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GESELLSCHAFT/207: Das Generationen-Geheimnis - Dialog statt Druck (DJI)


DJI Bulletin 2/2009, Heft 86
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Das Generationen-Geheimnis
Dialog statt Druck

Von Ludwig Liegle


Erziehung und Bildung gelingen nur, wenn Erwachsene und Kinder in einen offenen Dialog treten. Das fordert alle Beteiligten heraus, doch genau darin liegt die große Chance. Wie Generationen voneinander lernen können.


»Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!«, hat Johann Wolfgang von Goethe einst dem Faust in den Mund gelegt. In diesem Satz hat er den Zusammenhang zwischen Bildung und Erziehung auf der einen Seite und Generationenfolge und Generationenbeziehungen auf der anderen Seite prägnant formuliert. Denn das »Ererben« von Kultur bedeutet eben nicht passive Übernahme. Es erfordert eigenes Zutun: Menschen ahmen nach, hinterfragen, bewerten und verarbeiten Informationen. Die Pädagogik beschreibt diese Aneignung mit den Begriffen Lernen und Bildung. Mit dem Plural »Väter« verweist Goethe zudem auf die Überlieferung des Erbes von einer Generation zur nächsten. Auch beim »Vererben« von Kultur ist eigene Aktivität notwendig: Menschen erklären, unterstützen, stimulieren und sind Vorbild. Die Pädagogik spricht bei dieser Vermittlung von Erziehung und Unterricht.

Die Prozesse des Ver- und Ererbens von Kultur bedingen sich wechselseitig. Sie werden dadurch ermöglicht, dass »Väter« und »Söhne« eine dauerhafte Beziehung miteinander eingehen. Das heißt: Die Vermittlung und Aneignung von Kultur haben ihren primären sozialen Ort in Generationenbeziehungen. Im Prozess des Erwerbens liegt die Chance, das Erbe neu zu deuten und weiter zu entwickeln. Diese Chance wird in komplexen Gesellschaften dadurch erhöht, dass Erziehen und Lernen nicht allein in der Familie stattfinden, sondern außerdem in den sozial organisierten Generationenbeziehungen im Erziehungssystem einer Gesellschaft. Goethes sinnbildliche »Väter« sind damit nicht nur Eltern und Großeltern, sondern auch Erzieherinnen und Lehrer. Würde deren Erziehung nicht auf die Bereitschaft und Fähigkeit der Kinder stoßen, sich Wissen und Werte anzueignen, müsste sie ins Leere laufen.


Ein Dialog verändert beide Seiten

Indem das kulturelle Erbe nur durch den aktiven Erwerb zum Besitz werden kann, gewinnt es einen dynamischen Charakter. Mit anderen Worten: Erziehung und Bildung werden im Dialog hervorgebracht, der vielfältige und auch widersprüchliche Facetten aufweist. Die Interaktion ist beispielsweise durch zeitliche, sozialräumliche und soziokulturelle Bedingungen sowie durch Persönlichkeitsmerkmale geprägt. Erziehung beinhaltet immer auch einen konfliktreichen Dialog der Generationen, denn die wechselseitige Anerkennung der beteiligten Personen und ihrer unterschiedlichen Lebensperspektiven muss ständig neu ausgehandelt werden. Dabei kann nicht nur die jüngere Generation von der älteren lernen. Vielmehr findet »Erziehung« auch umgekehrt statt. Das heißt: Kinder »erziehen« ihre Eltern, Geschwister und Gleichaltrige »erziehen« sich wechselseitig (Liegle/Lüscher 2004).

Werden Erziehung und Bildung als Dialog der Generationen verstanden, so bedeutet dies: Nicht eine Person erzieht eine andere Person, sondern Beziehungen zwischen Personen erziehen (beziehungsweise deren innere Repräsentationen etwa im Sinne von Freuds Konzept des »Über-Ich« oder Meads Konzept des signifikanten oder »verallgemeinerten Anderen«). Mit Hilfe des Konzepts des Dialogs der Generationen kann man den Kernbereich des Erziehungs- und Bildungsgeschehens beschreiben. Andererseits gibt es aber auch viele Formen des Lernens, die nicht aus den gelebten Beziehungen zu anderen Menschen hervorgehen. Dies trifft beispielsweise für die Nutzung von Medien zu, aber auch für Lernprozesse, die durch die Strukturen der Lebenswelt und der Institutionen angeregt werden.


Neue Partner in der Erziehung

Da ein weltweit wachsender Anteil von Kindern und Jugendlichen Einrichtungen des Erziehungssystems besuchen, gewinnt die öffentliche Verantwortung für die junge Generation ein immer stärkeres Gewicht. Das sozial organisierte pädagogische Generationenverhältnis wird damit zu einem zentralen Element in der gesellschaftlichen Ordnung sowie in der Struktur der individuellen Lebensläufe. Für den Alltag der Kinder und Jugendlichen bedeutet dies: Mehr denn je wird von ihnen erwartet, für immer längere Phasen ihres Lebenslaufes die Rolle von Lernenden in Bildungsinstitutionen wahrzunehmen. Komplementär steigt die Zahl der pädagogischen Fachkräfte, denen die Aufgabe zugeschrieben wird, Kinder und Jugendliche beim Erwerb von Weltwissen, Orientierung und Handlungsfähigkeit zu unterstützen und anzuregen. Diese voranschreitende Institutionalisierung des pädagogischen Generationenverhältnisses steht in einem dynamischen Spannungsverhältnis zu der Tendenz zur Relativierung altersbezogener Zugehörigkeitsordnungen (Böhnisch/Blanc 1989); das kommt beispielsweise darin zum Ausdruck, dass Lernen zu einer den gesamten Lebenslauf begleitenden Aufgabe wird.

Die verstärkte Zuweisung der Aufgaben des Erziehens und Lernens an öffentliche Einrichtungen hat zum einen mit dem Erfordernis zu tun, Eltern zu ermöglichen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren. Zum anderen folgt sie der Überzeugung, Bildung stelle die wichtigste Ressource nicht nur für die Persönlichkeitsentwicklung jedes Individuums dar, sondern auch für die Sicherung und Mehrung des Humanvermögens der Gesellschaft. Insbesondere im Hinblick auf die große Kinderarmut in Deutschland ist eine gezielte individuelle Förderung der Familien notwendig, da der Schulerfolg in der Bundesrepublik immer noch stark an die soziale Herkunft der Kinder gekoppelt ist. In Ländern wie Kanada oder Dänemark gelingt es deutlich besser, solche sozialen Ungleichheiten gering zu halten.


Zwischen Fortschritt und Verfall

Erziehungspartnerschaften, aber auch eine verstärkte Elternarbeit und -bildung können sicher weiterhelfen. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Forderungen in den zurückliegenden drei Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung sowie zahlreicher Praxisprojekte nicht allein darauf abzielen, die öffentlichen Bildungs- und Erziehungsangebote quantitativ weiter auszubauen, sondern sie auch qualitativ zu verbessern. Erziehung soll demnach als »gemeinsame Verantwortung« wahrgenommen werden, und zwar im Sinne einer »Erziehungspartnerschaft« von Familien, öffentlichen Instanzen sowie der Vernetzung aller betroffenen Dienstleistungsangebote im Gemeinwesen. Damit wird die Vision eines »pädagogischen Generationenvertrags« (Rauschenbach 1998; Winterhager-Schmid 2001) formuliert, der private und öffentliche Erziehung und Sorge integriert. Dieser betrifft auf Seiten der öffentlichen Erziehung neben dem Schulsystem auch die Einrichtungen und Projekte der informellen Erziehung und Bildung innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (Schweppe 2002).

Da die Prozesse der Vermittlung und Aneignung eine spannungsreiche Einheit bilden, besteht zwischen Absicht und Erfolg kein kausaler Zusammenhang. Die Wirkung von Erziehung ist damit offen. Darin liegt einerseits ein Problem für die Vermittler, andererseits erwächst daraus aber auch erst die Möglichkeit, dass sich das kulturelle Erbe verändert. Wie dieser Wandel ausfällt und ob es sich dabei um eine Fortschritts- oder Verfallsgeschichte handelt, wird von vielen Faktoren bestimmt. Eine fruchtbare theoretische Analyse des komplexen Problems der Überlieferung des kulturellen Erbes in der Generationenfolge findet sich in den aus Mitschriften rekonstruierten Vorlesungen von George Herbert Mead (1910/2008) zur Philosophie der Erziehung. Meads Theorie besagt, dass der Prozess der »Übernahme« selbst »das Übernommene verändert und somit im Verlauf der aufeinander folgenden Generationen den allgemeinen Wandel herbeiführt«.

Die von Mead postulierte soziale Logik der Vermittlung und Aneignung kommt erst unter der historischen Voraussetzung voll zur Geltung, dass Erziehung und Bildung immer mehr von der familialen Lebenswelt abgekoppelt und in einem relativ autonomen Handlungsfeld institutionalisiert werden. Erst die Etablierung eines professionellen Erziehungssystems, die Orientierung an einem universalistischen Kanon der Allgemeinbildung und Aneignungsprozesse der nachwachsenden Generation, die nicht vom unmittelbaren Druck materieller Reproduktion und sozialer Anpassung begrenzt werden, schaffen die Gelegenheit dafür, dass die nachwachsende Generation das kulturelle Erbe in kritischer und konstruktiver Perspektive erwerben und weiter entwickeln und als Bezugsrahmen der Identitätsbildung ausdeuten und auswählen kann.


Ludwig Liegle ist Professor im Ruhestand am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pädagogik der frühen Kindheit und Familienerziehung. Unter anderem verfasste er mit dem Soziologen Kurt Lüscher das erste deutschsprachige interdisziplinäre Lehrbuch zur Generationenthematik »Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft«.

Kontakt: ludwig.liegle@uni-tuebingen.de


Literatur :

Böhnisch, Lothar / Blanc, Klaus (1989): Die Generationenfalle. Von der Relativierung der Lebensalter. Frankfurt am Main

Liegle, Ludwig / Lüscher, Kurt (2004): Das Konzept des »Generationenlernens«. In: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 1, S. 38-55

Mead, George Herbert (1910/2008): Philosophie der Erziehung, herausgegeben und eingeleitet von Daniel Tröhler und Gert Biesta. Bad Heilbrunn

Rauschenbach, Thomas (1998): Generationenverhältnisse im Wandel. In: Ecarius, S. 13-40

Schweppe, Cornelia (Hrsg.; 2002): Generation und Sozialpädagogik. Theoriebildung, öffentliche und familiale Generationenverhältnisse, Arbeitsfelder. Weinheim und München

Winterhager-Schmid, Luise (2001): In: Kramer, Rolf-Torsten / Helsper, Werner / Busse, Susann (Hrsg.): Pädagogische Generationenbeziehungen. Opladen, S. 239-255


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Quelle:
DJI-Bulletin Nr. 2/2009, Heft 86, S. 10-11
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2009