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GESELLSCHAFT/279: Wir und Ihr - Migration im Fokus (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2014

Wir und Ihr: Migration im Fokus

Ein Text des Graduiertenkollegs "Migration im Kontext von Religionen und Kulturen im Rahmen der Globalisierung"



Welche Wirkung hat Migration auf die Ein- und Auswanderungsgesellschaften? Welche politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Impulse gehen davon aus? Solchen Fragen ist ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg an der KU nachgegangen.


Migration ist ein sowohl wissenschaftlich wie gesellschaftspolitisch hochaktuelles Thema, das zahlreiche Fragen aufwirft, wie etwa: Zu welchen kulturellen Veränderungsprozessen in gesellschaftlichen, politischen und individuellen Zusammenhängen führen Migrationsbewegungen? Welche politischen, sozioökonomischen und kulturellen Impulse und Wirkungen gehen von diesen Migrationsbewegungen sowohl auf die betroffenen Einwanderungs- wie auch auf die Auswanderungsgesellschaften aus? Welche Konsequenzen hat der sogenannte "Migrationshintergrund" für die individuelle Identität einer Person? Welche Rolle spielen nicht nur im wissenschaftlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Diskurs verhandelte Konzepte wie Toleranz oder Integration, auch und gerade in Bezug auf ihre gesellschaftliche Umsetzbarkeit?

Diesen und ähnlichen Fragen sind die Forschungsprojekte gewidmet, die seit 2010 im Graduiertenkolleg "Migration im Kontext von Religionen und Kulturen im Rahmen der Globalisierung" an der KU durchgeführt wurden und deren Ergebnisse im November 2013 bei einer internationalen Abschlusskonferenz öffentlich vorgestellt wurden. Der inhaltliche Fokus des Kollegs lag auf den globalen transnationalen Wanderungsbewegungen und den mit diesen einhergehenden komplexen Prozessen des Austausches von kulturellem Wissen. Diese führen zu ständigen Aushandlungsprozessen über Bewahren vs. Anpassen von Werten und Identifikationsmerkmalen wie Religion oder Sprache. Die beteiligten Fachrichtungen der Europäischen Ethnologie, Humangeographie, Germanistik, Lateinamerikanischen Geschichte, Psychologie und Politikwissenschaft versuchten im interdisziplinären Gespräch, migrationsspezifische Identitätskonstruktionen aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln nachzuvollziehen und nach Einflüssen, Ausdrucksformen und Entwicklungszusammenhängen von individuellen Identitäten und Gruppenidentitäten zu fragen. Dabei waren die Lebenswelten der Migranten in Deutschland und anderen Staaten, ihre Integration in eine neue gesellschaftliche Umgebung und ein möglicher Identitätswandel von besonderem Interesse. Eine Grundlage für die Identitätskonstruktion stellt die Vermittlung von Werten dar, die sich im Migrationskontext verändert und damit auch zu Identitätswandel führen kann.

Die folgenden Projekte gingen den skizzierten Fragen aus verschiedenen Perspektiven nach:

Die Entstehung der Arbeiterbewegungen Südamerikas und die europäische Massenimmigration. Transnationale Zusammenhänge und Konstruktion kollektiver Identitäten
Der Post-Doc Stipendiat Dr. Tim Wätzold beschäftigte sich mit den aus Europa im Zeitraum von 1870 bis 1920 nach Südamerika ausgewanderten circa 13 Millionen Menschen. Diese entwickelten über vergleichbare, soziokulturelle Handlungsmuster eine kollektive Autoidentitätskonstruktion, was ihn zu dem Schluss führte, die Subjektivierung der Arbeiterbewegungen der Amerikas als transatlantisches und transkulturelles Phänomen zu sehen, dessen Motor die europäische Massenemigration war.

Einwanderung und kultureller Wandel. Die Konstruktion der argentinidad
Das zweite historische Projekt, bearbeitet von dem Stipendiaten Valentin Kramer, beschäftigte sich mit der Konstruktion ethnischer und nationaler Identitäten in deutschen Einwanderervereinen in der argentinischen Provinz Santa Fe im Zeitalter der europäischen Massenauswanderung. Der Fokus seiner Untersuchung lag auf deutschen Schulen und evangelischen Gemeinden in den Städten Rosario und Esperanza.

Identitätsbildung im Stadtteil - Bedeutung von Migration und Interkulturalität für die Entstehung heterotoper Stadträume
Die Geographin Anke Breitung untersuchte in ihrem Projekt die Prozesse der Identitätskonstruktion von Personen mit Migrationshintergrund innerhalb eines Stadtteils. Dabei widmete sich diese Untersuchung den sowohl physisch- als auch sozial-räumlichen und gesellschaftlichen Bezügen bei der alltäglichen Aushandlung und Konstruktion persönlicher Identitäten der Stadtteilbewohner.

Lebensentwürfe junger Migrantinnen und Migranten - Einflüsse von kultureller Herkunft, Religion und sozialem Umfeld auf Identitätsentwicklung und Zielvorstellungen für ein Leben in der Mehrheitsgesellschaft
Die Psychologin Regina Weißmann befasste sich mit der Identitätsentwicklung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In diesem Zusammenhang wurde in besonderem Maße die Auseinandersetzung zwischen Herkunfts- und Mehrheitskultur deutlich. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag dabei auf dem Prozesscharakter der Identitätsentwicklung, sowie den zukünftigen Lebensentwürfen Jugendlicher mit Migrationshintergrund.

Lebenswelten lateinamerikanischer Migranten in Deutschland. Eine volkskundlich-kulturwissenschaftliche Studie zur kulturellen Dynamik und Religion in einer mobilen Gesellschaft
Die Ethnologin/Volkskundlerin Marina Jaciuk beschäftigte sich mit den in Deutschland lebenden "Latinos". Mittels einer möglichst umfassenden Rekonstruktion der Erfahrungshorizonte von in bayerischen Städten lebenden Einwanderern dieser Gruppe wurde die Frage nach Religion als einem relevanten Faktor in der Migration der gemeinhin gerne als "stark religiös" erachteten Lateinamerikaner gestellt und die Rolle von Religion im Zusammenhang von sog. kultureller Identität und differenziert verlaufender Integration untersucht. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei Formen der populären Religiosität aus der alten Heimat in ihren Aneignungs- und Anwendungsweisen und deren situativer Einbindung in die "neue" Alltagswelt.

Prozesse der beruflichen Lebensplanung bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Abhängigkeit von Werteorientierungen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Beratungsressourcen
Die Arbeit der zweiten Psychologin des Kollegs, Nadja Al-Dawaf, befasste sich mit der Entwicklung von beruflichen Zielvorstellungen in der Adoleszenz. Dabei wurden insbesondere die Rolle der Eltern und der Einfluss von Werten im kulturellen Vergleich erforscht. Aktuelle Befunde zeigen, dass Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund deutlich seltener am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erfolgreich sind als andere Gruppen. Dabei zeigen sich schon im Bewerbungsverhalten signifikante Unterschiede. Während Bewerbungsverhalten und Bewerbungschancen am Ausbildungsmarkt gut untersucht sind, finden sich kaum empirische Belege hinsichtlich eines weiteren wesentlichen Aspektes des Übergangs von der Schule in den Beruf, nämlich der Entwicklung von berufsbezogenen Zielvorstellungen. Das Projekt versuchte, diese Lücke in der Forschung zu schließen.

Rechtliche Akkommodation islamischer Migranten? Sharia-Gerichte in westlichen Demokratien (Großbritannien, Kanada)
Mit dem brisanten Thema der Sharia-Gerichte in westlichen Demokratien befasste sich der Politikwissenschaftler Tjark Färber. Mit der Begründung, das Recht westlicher Staaten (insbesondere das Ehe-, Familien- und Erbrecht, aber auch das Strafrecht) weise einen christlichen "bias" auf, fordern muslimische Migranten die Einführung von Sharia-Gerichten. Durch sie sollen Rechtsstreitigkeiten zwischen Muslimen (ggf. aber auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen) entschieden werden. Einige westliche Staaten haben über die Einrichtung solcher Sharia-Gerichte bereits intensiv diskutiert. Kann man auch für Deutschland solche Sharia-Gerichte empfehlen - weil sie den Rechtsfrieden wahren, kulturelle Konflikte in zunehmend religiös-pluralistischen Gesellschaften vermeiden und Religionsfreiheit sowie multikulturelle "Gerechtigkeit" durchzusetzen helfen? Oder sprechen die Erfahrungen in Großbritannien und Kanada (Ontario) eindeutig gegen deren Einführung bzw. Legalisierung, weil dadurch parallelgesellschaftliche Strukturen gefördert, soziale Konflikte verschärft, Integration behindert, Frauen diskriminiert und die weltanschauliche Neutralität des Rechtsstaats in Zweifel gezogen würden?

Sprachwahl und sprachliche Identifikation bei georgischen und armenischen Migranten in Georgien und Deutschland
Die Sprachwissenschaftlerin Nina Kreher untersuchte in ihrem soziolinguistischen Projekt die Erhaltung und Weitertradierung des Russischen als sog. "Dachsprache" in bestimmten politischen Sprachkonstellationen bei armenischen Migranten in Georgien und bei georgischen und armenischen Migranten in der sukzessiven Migration in Deutschland. Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf der sprachlichen Identifikation und der Sprachwahl, sowie auf der Frage, ob und wie Mehrsprachigkeit unter den Bedingungen der Migration weitergegeben und erhalten wird.


Die intensive kolleginterne Diskussion bei regelmäßigen Projekttreffen wurde ergänzt und erweitert durch zahlreiche Veranstaltungen zu inhaltlichen wie methodischen Themen, zu denen externe Migrationsforscher nach Eichstätt eingeladen wurden, um die Einbindung in die einschlägige Forschungslandschaft zu gewährleisten. Dies geschah in Form von Gastvorträgen, Workshops mit Doktoranden anderer Universitäten sowie einer Summer School zu theoretischen und methodischen Fragestellungen. Eine Exkursion zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gewährte den Stipendiatinnen und Stipendiaten Einblick in praktische Aspekte der Migrationsthematik. Die internationale Abschlusskonferenz im November 2013, die von thematischen Panels der Stipendiaten sowie von Vorträgen renommierter Wissenschaftler gestaltet wurde, stellte eine Synthese der gewonnenen Erkenntnisse dar und bot gleichzeitig einen Ausblick auf die Vielfalt der noch offenen Forschungsfragen.

Die Arbeit im Kolleg und der Austausch im Rahmen der Konferenz haben die Dynamik und Aktualität des Themas Migration nicht nur für die wissenschaftliche Forschung deutlich gemacht. Wie Klaus Jürgen Bade, einer der renommiertesten Vertreter der deutschen Migrationsforschung, in seinem Eröffnungsvortrag bei der Konferenz eindringlich darlegte, ist das Verständnis der Prozesse und Auswirkungen von Migration nicht nur für die Migranten und Menschen "mit Migrationshintergrund" essentiell, sondern auch für die Gesellschaften, in die sie einwandern, von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft.

Weitere Informationen zur Arbeit des Graduiertenkollegs unter: www.ku.de/forschung


Der Beitrag ist ein Text des Graduiertenkollegs "Migration im Kontext von Religionen und Kulturen im Rahmen der Globalisierung". Projektleiter waren Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker, Prof. Dr. Thomas Fischer, Prof. Dr. Hans Hopfinger, PD Dr. Kerstin Kazzazi, Prof. Dr. Joachim Thomas u. Prof. Dr. Angela Treiber.

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2014, Seite 16-17
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2014