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GESELLSCHAFT/227: Zur Wiederkehr sozialer Unsicherheit (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010

Zur Wiederkehr sozialer Unsicherheit

Von Christoph Reinprecht


Würde Ulrich Beck sein vor einem Vierteljahrhundert erschienenes Buch (Risikogesellschaft) heute "Gefahrengesellschaft" nennen? Risiken gelten als kalkulierbar und eingrenzbar, als entscheidungsabhängig und somit zurechenbar und verantwortbar. Gefahren hingegen erscheinen als etwas, das von außerhalb eindringt, gewalthaft und unbeherrschbar. Risiken begegnet man mit Strategien der Prävention; Gefahren gilt es zu vermeiden. Das Projekt der Moderne zielte darauf ab, Gefahren in Risiken zu verwandeln. Heute dominiert erneut eine aufgeheizte Gefahrenrhetorik die gesellschaftliche Selbstbeschreibung und den öffentlichen Diskurs.


Als gefährlich gelten Gentechnik und Erderwärmung, demografische Alterung und Globalisierung, Parallelgesellschaften und Vorstädte, Migration und die Ausbreitung des Islam. Bei all ihrer Unterschiedlichkeit haben diese Phänomene gemeinsam, dass sie zu vielschichtig sind, um Handlungen und Entscheidungen direkt zugerechnet werden zu können. Sie stehen für die komplexe Risikolage der späten, der zweiten Moderne, in der die nationale Politik zunehmenden Kontrollverlust beklagt, die sich selbst so bezeichnende Wissensgesellschaft immer größere Felder von Nicht-Wissen einräumt, während das Alltagshandeln wachsender Unsicherheit ausgesetzt ist und Ohnmacht verspürt, aus der heraus es die unaufhörlich auch medial inszenierten "neuen Gefahrenpotenziale" als Naturgefahren dramatisiert und skandalisiert.


Soziale Unsicherheit

Unter den großen Verunsicherungen, die in der Gesellschaft zirkulieren und lebensweltliche Zusammenhänge alarmieren, nimmt das Gefühl der sozialen Unsicherheit einen besonderen Stellenwert ein. Nicht erst seit der Wirtschaftskrise, wenngleich durch diese verstärkt, wächst der Anteil jener, denen die allgemeine Entwicklung Angst macht, die ihre eigene, aber auch die allgemeine wirtschaftliche Situation prekär bewerten und sich nach der stabilen Arbeitsmarktlage, den Sicherheiten früherer Tage zurücksehnen. Reagieren die Menschen auf die neoliberale Restrukturierung des Wohlfahrtsregimes, oder reflektiert das Unsicherheitsempfinden die zunehmende Sichtbarkeit globaler Risiken? Sind es die objektiven Lebensbedingungen, welche die Gefühle sozialer Unsicherheit auslösen, oder haben sich eher die subjektiven Parameter verschoben?

Die sozialwissenschaftliche Literatur gibt keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen. Sie legt unterschiedliche Deutungs- und Erklärungsangebote vor, die auf folgende Ursachen der Erzeugung von Unsicherheit hinweisen:

Prekarisierung der Erwerbsarbeit:
Soziale Unsicherheit reflektiert die Ausweitung instabiler Lagen am Arbeitsmarkt. Atypische und flexibilisierte Beschäftigungsverhältnisse wie Teilzeitarbeit, Geringfügigkeit, neue Selbstständigkeit oder Leiharbeit florieren, wie sich auch im Kontext der aktuellen wirtschaftlichen Erholungsphase zeigt: Ein Großteil der in den letzten Monaten neu geschaffenen Arbeitsplätze fällt laut Arbeitsmarktstatistik in die Kategorie prekärer Beschäftigung; zeitlich häufig befristet, sozialrechtlich nur eingeschränkt abgesichert und exponiert die betroffenen Individuen über die sozialrechtlichen und materiellen Restriktionen hinaus auch in sozialer (Arbeitsplatz bildet keinen Solidarzusammenhang) und psychosozialer Hinsicht (geringe identitätsstiftende Funktion von Betriebsbindung und Beruf).

Ausschließender Charakter der Armut:
Die Erosion der Normalerwerbsverhältnisse bewirkt eine Ausdehnung von Zonen sozialer Unsicherheit und Verwundbarkeit. Verstetigte Prekarität (working poor) sowie dauerhafte Erwerbslosigkeit erhöhen das Risiko von Armutsverfestigung und sozialer Exklusion, insbesondere in Verbindung mit schwachen Solidarbeziehungen, sozialem Rückzug und sozialer Isolation. Die aktuelle Literatur spricht vom "ausschließenden Charakter der Armut" und bemüht dabei, in Anspielung auf das vormoderne Zeitalter, die Figur des Nutzlosen und Überflüssigen. Gemäß der Logik des Arbeitsmarktes gilt als überflüssig, wer für das System der Erwerbsarbeit nicht mehr aktivierbar ist. Diese Erfahrung wird neutralisiert und unsichtbar gemacht, aus dem System der Umverteilung und Anerkennung gedrängt. Statistisch nimmt der Anteil der derart Gebrandmarkten nicht zu, aber die Lage der Betroffenen ändert sich.

Soziale Deklassierungsängste:
Subjektiv empfundene soziale Unsicherheit korreliert häufig nicht mit objektiven Risiken am Arbeitsmarkt oder realer Armutsgefährdung. Forschungen der vergangenen Jahre stützen vielmehr die These, dass gerade in sozialen Milieus, die nicht unmittelbar vom Strukturwandel der Arbeit betroffen sind, das Unsicherheitsempfinden besonders stark ausgeprägt ist. Soziologisch gilt dies vor allem für soziale Mittelschichtsmilieus, die an den Wohlstandsgewinnen der vergangenen Jahrzehnte partizipieren konnten, zum Common Sense der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungs- und Gerechtigkeitsnormen auf Distanz gingen und nun die aktuellen Veränderungen und Krisensymptome als potenzielle Gefährdung ihrer erreichten Statusposition bewerten. Anstelle der lange Zeit vorherrschenden Ideologien von Leistung und sozialem Aufstieg dominieren in diesen Milieus nun Ängste vor sozialem Abstieg und Deklassierung.

Dialektisches Paradoxon der Moderne:
In der Wiederkehr von Unsicherheit manifestiert sich schließlich eine für die westlichen kapitalistischen Wohlfahrtsgesellschaften charakteristische Dialektik: Für die dauerhafte Durchsetzung von bürgerlichen Freiheiten, demokratischen und sozialen Teilhaberechten bedurfte es einer institutionellen Rahmung, die im nationalen Wohlfahrtsstaat eine historisch einzigartige und über mehrere Jahrzehnte stabile Form annahm. Dieses Modell gewährte, bei Wirksamkeit spezifischer Teilhaberegeln, kollektive Risikoabsicherung und soziale Mobilitätschancen, was wiederum den Prozess der Milieudifferenzierung und Individualisierung vorantrieb. Im Kontext von Globalisierung und postnationaler Konstellation erfährt der sozialstrukturelle Wandel eine weitere Zuspitzung. Fortgeschrittene Individualisierung legitimiert die Fragmentierung und partielle Entstaatlichung des Wohlfahrtsregimes, das seinerseits, verstärkt durch seinen "ermöglichenden" und kontrollierenden Charakter, Unsicherheit generiert.


Ungesichertheit, Ungewissheit und Ungeschütztheit

Um die massive Rückkehr von sozialer Unsicherheit zu verstehen, ist es notwendig, den Bogen zum grundlegenden Bedeutungswandel zu spannen, dem das Konzept des Sozialen in der Gegenwart ausgesetzt ist. In groben Linien kann dieser Wandel wie folgt nachgezeichnet werden:

Im 19. Jahrhundert, als die soziale Frage für den modernen Nationalstaat konstitutiv wird, bündeln sich unterschiedliche Interessens- und Motivlagen im Bestreben um einen allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt und eine grundlegende Verbesserung der durch den Prozess der Industrialisierung ausgelösten Misere der Lebensbedingungen, insbesondere der Arbeiterklasse, sowie in den Städten. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die sozialen Wohlfahrtsrechte als verbindlich durch. Die Institutionen des vertraglich geregelten, standardisierten Lohnarbeitsverhältnisses einerseits und der Bürgerschaft im Sinne der Mitgliedschaft in einem nationalstaatlich geregelten Solidarverband andererseits bilden Hauptpfeiler eines Wohlfahrtsregimes, das am Leitmotiv der kollektiven Aufstiegsmobilität orientiert ist, gleichzeitig jedoch (neben der traditionellen Geschlechterordnung) der kapitalistischen Verwertungslogik verpflichtet bleibt, wie am Beispiel der weiblichen und der ausländischen Arbeitskräfte gezeigt werden kann, die von der gleichberechtigten Teilhabe an stabileren Zonen des Arbeitsmarktes - als Teil von industriellen Reservearmeen - systematisch ausgeschlossen blieben.

Für die Transformation des sicherheitsdominierten Wohlfahrtsstaats in einen Unsicherheit erzeugenden Postwohlfahrtsstaat erscheinen drei Aspekte des Wandels besonders bedeutsam: Erstens: Im Unterschied zum Modell des Vordringens in eine imaginierte gesellschaftliche Mitte (Dominanz der Mittelklasse, Angleichung des Arbeiter- an den Angestelltenstatus, etc.) wird das individuelle Streben nach Positionierung in einem polyzentrischen Feld von Statuspositionen leitgebend. Zweitens büßt durch den Strukturwandel der Lohnarbeit die Zentralität der Lohnarbeit und des citizen workers gegenüber der Zentralität der mobilen, zeitlich flexibel einsetzbaren und nach Bedarf aktivierbaren Arbeitskraft an Relevanz ein; das Leitbild der flexiblen Gesellschaft (Prinzip der Verflüssigung und Mobilität) ersetzt das Leitbild der integrierten Gesellschaft (Prinzip von Festsetzung und Homoöstase). Drittens tritt an die Stelle des Versorgungs-, Absicherungs- und Umverteilungsprinzips die Risikoabwälzung auf den Einzelnen.

Im Kontext des Postwohlfahrtsstaats gewinnt der Begriff der sozialen Unsicherheit deshalb eine neue, schärfere, zugleich mehrdimensionale Bedeutung. Angeregt durch die Arbeiten von Zygmunt Bauman spreche ich in diesem Zusammenhang von komplexer Unsicherheit als Ergebnis dynamischer Interrelationen dreier Dimensionen. Un(ge)sichertheit bezieht sich dabei auf materielle und sozialrechtliche Aspekte, auf die Einbindung in ein soziales Sicherungssystem und den Zugang zu sozialen Diensten und Pflege, welche Unabhängigkeit und Würde auch bei Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit sicherstellt. Ungeschütztheit reflektiert die Exponiertheit gegenüber Missachtung, Diskriminierung, Rassismus und Gewalt, sei es in Form von individueller Aggression, kollektiver Stigmatisierung, behördlicher Willkür oder anderen Praktiken institutioneller Zurücksetzung. Ungewissheit schließlich bezieht sich auf die Erwartungssicherheit in Interaktionssituationen, auf den Grad der Offenheit des Zukunftshorizonts und der Wahl- und Entscheidungsfreiheit sowie die Möglichkeit, Risiken abzuschätzen und entsprechend zu handeln. Erst aus dem Zusammenspiel dieser Dimensionen erschließt sich der komplexe Charakter von sozialer Unsicherheit heute.

Der Postwohlfahrtsstaat aktualisiert Unsicherheit im Spannungsfeld von zugespitzter Individualisierung einerseits und postnationaler Staatlichkeit andererseits. Die Erosion der Erwerbsarbeit erzeugt objektiv wie subjektiv Unsicherheit und schwächt traditionelle Formen der Solidarität. Im "enabling state" verändern sich zugleich Bedeutung und Funktion der sozialen Teilhaberechte. Diese weiten sich einerseits immer mehr aus (auch im Sinne einer unübersichtlichen, verästelten Verrechtlichung), andererseits liegt es zunehmend am Einzelnen, diese aktiv einzuklagen, oder, wie dies in prekären Beschäftigungsverhältnissen der Fall ist, zu erbitten. Auch darin manifestiert sich die neuartige Herrschaftsnorm, die, wie Pierre Bourdieu vor mehr als einem Jahrzehnt formulierte, auf der "Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmenden zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen". Der Staat mobilisiert gegen die Gesellschaft. Welche individuellen und kollektiven Perspektiven kann es geben, um diese Logik der Produktion von Unsicherheit zu durchbrechen?


Christoph Reinprecht (* 1957) ist Professor für Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. 2011 erscheint im Braumüller Verlag (Wien): Soziale Unsicherheit: Wege und Folgen der Prekarisierung.
christoph.reinprecht@univie.ac.at


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010, S. 27-30
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2011