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INTERVIEW/045: Beteiligungsmodul Psychologie - etablierte Vorherrschaften ...    Prof. Dr. Norman Paech im Gespräch (SB)


Titelseite des Programmflyers -Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Neues Völkerrecht für neue Kriege
Interview mit dem Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech

Der australische Think Tank "Institute for Economics and Peace", der jährlich einen "Global Peace Index" herausgibt, resümiert für 2018: "So wenig friedlich wie jetzt war die Welt zu keinem Zeitpunkt in den letzten 10 Jahren". Hat die internationale Ordnung, die 1945 mit der UNO errichtet wurde, um zukünftige Kriege einzudämmen und Frieden zu garantieren, ihre friedenstiftende Kraft verloren?

Skeptiker würden sagen, sie habe sie nie gehabt. Andere halten die in der UNO-Charta vereinbarten Normen für nicht mehr in der Lage, die modernen Formen von Krieg und Terror zu regeln, und erachten Korrekturen als dringend erforderlich. Da jedoch die Änderung der Charta auf Grund der dafür erforderlichen Zweidrittelmehrheit der Staaten außerordentlich schwierig, ja unmöglich erscheint, sind einige Staaten selbst darangegangen, die Regeln neu zu interpretieren, zu dehnen und wenn nötig zu durchbrechen.
Das begann 1999 mit dem Krieg gegen Jugoslawien, der mit einem Rückgriff auf eine alte Figur des kolonialen Völkerrechts - die sogenannte humanitäre Intervention - gerechtfertigt wurde. Abgesehen von den politischen Konsequenzen einer derartigen Doktrin widerspricht die "humanitäre" Intervention dem System und der Dogmatik der UNO-Charta. Die überwältigende Mehrheit der zeitgenössischen Rechtsmeinung spricht sich gegen die Existenz eines Rechts zur (einseitigen) humanitären Intervention aus; das tut sie aus drei Gründen: erstens enthalten die UN-Charta und das Völkerrecht insgesamt offensichtlich kein spezifisches derartiges Recht; zweitens liefert die Staatenpraxis in den letzten zweihundert Jahren und besonders nach 1945 allenfalls eine Hand voll wirklicher Fälle einer humanitären Intervention, wenn überhaupt - wie die meisten meinen; und drittens spricht die Möglichkeit des Missbrauchs stark dagegen, ein solches Recht zu schaffen.

Schattenblick (SB): Welche anderen Neuinterpretationen des geltenden Völkerrechts erachten Sie noch für problematisch?

Norman Paech (NP): Ein anderes Konzept heißt "Responsibility to Protect" (RTP). Es wurde u.a. genutzt, um eine Intervention in Libyen zu rechtfertigen. Der UN-Sicherheitsrat hatte bereits ein umfassendes Waffenembargo, ein Reiseverbot für Personen aus dem Führungskreis um Gaddafi und das Einfrieren von Vermögenswerten einzelner Personen beschlossen. Das genügte den USA nicht. Sie erwirkten ein Mandat, das alle UN-Mitglieder gem. Art. 42 der UN-Charta zum Einsatz militärischer Gewalt gegen das libysche Regime ermächtigte. Schon zwei Tage später begann eine Intervention einer Koalition von elf Staaten unter Führung der USA, Frankreichs und Großbritannien.

SB: Diese muss demnach bereits vor Erteilung des Mandats detailliert geplant worden sein.

NP: Mehr noch: Der Sicherheitsrat hätte für eine solche Intervention eine grenzüberschreitende Gefährdung der Nachbarstaaten durch Libyen feststellen müssen, die faktisch jedoch nicht vorlag. Die Rebellion in Libyen hatte weder Tunesien noch Algerien noch einen anderen Staat in der weiteren Umgebung zu irgendeiner Zeit gefährdet.

Für Syrien entwickelten die USA dann das Konzept "unwillig und unfähig". Die USA erklärten das so: "Staaten müssen in der Lage sein, in Übereinstimmung mit dem unveräußerlichen Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung, wie es in Art. 51 UN-Charta steht, sich selbst in Situationen wie dieser, zu verteidigen, in denen die Regierung eines Staates, von dem die Bedrohung ausgeht, unwillig oder unfähig ist, die Benutzung ihres Territoriums für einen Angriff zu verhindern. Das Syrische Regime hat gezeigt, dass es nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese 'safe havens' wirksam zu bekämpfen. Deshalb haben die Vereinigten Staaten notwendige und angemessene militärische Maßnahmen in Syrien unternommen, um die weiter bestehende Bedrohung des Irak durch ISIL zu unterbinden, die irakische Bevölkerung vor weiteren Angriffen zu schützen und den irakischen Streitkräften zu helfen, die Kontrolle über die irakischen Grenzen zurückzugewinnen."

SB: Welche Position nimmt die Bundesrepublik in diesem Punkt ein?

NP: Die Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages haben sich zur Begründung des Einsatzes der Tornado-Flugzeuge in Syrien der neuen Doktrin angeschlossen. Zur Abstützung berufen sie sich auf die Resolution 2249 des UN-Sicherheitsrats vom 20. November 2015, die Frankreich eingebracht hatte, um die militärischen Interventionen der Staaten auch gegen den Willen der syrischen Regierung völkerrechtlich zu rechtfertigen. Man ist sich allerdings darin einig, dass die Resolution, die in Punkt 5 die Staaten auffordert, "alle notwendigen Maßnahmen ... in Syrien und Irak zu ergreifen, ... um terroristische Akte vor allem des ISIL zu verhindern und zu unterdrücken", kein Mandat für kollektive Militäraktionen auf syrischem Gebiet gibt. Dennoch wollen die Dienste die Resolution so deuten, dass sie sogar ein präventives Selbstverteidigungsrecht gegen die ständige Bedrohung durch den IS ermöglicht, auch "ohne dabei auf ein (weiteres) Zustimmungsrecht seitens der irakischen oder syrischen Regierung rekurrieren zu müssen." Sollte sich die "Staatenpraxis verfestigen", d.h. bei zukünftigen Interventionen ohne ein Mandat des Sicherheitsrats und die Zustimmung des betroffenen Staates, so könnte darin sogar "eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Völkerrechts" liegen.

SB: Wäre damit die territoriale Integrität und Souveränität keine Barriere mehr für jederzeit begründbare "Selbstverteidigungsinterventionen"? Oder anders gefragt: Hieße das Auflösung der territorialen Integrität?

NP: Diese Doktrin ist völkerrechtlich äußerst umstritten, da sie faktisch die Souveränität nur der schwächeren Staaten aushöhlt.

SB: Allgemein anerkannt oder nicht - die USA haben in Syrien interveniert und ihr Konzept "unwillig und unfähig" angewandt oder nicht?

NP: Nicht Syrien war und ist unwillig, den IS zu bekämpfen, sondern die USA und mit ihnen die Verbündeten weigern sich, mit Präsident Assad überhaupt über die Bekämpfung des Terrors zu sprechen. Sie haben ausreichend öffentlich und wiederholt verkündet, das Regime Assad beseitigen zu wollen, so dass sie sich danach kaum auf eine stillschweigende Zustimmung dieser Regierung zu Bombardierungen im ganzen Land ohne Abstimmung mit Damaskus berufen konnten.

SB: Auch nicht im Fall der militärischen Operationen in jenen Gebieten, in denen der IS sein Kalifat errichtet und damit faktisch die Souveränität Syriens beseitigt hatte?

NP: Ein Staat, ob unter Besatzung oder als sogenannter "failed state", verliert nicht den Schutz seiner territorialen Integrität. Durch eine rechtswidrige Okkupation wird ein Staat nicht zu einem offenen, seiner Grenzen beraubten Gebiet, in das jeder andere Staat nach Belieben eindringen kann. Zudem hat der IS seine territoriale Herrschaft in Syrien weitgehend wieder verloren und ist auf Gebiete wie Idlib im Nordwesten zurückgedrängt worden, die ihm für die Reste seiner Kämpfer und Familien von der Regierung in Damaskus eingeräumt worden sind.

SB: Lassen Sie uns noch einmal zum Völkergewohnheitsrecht zurückkommen. Trägt nicht jede weitere Intervention, demnächst womöglich in Venezuela, nach einem der genannten Konzepte zu deren Etablierung bei?

NP: Zur Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht gehört nicht nur eine lang anhaltende Praxis der Staaten, sondern eine Praxis, die auch in der Überzeugung einer bestehenden Rechtsregel ausgeübt werden muss. Dies mag den USA angesichts ihrer historisch weit ausgreifenden Interventionspraxis so erscheinen, nicht jedoch den zahlreichen Staaten, die Opfer dieser Interventionen geworden sind. Dieses Ungleichgewicht zwischen den wenigen, zu einer militärischen Intervention fähigen, und den zahlreichen von derartigen Interventionen bedrohten Staaten, lässt in diesen Fragen eine gemeinsame Rechtsüberzeugung ohnehin nicht aufkommen. Doch trotz der nicht vorhandenen völkerrechtlich verbindlichen Relevanz all dieser Doktrinen spielen sie bei der Legitimierung illegaler Praxis eine bedeutsame Rolle. Sollte in Zukunft einmal die Frage nach der Verantwortung für Akte der Aggression gestellt werden, könnten diese Rechtfertigungskonzepte von Bedeutung sein.

SB: Für mich bleibt die Frage offen, ob, wann und wie einer akut existenzbedrohten Zivilbevölkerung mit militärischen Mitteln geholfen werden kann oder sollte, wenn der UNO-Sicherheitsrat zu keiner Entscheidung kommt.

NP: Die "Internationale Kommission über Intervention und staatliche Souveränität" ICISS hat zwei Alternativen diskutiert, die greifen könnten, wenn der Sicherheitsrat handlungsunfähig ist. Die erste Alternative bezieht sich auf die bekannte "Uniting for Peace"-Resolution 377 V von 1950, die genau für eine solche Situation geschaffen wurde. Sie ermöglicht es der Generalversammlung, in einer Notsondersitzung über die erforderlichen Maßnahmen zu entscheiden. Ob es für die Generalversammlung allerdings leichter ist, eine Zweidrittel-Mehrheit für eine Entscheidung über einen Militäreinsatz im Plenum zu erhalten, ist fraglich.

Die zweite Alternative wären regionale Organisationen, die in vielen Fällen aufgrund ihrer nachbarschaftlichen Nähe zu der problematischen Zone viel besser für eine Intervention geeignet wären. Art. 52 UN-Charta gewährt ihnen eine gewisse Flexibilität und Art. 53 ermöglicht ihnen sogar, Zwangsmaßnahmen durchzuführen - allerdings nur unter der Autorität des Sicherheitsrats.

Schließlich führen auch alle Überlegungen zur Beschränkung der Ausübung des Veto-Rechts im UN-Sicherheitsrat nicht zu dem von einigen NATO-Staaten erhofften "behutsamen Völkerrechtswandel". Weder eine Begründungspflicht bei Ausübung des Veto noch ein Ausschluss bei Beteiligung an einem Konflikt hätten eine Chance bei den Veto-Mächten. Es ist auch zweifelhaft, ob diese Operation am Veto für die Ziele der Friedensstiftung und des Friedenserhalts wirklich hilfreich sind. Selbst die Aufnahme einer eng begrenzten und klar definierten "humanitären Intervention" in die UN-Charta würde nicht die Zweidrittel der notwendigen Stimmen in der Generalversammlung erlangen, da die Furcht vor einem Missbrauch des Mandats durch die intervenierenden Staaten nach den Erfahrungen der letzten Jahre zu groß ist.

Also bleibt die von Ihnen angesprochene Frage tatsächlich unbeantwortet. Dringlich bleibt ihre Beantwortung dennoch vor allem in den Fällen, in denen aus unterschiedlichen Gründen nicht interveniert wurde, den Völkermorden in Kampuchea und Ruanda. Nicht interveniert wurde auch in Israel trotz der verheerenden und völkerrechtswidrigen Kriege im Gaza-Streifen 2008/09, 2012, 2014 und den jüngsten Massakern während des Rückkehrmarsches in Gaza. Wäre es nicht Israel gewesen, hätte die "Responsibility to protect"-Doktrin durchaus die Rechtfertigung für eine "humanitäre Intervention" mit dem Mandat des Sicherheitsrats gegeben. Damit wir uns richtig verstehen: Dass eine militärische Intervention unterblieben ist, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Dass jedoch nicht einmal politische oder ökonomische Sanktionen - ein durchaus beliebtes Mittel gegen andere Staaten - erwogen wurden, beweist ein weiteres Mal die Heuchelei und Doppelbödigkeit der Diskussion, wenn es um die Begründung von Interventionen geht.

SB: Bedeutet das, die Krise, in der Teile des Völkerrechts stecken, bleibt unauflösbar?

NP: Was immer wieder als Legitimationsproblem oder Krise des Völkerrechts beklagt wird, ist in Wahrheit eine Krise des internationalen Systems und der politischen Kultur der Staaten. Die Fixierung auf das Völkerrecht und seine Verantwortung für den Einsatz militärischer Gewalt übersieht die vorrangige Frage, ob militärische Gewalt überhaupt ein geeignetes Mittel zur Friedensstiftung ist. Die horrenden Zerstörungen, die die Kriege in Irak, Libyen, Syrien an den Menschen und Gesellschaften bis heute hinterlassen, haben die Zustimmung zu diesem Mittel der "Friedensstiftung" unter den Staaten nicht verstärkt. Im Gegenteil, der Krieg als "Mittel zum Frieden" bleibt weitgehend auf die Staaten beschränkt, deren Rüstungshaushalt und militärischer Apparat einen solchen Schritt überhaupt erlaubt und zu einer Alternative im Arsenal der politischen Überlegungen macht.


Norman Paech ist Referent beim diesjährigen Kongress der "Neuen Gesellschaft für Psychologie" vom 7.-10. März in Berlin, wo er unter der Überschrift "Neues Völkerrecht für neue Kriege" ausführlicher über die im Text angesprochenen "neuen Interpretationen" des bestehenden Völkerrechts sprechen wird.

25. Februar 2019


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