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FORSCHUNG/047: Neue Wege in der Umfrage (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 2/2006

Ja - Nein - keine Angabe
Neue Wege in der Umfrage liefern verlässlichere Daten

Von Uwe Engel


Mit flexiblen Fragekatalogen wollen Bremer Sozialwissenschaftler die Beteiligung an Umfragen erhöhen. Wer sich auf lange Interviews nicht einlassen will, soll wenigstens in einer kürzeren Version die wichtigsten Fragen beantworten. So hofft man, auch die Meinung der Umfragemuffel zu erhalten.


Wissenschaftliche Umfragen stellen ein ebenso unverzichtbares wie einflussreiches Instrument der empirischen Sozialforschung dar. Man bedenke nur, wie sehr sie über ihre Ergebnisse zur Bildung der öffentlichen Meinung und zur Entscheidungsfindung in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft, Recht und öffentlicher Verwaltung beitragen.

Man sollte daher annehmen können, dass Umfragen stets so gut gemacht werden, dass aus ihren Ergebnissen keine falschen oder irreführenden Schlussfolgerungen gezogen werden können. Leider ist das nicht der Fall. Umfragen sind fehleranfällig und können nur dann brauchbare Ergebnisse hervorbringen, wenn diese Fehlerquellen wirksam kontrolliert werden.

Neben Fehlern bei der Auswahl der Personen, die eine repräsentative Menge bilden sollen, lauern zahlreiche mögliche Messfehler: im Fragebogendesign, in der Art der Datenerhebung, im Antwortprozess oder durch Interviewereffekte. Hat man die Antworten dann zusammen, lauern weitere Fallen, wenn die Daten zur Analyse vorbereitet werden. Besonders tückisch für die Auswertung sind die Kandidaten, die erst gar nicht auf die Fragen antworten.

All diese Tücken gefährden die Qualität einer Umfrage. Sie zu kontrollieren ist alles andere als trivial. In der Wissenschaftslandschaft treffen wir auf einen ganzen Zweig, den wir gar nicht benötigen würden, wenn alles so einfach wäre. Die Methodik der Umfrage ist ein Gebiet, in dem Sozialforscher, Methodenspezialisten und Statistiker an den Grundlagen wissenschaftlicher Umfragen arbeiten. Führend auf diesem Gebiet ist die USA. Aber auch hier werden die Arbeiten verstärkt in Angriff genommen, nachdem die Deutsche Forschungsgemeinschaft kürzlich ein bundesweites Schwerpunktprogramm eingerichtet hat. Das Programm wird von der Bremer Soziologie aus koordiniert und nimmt nun seine Arbeit auf.

An der Universität Bremen wurden dafür im Arbeitsgebiet Statistik und empirische Sozialforschung einige Vorarbeiten geleistet. Diese konzentrieren sich unter anderem auf den Bereich Umfrageteilnahme und auf Access Panel, also Adressenlisten von Personen, die bereit sind, an Umfragen teilzunehmen.


Lust machen auf ein Interview

Es stellt den Regelfall dar, dass nicht alle Personen, die in eine Stichprobe gezogen werden, für eine Teilnahme an der Befragung gewonnen werden können. Dafür gibt es zwei Gründe: entweder sind sie nicht erreichbar oder sie können nicht zu einer Teilnahme bewogen werden. Das Problem unbeantworteter Fragen betrifft praktisch jede Umfrage.

Die Bremer Soziologen wollen den starren konventionellen Ansatz in der Umfragemethodik aufbrechen und flexible Elemente in das Umfragedesign einbauen. Und zwar schon ganz zu Anfang der Erhebung: in die Situation, in der versucht wird, eine Person zur Teilnahme an einer Umfrage zu bewegen. Damit verfolgen die Bremer das Ziel, auch von denjenigen Antworten zu erhalten, die sich ansonsten nicht für ein Interview zur Verfügung gestellt hätten.

Dabei kommt es entscheidend auf den Interviewer an, wie er das Anliegen der Studie am besten vorstellt, Bedenken gegenüber einem Interview zerstreut und wie er erreicht, dass die Befragten sogar gerne teilnehmen. Und dies alles, ohne die gebotene Neutralität und Zurückhaltung zu verletzen und ohne die Seriosität des Anliegens aufs Spiel zu setzen.

Gefragt ist eine effektive und flexibel auf die Person zugeschnittene Kommunikation. Dies ist nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass im Vorfeld des Gesprächs noch gar nichts über den Interviewpartner bekannt ist. Interviewer sind vielmehr auf die Informationen angewiesen, die eine Person während der Kontaktaufnahme und dem sich unmittelbar anschließenden Gespräch von sich preisgibt. Aus diesem ersten Eindruck versucht der Interviewer, Hinweise auf mögliche Motive oder Bedenken zur Teilnahme herauszulesen und seine Strategie flexibel anzupassen.

Ein flexibler Umfrageansatz bedeutet aber noch mehr. Der Befragte kann den Zeitpunkt des Interviews selbst bestimmen. Er kann zwischen dem Interview in voller Länge oder einer sinnvoll gekürzten Version entscheiden oder auswählen, welche Befragungsmethode zum Einsatz kommt. Ein flexibler Umfrageansatz ist darauf vorbereitet und sieht von vornherein ein abgestuftes Frageprogramm vor: ein volles Programm, ein Kernprogramm und ein nochmals gekürztes Minimalprogramm für die Personen, die ansonsten gar nicht zu einer Teilnahme an der Befragung zu bewegen wären.

Die Bremer Soziologen haben diesen Ansatz in einer Studie zur Wahl des Verkehrsmittels erprobt: Erwiesen sich die ausgewählten Teilnehmer am Telefon als zögerlich, in das erbetene Interview einzuwilligen, wurde ihnen gleich ein um die Hälfte gekürztes Interview angeboten. Immerhin ließ sich die Zahl der Teilnehmer damit um ein Viertel steigern.


Die Meinung der Schweigenden

Weil nun auch Antworten von Personen aus der gewählten Stichprobe vorliegen, die ansonsten zu den Ausfällen zu zählen gewesen wären, sind die Ergebnisse der Umfrage weniger verzerrt. "Nonresponse" führt zwar nicht zwangsläufig zu Komplikationen. Schwierig wird es aber, wenn sich die heimliche Meinung der ausgefallenen Personen von den Antworten der aktiven Teilnehmer unterscheidet: Werden Schätzungen für die Population, aus der die Stichprobe ursprünglich gezogen wurde, nur auf Basis der eingegangenen Antworten vorgenommen, kann sich ein falsches Bild ergeben.

Ein Beispiel aus der Studie zur Verkehrsmittelwahl illustriert den Unterschied: Dort lag der Anteil von Personen, die ihre täglichen Wege mit dem Auto zurücklegen, in der Hauptfassung des Interviews bei 56 Prozent. Von den Teilnehmern, die nur die gekürzte Fassung beantworten wollten, fahren 78 Prozent mit dem Auto. Ohne den flexiblen Ansatz hätte die Studie diese zweite Gruppe gar nicht einbeziehen können und in der Folge den Anteil der Autonutzer mit 56 Prozent klar unterschätzt. Über beide Gruppen hinweg lag dieser Anteil immerhin bei 61 Prozent.

Kein Wunder also, dass die Meinungsforscher so darauf bedacht sind, etwaige Unter- oder Überschätzungen zu erkennen und durch geeignete Gewichtungen auszugleichen. Es geht um die Qualität und Aussagekraft der Studie. Um solche Korrekturen aber vornehmen zu können, benötigen sie im Prinzip genau die Informationen, die ihnen fehlen: die Antworten derer, die nicht geantwortet haben, obwohl sie zur Stichprobe gehören.

Genau hier bietet ein flexibler Umfrageansatz den Vorteil, die übliche Gegenüberstellung von Teilnehmern und Nichtteilnehmern auflösen zu können. Stattdessen werden graduelle Abstufungen von leicht bis schwer erreichbaren Personen eingeführt. Manche Personen werden unkompliziert in ein Interview einwilligen und wären entsprechend "leicht erreichbar". Bei anderen wiederum mag erst mehr oder weniger Überzeugungsarbeit zu leisten sein; es kann mehrerer Anläufe bedürfen, bis ein zumindest gekürztes Interview zustande kommt.

Mit den nun vorliegenden Daten ist es sogar möglich, selbst die Antworten von Totalverweigerern besser abzuschätzen. So können nun aus der abgestuften Neigung zu antworten und den Umfrageergebnissen für jede dieser Stufen die fehlenden Antworten hochgerechnet werden. Damit entfällt die Notwendigkeit, die Datensätze anhand von externen Informationsquellen zu adjustieren. Das ist von Vorteil, da sich die Neigung zu antworten nach unseren Erfahrungen kaum durch Register- oder Regionalinformationen erklären lässt.


Listen mit lauter Willigen

Immer beliebter werden sogenannte Access Panels (AP). Das sind Adressenpools, aus denen Stichproben für Befragungen gezogen werden. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, solche Pools aufzubauen, aber eine Kernfrage lautet auch hier stets: Wer nimmt eigentlich daran teil? Dass dies eine Schlüsselfrage ist, verdeutlicht folgender Gedanke: Jemand, der einem AP beitritt, ist zum befragungsbereiten Teil der Bevölkerung zu zählen. Wenn nun aber Erkenntnisse über die Gesamtbevölkerung angestrebt werden, kann der nichtbefragungsbereite Teil der Bevölkerung in einem AP offenkundig gar nicht vertreten sein.

Auch hier muss es also möglich sein, Schätzungen zu adjustieren. Und selbst wenn man gar nicht an Aussagen über allgemeine Bevölkerungen interessiert ist, sondern an klarer begrenzten wie der einer Studentenschaft: selbst dann bleibt die Teilnahmefrage kritisch. Access Panels fügen einer persönlichen Entscheidung über Teilnahme an einer Umfrage sogar noch eine vorgelagerte Stufe hinzu: Beitritt zum AP - ja oder nein.

Zwei Projekte der Bremer Soziologen haben sich der Fragen angenommen, wie solche Entscheidungen zustande kommen und wie sie durch das Umfragedesign beeinflussbar sind. Die Idee, einem Access Panel beizutreten stieß im Studienbarometerprojekt auf einige Akzeptanz, aber auch auf Vorbehalte. Immerhin fast die Hälfte der Befragten hinterließ ihre E-Mail-Adresse für den AP. Ausschlaggebend war etwa ein grundsätzliches Interesse an Onlinebefragungen sowie an universitären und studentischen Belangen.

Gegen den Eintrag in ein AP spricht vor allem die Sorge vor unverlangter Post und - nichts ist umsonst - die Haltung, ohne Gegenleistung keine wertvollen Informationen liefern zu wollen. Besser als ein "kleines Dankeschön" - so eine Studie des Sozioland-AP - wäre dabei eine Belohnung von fünf Euro, gerne darf's auch ein bisschen mehr sein.

Informationen über das Arbeitsgebiet:
www.sozialforschung.uni-bremen.de


Uwe Engel leitet das Sozialwissenschaftliche Methodenzentrum der Universität Bremen. Nach seiner Promotion über soziologische Methodologie und Datenanalyse in Hannover 1986 habilitierte er in Bielefeld 1993 über "Riskante Lebensverhältnisse" von Kindern und Jugendlichen. Seit 2000 ist er Professor für Statistik und empirische Sozialforschung in Bremen.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 2/2006 (Dezember 2006), Seite 18-21
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Universitäts-Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2007