Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

JUGEND/048: Projekt Chance - "Härter als der Knast" (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 24/2008 - Forum der Universität Tübingen - April 2008

"Härter als der Knast"
Tübinger Kriminologen untersuchen, wie sich jugendliche Straftäter im "Projekt Chance" entwickeln

Von Gabriele Förder


Wie sinnvoll ist Jugendstrafvollzug in einer Jugendhilfeeinrichtung? Zwei bundesweit einzigartige Modellprojekte in Baden-Württemberg standen jetzt wissenschaftlich auf dem Prüfstand: der "Jugendhof Seehaus" in Leonberg und das "Christliche Jugenddorf Creglingen". In beiden Einrichtungen läuft seit 2003 das "Projekt Chance" für jugendliche Straftäter im Alter von 14 bis 21 Jahren, die zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurden. Sie dürfen ihre Strafe in einer Jugendhilfeeinrichtung verbüßen und dazu das Gefängnis verlassen. In Creglingen und Leonberg erleben sie einen streng geregelten und strukturierten Tagesablauf. Der Tag beginnt um 5.45 Uhr mit Frühsport und endet um 22 Uhr - nach Schule oder Berufsvorbereitung, gemeinnütziger Arbeit, sozialem Training und Hausputz. Das alles ist Teil eines konsequenten Erziehungsprogramms, das langfristig Leistungswillen, Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen der Strafgefangenen stärken soll.


Für den Seehof bewerben

Ob diese Maßnahmen greifen und die jungen Menschen dadurch leichter in die Gesellschaft zurückfinden als nach einer Haftstrafe, sollten Tübinger Sozialwissenschaftler am Institut für Kriminologie zusammen mit Kollegen der Universität Heidelberg untersuchen. Das Drittmittelprojekt, das von der Robert-Bosch-Stiftung finanziert wurde, startete im Januar 2004 und wurde im Dezember 2007 abgeschlossen.

Mit Fragebögen übernahmen die Heidelberger Kriminologen den quantitativen Teil der Untersuchung. Dr. Wolfgang Stelly und Dr. Jürgen Thomas von der Tübinger Forschungsgruppe befragten in qualitativen Interviews 41 Gefangene. Die Wissenschaftler untersuchten, welche Jugendlichen in die Einrichtungen kommen, was dort genau geschieht und welche Wirkungen diese Maßnahmen haben. Um ins "Projekt Chance" aufgenommen zu werden, konnten sich die jugendlichen Straftäter, die meistens durch Diebstähle, aber auch Körperverletzungen und Raubdelikte aufgefallen waren, direkt in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim bewerben. "Hauptsache raus aus dem Knast" und die Chance nutzen, "um endlich etwas aus meinem Leben zu machen", waren die Hauptmotive der Befragten für ihre Bewerbung. Wie sich zeigte, hatten nahezu alle Teilnehmer eine gescheiterte Schulkarriere oder eine abgebrochene Lehre hinter sich und stammten aus problematischen Familienverhältnissen.

Fast 50 Prozent der Jugendlichen brachen die Maßnahme ab, einige davon gezwungenermaßen: Wegen schwerwiegender Regelverstöße wurden sie nach Adelsheim zurückgeschickt. Andere gingen freiwillig ins Gefängnis zurück. "Das Projekt ist härter als der Knast", findet ein Teilnehmer. "Das Projekt Chance ist sehr anspruchsvoll und nicht für jeden geeignet", bestätigt Wolfgang Stelly diese Aussage. Dennoch bewerteten alle Befragten die Erfahrung positiv, auch die vorzeitig Ausgeschiedenen. Vor allem das Engagement der Betreuer und das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert, haben die Teilnehmer offensichtlich beeindruckt. Lediglich neun von insgesamt 112 jungen Häftlingen sind einfach abgehauen, aber ohne dass die Öffentlichkeit dadurch zu Schaden gekommen wäre. Das Konzept, den Betroffenen möglichst viele Freiheiten zu geben, ist aufgegangen: "Man muss sie nicht zwangsläufig wegsperren", folgern Wolfgang Stelly und Jürgen Thomas daraus.


Keine zu hohen Erwartungen

Weitere erfreuliche Ergebnisse brachte die Untersuchung bei den Themen Qualifizierung und soziale Kompetenz. Die schulischen und beruflichen Leistungen verbesserten sich bei den meisten Teilnehmern deutlich. Außerdem hatten sie in den Projekten - anders als im Gefängnis - die Möglichkeit, in Betrieben Praktika zu machen oder eine Lehre zu beginnen. Darüber hinaus verbesserten die Jugendlichen ihre kommunikativen Fähigkeiten und lernten Kritikfähigkeit. Inwieweit sie Regeln, Normen und Werte allerdings wirklich übernehmen oder nur nach Bedarf anwenden, bleibt offen.

Insgesamt sollte man die Erwartungen an diese Form des Jugendstrafvollzugs nicht zu hoch schrauben. Eine erste vorsichtige Interpretation der Daten zeigt, dass auch Absolventen des "Projekts Chance" wieder straffällig werden: Jeder vierte reguläre Teilnehmer landet wieder im Gefängnis und jeder zweite wird strafrechtlich auffällig. Im Vergleich zu den deutlich höheren Rückfallquoten des klassischen Jugendstrafvollzugs ist das allerdings ein kleiner Erfolg, wie die Wissenschaftler in ihrem Abschlussbericht zur Untersuchung betonen. Quantitative Rückfalluntersuchungen in größerem Stil sind wegen des kurzen Risikozeitraumes noch nicht möglich, stehen aber als Nächstes auf dem Plan der Kriminologen.


*


Quelle:
attempto!, April 2008, Seite 28
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen
Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Telefon: 07071/29-76789,
Telefax: 07071/29-5566
E-Mail: michael.seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2008