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GESELLSCHAFT/202: Der Demokratiebewegung von 1989 ist die Ernüchterung gefolgt (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2009

Das Ende einer Euphorie
Den Demokratiebewegungen von 1989 ist längst die Ernüchterung gefolgt

Von Erhard Stölting


Die Zeit der Demokratiebewegungen in Ostmitteleuropa, die dort 1989 den Sozialismus beendeten, liegt weit zurück. Die Mehrheit der Studierenden hat daran nicht einmal mehr Kindheitserinnerungen. Verschwunden sind damit auch die realistischen und unrealistischen Hoffnungen, die sich mit dem Begriff "Demokratie" verbanden. Die Menschen haben sich längst eingerichtet. Es herrscht eine äußere Ruhe vor. Hinter der allerdings kann sich eine tiefe Unzufriedenheit verbergen. Weil sie sich in einer Demokratie äußern kann, ballt sie sich nicht zur Bewegung zusammen.


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Die Demokratie ist heute eine Regierungsform in Europa, innerhalb derer Krisen bearbeitet und Interessen durchgesetzt werden. Einige nutzen zwar die Handlungsmöglichkeiten, die die Demokratie eröffnen, etwa um überflüssige Großprojekte zu bremsen, um die Zerstörung von Kulturdenkmälern zu stoppen, um die Einrichtung von Jugendzentren zu fordern oder um den Bau von Moscheen zu verhindern. Diese Initiativen leiden nicht unter staatlichen Behinderungen, sie haben es schwer, Mitstreiter zu gewinnen. Die Mehrheit partizipiert lieber als Zuschauer am politischen Showgeschäft. Ansonsten ist Politik vor allem Sache jener, die die entsprechenden Ämter besetzen. Unter den Jüngeren engagiert sich in der Politik vor allem, wer eine entsprechende Karriere anstrebt.

Das war 1989 scheinbar anders. In der DDR, aber auch in den anderen sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas, gab es Massenbewegungen, an die sogar Politikwissenschaftler optimistische Zukunftshoffnungen knüpften. Nicht nur die Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsformen schien auf der Tagesordnung zu stehen, sondern auch eine neue Art partizipatorischer Demokratie. Die Leitidee der Souveränität des Volkes schien sich in der mobilisierten Bevölkerung zu materialisieren. Es lohnt aber, genauer hinzuschauen.

Es lassen sich mehrere Akteure unterscheiden, die die Veränderungen trugen. Erstens idealistische Oppositionelle, die sich Repressionen ausgesetzt hatten und auch jetzt persönliche Risiken in Kauf nahmen; zweitens die großen Menschenmengen, die sich für eine kurze euphorische Zeit zusammenfanden. Sie delegitimierten sichtbar den Anspruch der bisherigen Führungseliten, das Volk zu repräsentieren.

Die sichtbaren sozialistischen Führungseliten verschwanden in der Folge fast überall aus dem politischen Leben. In Deutschland wurden auch die nicht-öffentlich agierenden funktionalen Eliten partiell ausgetauscht. Die idealistischen Oppositionellen, die kurze Zeit den demokratischen Kairos zu erleben geglaubt hatten, wurden mit wenigen Ausnahmen wieder abgewählt. Die begeisterten Mengen, die die Wende herbeidemonstriert hatten, verliefen sich wieder. Euphorien lassen sich nicht auf Dauer stellen; die Ernüchterung war unausweichlich.

Die demokratischen Strukturen, die dann aufgebaut wurden, weckten keine massenhafte Begeisterung. An die neue Konsumwelt hatten sich die meisten rasch gewöhnt. Die neuen politischen Freiheiten waren rasch zu selbstverständlich, als daß sie kaum noch bemerkenswert schienen. Viele von denen, die sich hoffnungsfroh an den Demonstrationen beteiligt hatten, erfuhren einen sozialen Abstieg, den sie nicht hatten vorhersehen können. Aber auch jene, die in den neuen Verhältnissen sehr gut zurechtkamen, konzentrierten sich überwiegend auf ihre drängenden Alltagsprobleme. Die Mahnungen der aktiven ehemaligen Oppositionellen wurden rasch unhörbar. Die meisten von ihnen waren bald wieder in Nischen marginalisiert, in denen sie entweder weiterhin ihre alten Feinde bekämpften, oder ihre Erinnerungen pflegten oder ganz resignierten.

Auf jeden Fall hat die große Demokratiebewegung, die die Wende herbeiführte, nicht jene politisch aktive Gesellschaft zustande gebracht, die viele erhofft hatten. Die meisten Menschen richteten sich pragmatisch ein. Sie hatten ein Leben zu führen, Kinder großzuziehen, beruflich weiterzukommen; sie liebten entspannte Geselligkeit und versuchten überflüssigen Ärger zu vermeiden. Wer einen Arbeitsplatz hatte, wollte ihn behalten, wer die Chance auf Aufstieg sah, wollte ihn nicht verpatzen. Die Demokratie, in der man nun lebte, wurde bejaht wie das Wetter.

Öffentlich solidarisieren sich Bürger vielleicht dann, wenn ihnen etwas besonders am Herzen liegt - wenn es etwa darum geht, ein Biotop zu schützen, Windräder zu entfernen, eine Kindertagesstätte zu verlangen oder den Bau einer Moschee zu verhindern - aber die Zeit, die dafür aufgewendet wird, muß mit jener ausgewichtet werden, die dann für andere Tätigkeiten fehlt. Zu einer potentiellen Demokratiebewegung addiert sich das nicht.

Hinter der äußeren Ruhe kann sich allerdings durchaus tiefe Unzufriedenheit verbergen. Aber gerade weil sie sich äußern kann, ballt sie sich nicht zu Bewegung zusammen. Solange Pessimismus, Wut, frustrierte Ideale, sozialer Abstieg und schlechte Laune nicht verboten sind, ballen sie sich nicht zu gefährlichen Bewegungen zusammen. Das Regieren wird dadurch nicht leichter. Auch die Gefahr einer Systemkrise besteht nicht, zumindest nicht von Seiten jener, die ein altes Ideal von Demokratie zur politischen Wirklichkeit machen wollen.

1989 hat gezeigt, daß marginale, idealistische Gruppen Einfluß gewinnen können, wenn es ihnen gelingt die unzufriedene Bevölkerung zu ihrem Resonanzboden zu machen. Aber wir wissen auch, daß Massenbewegungen, die tiefgreifende Veränderungen bewirken, nicht immer Demokratiebewegungen sind.


Erhard Stölting ist emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie der Universität Potsdam.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2009, Seite 20-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2009