeugreinigung an, mit dem Klolappen plötzlich die Kaffeetasse des Kunden zu wischen, wenn er unliebsam ist, oder man tritt in der Zustellung ein bißchen langsamer in die Pedale.

PS: Man macht ständig unerlaubte Raucherpausen. Ein radikales Beispiel ist: Man schmeißt die komplette Postladung, weil es einfach zuviel ist, in den Fluß. Das sind Verzweiflungstaten, in denen ein letztes Moment der Selbstbehauptung durchscheint. In den USA nennt man so etwas 'suicide by cop'. Da fangen Leute an, auf die Polizei zu schießen, weil sie eigentlich Suizid begehen wollen. Aber es gibt auch die viel alltäglicheren Momente, wo man nicht erwischt wird, aber sich ein Stück Selbstbehauptung dadurch verschafft, daß man zum Beispiel eine Handcreme vom Klo mitnimmt. Materialdiebstahl ist in der Gebäudereinigung ein ziemlich großes Thema.

FB: Das darf man natürlich nicht mißverstehen, die Leute machen das in erster Linie aus Verzweiflung. Die haben ein sehr starkes Gerüst von guter Arbeit, und nur dann, wenn dieses Korsett durch Standardisierung, Universalisierung und Arbeitsverdichtung nicht mehr gewährleistet werden kann, ist Sabotage ein Akt, um einerseits die eigene Würde mit List zu bewahren und andererseits die Arbeitsverdichtung wieder in kontrollierte Anstrengung zu übersetzen, damit man nicht leerläuft und ausbrennt.

PS: Arbeitsverdichtung bedeutet, die Leute bekommen immer größere Gebiete zum Putzen, aber nicht mehr Zeit. Die haben uns 'mal mitgenommen und uns das gezeigt. Die fangen dann auf einmal an, nicht mehr alles zu wischen. Da etabliert sich ein findiges, praktisches Wissen darüber, welcher Pfusch entdeckt wird und welcher nicht. Der Berufsstolz, den die haben, kommt aus einer solchen Pfusch-Kompetenz. Das ist eine Form, sich gegen die Rationalisierung und den extrem harten Zuschnitt von Herrschaft in der Arbeit zu wehren.

Ölgemälde, das eine wäschewaschende Frau zeigt - Bild: by Jean-Baptiste Siméon Chardin (Public domain), via Wikimedia Commons

Rückkehr der Dienstboten? - "Die Wäscherin", Gemälde von Jean-Baptiste Siméon Chardin, 1735
Bild: by Jean-Baptiste Siméon Chardin (Public domain), via Wikimedia Commons

SB: Die Soziologie hat nicht den Anspruch, eine normative Wissenschaft zu sein. Auf der Podiumsdiskussion zur Zukunft globaler Ungleichheit [3] wurde dennoch im Hintergrund die Frage nach den Trägern einer neuen Kollektivität gestellt und danach, wie diese eigentlich schockierenden Lebensverhältnisse geändert werden könnten. Spielt das bei Ihnen auch eine Rolle?

PS: Für mich als Wissenschaftler nicht, als Mensch vielleicht schon. Meiner Meinung nach ist es falsch zu glauben, man hätte als Soziologe nichts mit Normativität und Werten zu tun. Es ist nur die Frage, ob das meine Wertstandards sind, die ich an meine Arbeit herantrage. Eigentlich ist es eine Wiedergabe der normativen Standards, die das Feld selbst beherbergt. Wenn wir sagen, daß diese Arbeit keinen Sinn hat, dann heißt das nicht, daß wir von außen draufgucken, sondern daß die Leute, die die Arbeit machen, uns das selbst erzählt haben. Insofern ist das, was wir machen, eigentlich eine Kartierung der Normativität der Leute.

FB: So verstehe ich auch Legitimation. Es sind die institutionell angebotenen Normativitäten, die mit denen der Beschäftigten verschränkt werden, und so erst können auch für uns Überraschungen entstehen.

SB: Die Soziologie in Deutschland wurde in den 60er Jahren von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stark beeinflußt. Soziologie wurde von vielen damals auch in der Hoffnung studiert, die Gesellschaft zu verändern. Wie ist das heute? Was war Ihre Motivation, sich für dieses Fach zu entscheiden?

PS: Für mich macht den ungemeinen Charakter dieser Wissenschaft die Idee aus, daß wir tatsächlich Aussagen und Wissen übers Ganze erschließen können. Das ist das Versprechen der Soziologie. Hier geht es nicht nur um Individuen und auch nicht nur um Politik oder Sozialarbeit. Wenn wir uns die Verhältnisse in der einfachen Dienstleistungsarbeit anschauen, fragen wir, ob wir in der postindustriellen Ökonomie neue Klassenstrukturen erkennen können und was das mit der politischen Ökonomie, also dem Zusammenspiel von Wohlfahrtsstaat und Kapitalismus, zu tun hat. Wir betreiben Gesellschaftstheorie. Das macht nur die Soziologie, deshalb ist sie für mich so attraktiv. Ich vermute eher nicht, daß Gesellschaftsveränderung heute die Motivation der meisten Studienanfänger ist.

SB: Bei der Podiumsdiskussion haben sich beide Referenten für eine Erneuerung der Klassenanalyse ausgesprochen. Was würden Sie zu der These sagen, daß 'Klasse' und 'Klassenanalyse' eigentlich zunächst einer begrifflichen Klärung bedürfen? Und steht diese Frage in Verbindung zu Ihrer Arbeit?

PS: Ja, wir bewegen uns genau in diesem wissenschaftlichen Ambitionsfeld. Darüber nachzudenken und nach der Restrukturierung der Klassengesellschaft zu fragen, ist heute wesentlich komplizierter, als es möglicherweise früher war, was sicherlich daran liegt, daß die Realität komplizierter geworden ist. Das gilt auch für unsere Erhebungsinstrumente und unser Wissen über die Gesellschaft. Wenn wir beispielsweise davon reden, daß die einfache Dienstleistungsarbeit durch extrem viele Menschen mit ausländischer Familienbiographie gekennzeichnet ist, kann man fragen, ob die Vorstellung eines ethnisch homogenen Industrieproletariats in der Nachkriegszeit eigentlich stimmt. Wieviele Gastarbeiter und ihre Nachkommen muß man da mit hineindenken, um das zu verstehen?

SB: Aufstiegsmöglichkeiten und die Verbreitung von Wohlstand, worauf die Theorie einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft beruhte, hat es in der Bundesrepublik tatsächlich einmal gegeben, wobei allerdings völlig ausgeblendet wurde, daß diese Prosperität transnational auf Kosten ganzer Bevölkerungen erwirtschaftet wurde. Hat es dazu Untersuchungen gegeben?

PS: Der umfangreichste Ansatz dazu ist sicherlich die Theorie der Weltsysteme von Immanuel Wallerstein [4], der für die Soziologie eine wichtige Rolle spielt. Wie Anja Weiß [5] treffend sagte, hinkt die Soziologie den Ökonomen hinterher. Das ist allerdings nicht unser Arbeitsschwerpunkt. Wir wissen relativ viel über die Mikro-Ebene, beispielsweise über die Globalisierung der sogenannten 'Care Changes', wenn plötzlich Frauen zuhauf aus Osteuropa oder Afrika oder, im Fall der USA, aus Lateinamerika in Mittelschichtshaushalten Dienstleistungsarbeit als Haushaltsangestellte verrichten, sogenannte Live-Ins.

Grob vereinfacht betraf diese Form der Dienstbotentätigkeit ursprünglich das 19. Jahrhundert, also die frühe bürgerliche Gesellschaft. In der Nachkriegszeit haben wir in den OECD-Staaten eine hohe Erwerbsbeteiligung von Männern. Frauen haben nicht gearbeitet, sondern solche Tätigkeiten verrichtet, weshalb keine Dienstboten mehr gebraucht wurden. Jetzt haben wir auch eine Erwerbstätigkeit von Frauen und eine Rückkehr der Dienstboten. Diese Arbeit hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Das ist überhaupt das Interessante: Wenn man sich damit beschäftigt, wie eigentlich die Gegenwart der Ungleichheit auf die Zukunft weist, steht das immer auch im Zusammenhang mit der Vergangenheit.

Sighard Neckel [6] hat auf unserem Kongreß beispielsweise von einer neuen Finanzoligarchie als einer Klasse von Finanzdienstleistern, den Köpfen des globalen Kapitalismus, gesprochen, die vollkommen losgelöst von nationalen Ökonomien agieren. Außerhalb der immer noch national strukturierten Solidaritätsmuster und damit der Art und Weise, wie wir den sozialen Ausgleich gestalten, ist das eine vollkommen abgekoppelte Oligarchie, wie wir uns das für das 19. Jahrhundert vorstellen.

Unsere Idee von Proletarität schlägt in eine ähnliche Kerbe. Zu den überraschenden Ergebnissen unseres Projekts gehört die Zukunftslosigkeit, die wir als Rückkehr von Proletarität ohne Proletariat bezeichnen. Die Industriearbeiterschaft war, bevor Leute hineingegangen sind und eine Art Organizing betrieben haben, der Art von Proletariat ähnlich, das wir jetzt im Blick haben. Das bestand aus Vagabunden und Tagelöhnern und, wie Engels es beschrieb, aus Iren, die nach England kamen, total losgelöst von den lokalen Strukturen und Subsistenz-Ökonomien. Wir haben heute die Wiederkehr von etwas, das wir in ähnlicher Form schon einmal gesehen haben.

Ein anderes Beispiel aus unserem Projekt ist die Rückkehr personaler Herrschaftsverhältnisse in der Arbeit. Wenn man sich die historische Arbeitsforschung anschaut, dann hatten wir in der industriellen Peripherie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts personale Herrschaftsverhältnisse. Da war der Vorarbeiter, der dir auf die Finger klopft und dich anschreit. Dein Arbeitsalltag war davon abhängig, ob der dir wohlgesonnen ist oder nicht. Irgendwann wurde durch den fordistischen Modernisierungs- und Automatisierungsschub, den das Fließband brachte, aus dieser Form von personaler eine anonyme Logik technischer Herrschaft. Es ist niemand mehr da, der dir persönlich auf die Finger schaut, sondern das Fließband läuft in einer bestimmten Geschwindigkeit, und da kannst du nichts dran drehen. Gerade weil die Technik für die Rationalisierung einfacher Dienstleistungsarbeit keine entscheidende Rolle spielt, kommen die personalen Herrschaftsformen zurück. Was kehrt da wieder? Hat es das schon einmal gegeben und wie hat es sich verändert? Gibt es eine neue Form? Das sind total interessante Fragen, die mit der Zukunft der Ungleichheit in Verbindung stehen.

SB: Wie aussagekräftig sind Ihre Ergebnisse zur Dienstleistungsarbeit? Könnte jemand einwenden, 60 befragte Arbeitnehmer, was ist das schon?

FB: Wir haben einen qualitativen Ansatz gewählt, der natürlich nicht der statistischen Repräsentativität folgt, sondern geradezu komplementär eine hohe Fallkontrastierung zu erschließen sucht. Das bedeutet, nicht oberflächlich und nicht über Fragenkataloge, sondern eher tief in das Feld hineinzugehen und zu versuchen, überraschende Ergebnisse hervorzubringen. Die hohe Fallkontrastierung haben wir, zusätzlich zu den bereits genannten drei Methoden, also Interviews, Beobachtung und Gruppendiskussionen, darüber unterstützt, daß wir uns die verschiedenen Branchen möglichst weitläufig angeschaut haben, um das Vokabular des einfachen Dienstleistungsproletariats, das erst einmal eine Einheitlichkeit nahelegt, vor dem Hintergrund dieses ziemlich großen Spektrums ganz gezielt auf die Probe zu stellen.

Das haben wir weiter erhöht, indem wir innerhalb der Branchen versucht haben, verschiedene Unternehmen auszuwählen und sie auf Gemeinsamkeiten, aber auch auf Unterschiede hin zu untersuchen. Wir haben ein kontrastierendes 'Sampling' gemacht, also kontrastierende Stichproben genommen. Innerhalb der Bundesrepublik haben wir uns darüber hinaus bemüht, möglichst regional verschiedene Nord-Süd-Achsen abzufahren und Großstädte, mittelgroße Städte und Kleinstädte einzufangen. Auf Städte haben wir uns insoweit konzentriert, als der Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit schon ein urbanes Phänomen ist. Wir haben versucht, in den Städten verschiedene sozialdemographische Faktoren abzufangen. So ist es uns, wie ich meine, gelungen, durch einen möglichst kontrastierenden Zugriff unsere Ergebnisse immer wieder auf die Probe zu stellen.

PS: Es wäre falsch zu glauben, daß alles, wovon wir hier berichten, aus dem qualitativen Sampling stammt. Wir wissen - auch mit statistischer Repräsentativität - ziemlich gut über die quantitative Zusammensetzung der einfachen Dienste Bescheid, weil wir nicht die einzigen sind, die in diesem Bereich Arbeitsforschung betrieben haben. Wir wissen, daß die Verweildauer der Leute ziemlich lang ist, es sind nicht nur irgendwelche Schüler, Studenten oder Rentner, die 'mal Zeitungen austragen. Wir wissen auch, daß dieses Arbeitsmarktsegment ungefähr 12 bis 15 Prozent der Arbeitnehmerschaft umfaßt, je nachdem, welche Berufsgruppen man noch dazu zählt und welche nicht. Wir wissen, daß der Anteil von Frauen ungefähr zwei Drittel beträgt und die einfachen Dienstleister ethnisch extrem heterogen sind.

Wir kennen ihren institutionellen Zuschnitt, sozusagen die statistischen Stundenlöhne und wissen, daß das Aufstocken eine große Rolle spielt. Wir wissen auch, wie die Gewerkschaften repräsentiert sind und wieviel Prozent der Arbeitnehmer in diesem Bereich, aber auch im Vergleich zu anderen Arbeitsmarktsegmenten, Gewerkschaftsmitglieder sind. In den einfachen Diensten liegen die hohen Schätzungen bei 18 und die niedrigen ungefähr bei 9 Prozent. In der einfachen Industriearbeit, die man als den männlichen Teil der proletarischen Lage der Gegenwart beschreiben könnte - als Gegenstück zu der weiblichen, die wir im Blick haben -, liegt der Anteil immer noch bei 39 Prozent. Das sind trotz des Mitgliederschwunds, den die Gewerkschaften im Industriebereich lange Jahre verzeichneten, immer noch doppelt so viele. Die IG Metall ist so ziemlich die einzige Gewerkschaft, die wächst. Sie hat sich zum Beispiel auch der industriellen Leiharbeit angenommen, also der am ehesten proletarisierungsgefährdeten Bereiche in der Industriearbeit.

Wir haben gefragt: Hält dieses statistische Wissen über diese Gruppe - und das bezieht sich auf die Frage nach der Klassengesellschaft - einem tiefen Blick überhaupt stand? Um von Proletarität als Lebensweise zu sprechen, reicht es aus unserer Sicht nicht aus, sich anzugucken, wie groß die Gruppe der Arbeitnehmer ist. Dann wissen wir noch nichts über die Arbeits- und Lebensrealität der Leute und nicht einmal, ob die überhaupt einer ähnlichen Arbeit nachgehen. Schon die Arbeitsfrage zwingt uns zum Beispiel, die institutionell operierende Pflegearbeit aus unserem Sample auszusortieren. Die Arbeit, die in Pflegeheimen von examinierten Pflegekräften geleistet wird, gehört nicht zur Gruppe einfacher Dienstleistungsarbeit, weil da andere Rationalisierungstypen vorherrschen.

Philipp Staab hört zu - Foto: © 2014 by Schattenblick

Philipp Staab
Foto: © 2014 by Schattenblick

Es gibt in der Pflege Formen bürokratischer Standardisierungen, die zu einem erhöhten Arbeitsdruck führen, aber auch eine natürliche Grenze, die über die Kunden kommt. Die Kinder der alten Leute, und das kennt man aus eigener Erfahrung, gucken denen auf die Finger und sagen: 'So geht das doch nicht, Sie müssen meinen Vater doch auch ansprechen!' Und die Leute sagen: 'Ja, stimmt.' Dann kommt noch der Pflegenotstand dazu, dafür gibt es nicht genug Stellen. In der institutionellen Pflegearbeit, zumindest in den etwas prosperierenden Teilen Deutschlands, werden den Leuten die Qualifikationen hinterhergeworfen, die bekommen ständig Weiterbildungskurse und können die auch finanziell geltend machen.

Wir hatten in Süddeutschland ein Pflegeheim in Trägerschaft des Roten Kreuzes, kein privates Luxusheim oder so etwas, da hat die Hälfte aller examinierten Pflegekräfte Löhne über Tarifniveau bekommen, weil die individuelle Verträge ausgehandelt hatten. Von einer solchen Verhandlungsmacht können die Gebäudereiniger, die Postdienste, die Leute bei Lidl echt nur träumen. Wir sehen in dem Feld, daß man sich nach der Statistik vorgestellt hat, daß auch die Pflegearbeit dazugehört. Wir haben da bestimmte Vektordynamiken: Für wenige, zum Beispiel für examinierte Pflegekräfte, geht es nach oben, für andere nach unten.

(Fortsetzung folgt)


Fußnoten:

[1] "Gutachten zur sozialen Lage in Deutschland: Steigender Reichtum, wachsende Spaltung? Paritätischer fordert Kurswechsel." Pressemeldung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, des Spitzenverbands der Freien Wohlfahrtspflege Deutschlands, vom 24.04.2014.
http://www.der-paritaetische.de/startseite/artikel/news/gutachten-zur-sozialen-lage-in-deutschland-steigender-reichtum-wachsende-spaltung-paritaetischer/?layout=&cHash=237aed852b55861a5229c9e0c69837e4

[2] Amartya Sen: On Economic Inequality, 1973

[3] Siehe den Bericht zur Podiumsdiskussion im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0028.html

[4] Der 1930 geborene US-amerikanische Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein hat sich nicht nur als Mitbegründer der Weltsystem-Theorie einen Namen gemacht. Er hatte früh das Ende der Sowjetunion vorausgesehen und prophezeite 2005 das Ende des globalisierten Kapitalismus innerhalb der nächsten 30 Jahre, wobei allerdings offen sei, ob dieser von einem besseren oder noch schlechteren System abgelöst werde. Wallerstein lehnt den Begriff "Dritte Welt" ab, es gäbe nur "eine Welt". Der prominente Globalisierungskritiker unterzeichnete beim Sozialforum in Porto Alegre 2005 das Manifest "12 Vorschläge für eine andere mögliche Welt".

[5] Prof. Dr. Anja Weiß, Professorin für Makrosoziologie und Transnationale Prozesse am Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen, und Prof. Dr. Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, waren die Referenten der Podiumsdiskussion "Die Zukunft globaler Ungleichheit" am 20. März im Hamburger Institut für Sozialforschung. Siehe dazu den unter [3] angegebenen Bericht sowie das Interview mit Prof. Weiß:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
INTERVIEW/019: Ungleichheit sozial - Primat der Politik? Prof. Dr. Anja Weiß im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0019.html

[6] Prof. Dr. Sighard Neckel ist Soziologe an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er hat am 21. März an dem Workshop zur Zukunft der Ungleichheit im Hamburger Institut für Sozialforschung teilgenommen.


Bisherige Beiträge zur "Zukunft globaler Ungleichheit" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)
INTERVIEW/019: Ungleichheit sozial - Primat der Politik? Prof. Dr. Anja Weiß im Gespräch (SB)
INTERVIEW/020: Ungleichheit sozial - Bruch der Hoffnungen, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 1 (SB)
INTERVIEW/021: Ungleichheit sozial - Vereinzelt, verloren und klassenlos, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 2 (SB)

25. April 2014