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FORSCHUNG/051: Sogenannte Amokfälle (Bi.research - Uni Bielefeld)


BI.research 30.2007
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

So genannte Amokfälle
Problem und Skizze eines Forschungsvorhabens

Von Britta Bannenberg


Im November 2006 plante ein 18-Jähriger in einer Schule in Emsdetten, viele Personen zu töten, ein "Blutbad" anzurichten, verbreitete dieses zuvor im Internet und tötete sich anschließend selbst mit einem Schuss in den Kopf. Diese sehr seltenen Fälle, deren Motivation sich nicht auf den ersten Blick erschließt, sind empirisch kaum erforscht. Der Begriff "Amok" ist aus wissenschaftlicher und polizeipraktischer Sicht untauglich. Weder passt die ursprünglich aus dem malaiischen abgeleitete Bedeutung "zornig", "rasend" und der damit gemeinte spontane, ungeplante Angriff in Tötungsabsicht auf unbeteiligte Personen noch die in der amerikanischen Definition verwendete Umschreibung einer Massentötung von mindestens drei Personen innerhalb eines Geschehens. Die Phänomene, die sehr willkürlich mit dem label "Amok(lauf)" versehen werden, sind in der Regel nicht ungeplant, treffen sehr wohl auch dem Täter bekannte oder nahe stehende Personen und eine solche (versuchte) Mehrfachtötung kann, muss aber nicht mehrere Personen betreffen. Sehr häufig ist der anschließende Suizid, aber nicht in jedem Fall, und nicht immer ist ein Suizid geplant oder versucht worden.

Bislang fehlen empirische Studien weitgehend. Die wissenschaftliche Erfassung ist schwierig, weil eine taugliche Definition nicht vorhanden und schwer zu treffen ist. Phänomenologisch geht es um die Problematik von (versuchten) Mehrfachtötungen, die ein einziges Geschehen betreffen - im Unterschied zum Serienmord. Auch die Motivlage ist relevant. So sind Raubtaten, terroristische und sexuell motivierte oder sonst spezifisch motivierte Tötungen auszuschließen. Meistens handelt es sich um Taten junger Menschen im Schul- oder Familienkontext, um Taten Erwachsener im familiären Umfeld und um Fälle von erwachsenen Männern, die mehrere ihnen bekannte oder unbekannte Menschen töten oder dieses versuchen. Allein diese zaghaften Umschreibungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten.


Störungen und Auffälligkeiten im Vorfeld erkennen

Eine in der Entstehung begriffene eigene empirische Untersuchung versucht, diese Fragen näher zu beleuchten. Ausgangspunkt wird die Analyse von Polizei- und Strafakten sein, die derartige Phänomene betreffen. Es erscheint unumgänglich, sich mit den Fällen selbst so tief wie möglich (also auch durch zusätzliche Materialsammlungen und Interviews) zu befassen, um zunächst in einer sehr umfangreichen Einzelfallanalyse Aufschluss über mögliche Ursachen des Gewaltausbruchs im Einzelfall zu gewinnen. Ob sich aus einer anschließenden Queranalyse untersuchter Fälle Anhaltspunkte für übergreifende Gesichtspunkte finden lassen, kann nicht beurteilt werden. Die seltenen Vorkommnisse verbieten ein quantitativ orientiertes Vorgehen. Jedenfalls werden die Einzelfallanalysen Antworten auf vorschnelle Behauptungen zu den Ursachen geben. Zumindest im Sinne eines Ausschlusses von Hypothesen (etwa: die Täter wurden alle zuvor Opfer von Gewalt) geben die Fallanalysen Antworten. Darüber hinaus sind aus den Einzelfällen natürlich Hinweise auf mögliche Ursachenzusammenhänge zu ziehen, die präventive Bedeutung erlangen können. Auch hier wird realistischerweise nie ein Präventionsprogramm speziell zur Vermeidung von "Amoktaten" entwickelt werden können. Es geht mehr darum, mögliche Störungen und Auffälligkeiten im Vorfeld zu erkennen und damit Entwicklungsverläufe frühzeitig positiv beeinflussen zu können. Damit wird sich die Frage verbesserter Frühprävention von psychischen Störungen, Suizid-, und Drogenprävention stellen. Man gewinnt den Eindruck, sowohl die späteren Täter selbst wie auch die Eltern, stünden den bemerkten Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsentwicklungen hilflos gegenüber. Erforderlich wäre ein leichterer Zugang zu jugendpsychiatrischer Klärung und Unterstützung.


Was tun, wenn Gewalttaten angedroht werden?

Ein weiterer wichtiger Forschungsbedarf verbindet sich sowohl mit den Ursachen- wie Präventionsfragen bei der Frage der Beurteilung von Drohungen insbesondere im schulischen Bereich. Was ist zu tun, wenn ein Schüler wütend androht, er werde morgen den Lehrer erschießen?

Dieselbe Problematik ist etwa bei angekündigten Tötungen des Ehepartners oder des früheren Arbeitgebers relevant. Der polizeiliche Umgang mit diesen Drohungen erfordert eine Einschätzung des Realitätsgehalts, um letztlich Ressourcen zu schützen und wirkliche Bedrohungen erkennen und ausschalten zu können. Die relevanten Informationen und der Austausch darüber ist jedoch nicht allein Aufgabe der Polizei und muss in den Institutionen, vor allem den Schulen, selbst geleistet werden. In der Praxis wurde durch die Erfahrungen mit den letzten Fällen bereits das Einsatzverhalten der Polizei bei sogenannten "Amoklagen" - hier bleibt der Begriff bedeutsam - geändert.


Erste Auswertungen zu Täterpersönlichkeiten

Die Untersuchung wird sich mit den Phänomenen (versuchter) Mehrfachtötungen durch junge Täter, erwachsene Täter im Familienkontext und sonstige erwachsene Täter auf der empirischen Grundlage von Fallanalysen beschäftigen. Begonnen wurde bereits mit der Sammlung zahlreicher Fälle und mit der Auswertung erster Fälle junger Täter.

Im Bewusstsein der Vorläufigkeit der Auswertung fallen bislang bei acht ausgewählten Fällen verschiedene Umstände auf: Die Verfügbarkeit von Schusswaffen ist ein sehr hoher Risikofaktor. Die Waffen gehören in der Regel Vätern oder männlichen Verwandten, sind unzureichend gesichert und werden gemeinsam mit der Munition gelagert. Zudem zeigen die jungen Täter über Jahre eine ausgeprägte Affinität zu Waffen und Militärinhalten. Auch andere Tatmittel (Sprengmittel, Rauchbomben, Macheten und Messer) üben eine Faszination aus und finden sich zahlreich in den Zimmern der Jungen. Die Schwere der Verletzungen wird erheblich von der Verwendung scharfer und durchschlagskräftiger Waffen bestimmt. Zudem verfügen die Täter zum Teil über enorme Treffsicherheit, was die Frage der Einübung durch scharfe Waffen wie auch durch bestimmte Computerspiele aufwirft. Die Beziehung zum Vater scheint in einigen Fällen allein über den Umgang mit Waffen bestimmt zu sein. Auffällig ist die Ambivalenz der Verherrlichung von Waffen und Militaria (auch etwa durch Spielen mit Airsoft-Waffen im Wald) und körperlicher Untrainiertheit sowie Angst vor körperlicher Anstrengung und Auseinandersetzung. Schwarze Kleidung mit Rächerfiguren (Stichwort Matrix) weisen auf Nachahmung von oder Identifikation mit fiktiven Helden, aber auch etwa auf andere Amokläufe (Columbine) hin. Ebenso zeigt sich eine intensive Beschäftigung mit Videofilmen und Computerspielen mit gewaltrelevanten Inhalten. Hier ist nicht nur der Inhalt mit seinem Nachahmungspotential zu beachten, sondern auch die enorme Zeit, die mit dem Spielen verbracht wird. Regelmäßig sind schulische Defizite ausgeprägt. In der Beziehung zu den Eltern fällt auf, dass hier kein broken-home-Hintergrund mit Gewalterfahrungen der Jugendlichen gegeben ist, sondern eher kleinbürgerliches oder Mittelschicht-Milieu, in dem man den Jugendlichen gewähren lässt, keine Konflikte über das als problematisch erkannte Verhalten austrägt und nebeneinander her lebt. Die Täterpersönlichkeiten scheinen in weitaus höherem Maß psychopathologisch als bisher angenommen. Äußerungen von Rachebedürfnissen erscheinen gänzlich überzogen und nicht nachvollziehbar. Die Täter sind jedoch keine Intensivgewalttäter, sondern eher rückzügliche Einzelgänger mit hoher Kränkbarkeit. Es fallen häufig Andeutungen über frühere "Amok"-taten, diese werden aber nicht ernst genommen. Zu überlegen ist, wie insbesondere Gleichaltrige, die derartige Andeutungen, aber auch Ankündigungen eigener Taten häufig zuerst erfahren, ermutigt werden können, diese Inhalte Erwachsenen mitzuteilen. In der Schule ergibt sich das größte präventive Handlungspotential. Die späteren Täter fallen in der Regel nur aufmerksamen Lehrern als sehr still und problematisch auf. Da jedoch kein großes Stör- oder gar Gewaltpotential von ihnen ausgeht, werden diese Auffälligkeiten nicht weiter beachtet. Im Zusammenhang mit Nichtversetzungen und Schulausschlüssen gibt es Verbesserungsbedarf.

Das große Problem der Nachahmer und insbesondere nicht tatgeneigter Trittbrettfahrer, die polizeiliche Ressourcen unnütz binden, verlangt nach professionellerem Umgang mit Bedrohungsszenarien. Es sollte angesichts der gewaltigen Medienaufmerksamkeit, die solche Fälle nach sich ziehen, über eine sehr zurückhaltende Informationspolitik öffentlicher Stellen nachgedacht werden.


Dr. Britta Bannenberg studierte Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen und promovierte dort 1993 zum Thema "Täter-Opfer-Ausgleich: Wiedergutmachung in der Strafrechtspraxis". Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen war sie 1995 bis 2001 wissenschaftliche Assistentin an den Universitäten Halle/ Saale und Marburg. 2001 habilitierte sie sich mit einer Arbeit über "Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle, eine kriminologisch-strafrechtliche Analyse". Seit 2002 ist sie Professorin für Kriminologie, Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der Universität Bielefeld und im Vorstand des IKG. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben Korruption: Gewaltkriminalität, Kriminalprävention, Täter-Opfer-Ausgleich; Fragen der Prävention und Eskalation von Gewalt in Paarbeziehungen; Kriminalprävention in problematischen Stadtteilen; Kriminalität von Migranten und Spätaussiedlern.


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Quelle:
BI.research 30.2007, Seite 36-40
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2007